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Souveränität und Neutralität

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Ausmaß und Intensität des letzten Weltkrieges brachten es mit sich, daß sich uralte und festeingewurzelte Begriffe grundstürzend wandeln oder sogar aufhören. Auch im Staats- und Völkerrecht heißt es vielfach umlernen, und besonders sind es; zwei Begriffe, die ein völlig neues Gesicht erhalten: die Souveränität und die Neutralität der Einzelstaaten, Begriffe, die zum eisernen Bestand jeder Staatspolitik gezählt haben.

Unter der Souveränität der Einzelstaaten verstand man bisher ihre absolute Handlungsfreiheit auf dem Gebiete der auswärtigen Politik, das ist die völkerrechtliche Handlungsfreiheit. Wie alles war natürlich auch die Souveränität nur bedingt absolut, denn jeder Staat sah sich auch schon bisher in ein Netz von zahllosen Abhängigkeiten verstrickt, sei es innerpolitischer, wirtschaftlicher oder vertraglicher Natur. Aber es kam dort in erster Linie darauf an, daß der Staat über die Militärhoheit verfügen konnte, wollte er nach allgemein staatsrechtlichen Auffassungen innerhalb der Staatengemeinschaft als souverän gelten.

Der Streit um die staatliche Souveränität entbrannte vorzugsweise in den Bundesstaaten und Staatenbünden, weil gerade in diesen zusammengesetzten Staaten die Militärhoheit dem Gliedstaat nicht mehr restlos zufallen, daher auch Souveränität nicht mehr bestehen konnte.

Im zweiten Deutschen Reich gelang es nicht, eine vollkommen einheitliche Wehrmacht zu organisieren, weil die Bundesstaaten auf ihrer Souveränität beharrten; man griff daher zum Auskunftsmittel der „Militärkonventionen“, in denen sich die Bundesstaaten verpflichteten, freiwillig eine gewisse Vereinheitlichung der militärischen Streitkräfte innerhalb des Reiches durchzuführen.

Einen jahrzehntelangen Kampf führte die schweizerische Bundesregierung zur Stärkung ihrer Militärhoheit

auf Kosten der kantonalen Militärhoheit. Der Artikel drei der. Sdrweizer Bundesverfassung sagt: „Die Kantone sind souverän ...“, setzt jedoch gleich hinzu: „ . . . soweit dieselbe (die Souveränität) durch die Bundesverfassung nicht eingeschränkt ist.“ Es liegt somit der Fall einer eingeschränkten Souveränität vor, die es aber logischerweisc nicht geben dürfte.

In ganz großen Verhältnissen wiederholt sich dieses Problem in Sowjetrußland und im Britischen Weltreich. Rußland kennt souveräne Bundesrepubliken, hat jedoch die Militärhoheit ausschließlich den gemeinsamen obersten Behörden vorbehalten. Das Empire hat desgleichen souveräne Dominions, die sogar das Recht über Krieg und Frieden ausüben, die aber trotzdem in Reichsverteidigungsfragen im Wege der Krone von reichseinheitlichen Bestimmungen abhängig bleiben.

Bei einer universellen Staatenorganisation wird nun erst recht die Frage sich ergeben, ob innerhalb ihrfer Weltorganisation die Souveränität von Einzelstaaten noch möglich bleibt.

Steht man auf dem — bisher zweifellos allgemein anerkannten — Standpunkte, daß es ohne Militärhoheit keine Souveränität geben könne, dann muß gefolgert werden, daß bereits mit der Mitgliedschaft beim Genfer Völkerbund die Einzelstaaten-Souveränität als durchlöchert, mit der Mitgliedschaft bei der UNO jedoch als aufgehoben gelten muß.

Der Genfer Völkerbund konnte seine Mitglieder verpflichten, an einem Kriege (Sanktionen) gegen eines der Mitglieder teilzunehmen, er schränkte somit die Souveränität der Staaten hinsichtlich des Rechtes der Kriegführung ein, ferner verpflichtete er alle Mitglieder zu einem — freilich nie Wirklichkeit gewordenen — Abrüstungszustand, was einer Kürzung der Militärhoheit gleich-

kam. Die Souveränität hätte nur in dem Sinne als weiterbestehend betraditet werden können, als es jedem Mitgliede des Völkerbundes freistand, aus dem Völkerbunde auszutreten, sodaß die infolge Mitgliedschaft in Frage gestellte Militärhoheit als freiwillig hingenommen, daher als die Souveränität nicht beeinträchtigend gelten konnte.

Die Charta der Vereinten Nationen geht ein gutes Stück weiter. Sie verpflichtet alle Mitglieder vorbehaltslos zur Teilnahme an gemeinsamen Exekutionen, sie will den Rüstungsstand der Staaten festlegen und bindet alle Mitglieder ohne Einschränkung . an den Internationalen Gerichtshof. Einen freiwilligen Austritt aus der UNO gibt es nicht, daher ist die Souveränität praktisch aufgehoben, sobald ein Staat die Charta annimmt.

Es ist natürlich nicht unbedingt erforderlich, gleich von einer Aufhebung der Souveränität zu sprechen, doch der uns geläufige Begriff der Souveränität besteht wohl nicht mehr und hält man an einer Souveränität fest, dann wird es eine ganz andere sein, als sie das Staats - und Völkerrecht bisher kannten.

Schon Hans Kelsen kam in seinem richtunggebenden Werk „Problem der Souveränität“ zum Schluß, man dürfe die Souveränität nur der Völkerrecht s o r d n u n g z u e r k e n n e n und nicht mehr dem Einzelstaate, und W. Rathenau schrieb: „Der Völkerbund nimmt einen Teil der kriegerischen Souveränität (vom Staate) hinweg.“ („Der neue Staat“.) Demgegenüber hält T r u m a n eine „Wiederkehr der souveränen Rechte“ aller Völker für möglich und er vertritt „den Grundsatz der Souveränität der westlichen Hemisphäre“, in deren Angelegenheiten sich keine auswärtige Macht einmengen dürfe; B e v i n ist radikaler und wünscht an Stelle einer Völkervereinigung einen Weltstaat, in dem es keine wie immer ausgelegte Einzelsouveränität mehr geben könnte. Trotzdem bleibt B e v i n bei der vorsichtigen Fassung: „Die Nationen werden einen Teil ihrer Souveränität im allgemeinen Interesse aufgeben müssen.“

Neutralität im Kriege bedeutet unparteiisches Beiseitestehen, strenge Nichteinmischung und weise Zurückhaltung. Die kürzeste Formel der Neutralität lautet: weder — noch. Neutralität ist ein unveräußerliches Recht eines jeden Staates, das von allen übrigen Staaten zu respektieren ist. Völkerrechtlich kennt man die Neutralität erst seit dem 17. Jahrhundert und bis zum ersten Weltkrieg waren Rechte und Pflichten der Neutralen besonders in den beiden Konventionen der zweiten Haager Konferenz 1907 bereits weitgehend festgelegt. Zu unterscheiden ist die freiwillige Neutralität, beachtet nach eigenem Ermessen der Staaten und die international vereinbarte Neutralität wie zum Beispiel jene der Schweiz. Irgendeine Abstufung der Neutralität ist ebenso anfechtbar wie bei der Souveränität. Auch die sogenannte wohlwollende, im diplomatischen Beistand bestehende Neutralität bedeutet bereits ein Abweichen vom absoluten Abseitsstehen. Die bewaffnete Neutralität dient der Wahrung der Neutralität auf eigenem Gebiete und unter geistiger. Neutralität versteht man im Zeitalter des Propaganda- und Funkkrieges die Vermeidung jeder Stellungnahme zu den Kriegsereignissen, also völlige Schweigepflicht. So ungefähr stellte sich die Neutralität bis in die jüngste Zeit dar.

Die Möglidikeit zur Neutralität war in früheren Kriegen leichter gegeben, da Wirtschaft, Industrie, Handel und Verkehr den Verlauf der Kriege nur in geringerem Ausmaße oder gar nicht beeinflußten. Anders wurde es mit dem ersten Weltkrieg, der Vorstufe zur totalen Kriegführung.. Der Blockadecharakter dieses Krieges sowie seine weitgehende Technisierung rückten auf einmal die Neutralen als Blockadelücken in die vorderste Linie der Politik. Alle Konterbandebestimmungen waren umgeworfen, denn es gab bald keinen Handelsartikel mehr, der nicht der Kriegführung diente. Sobald eine der Kriegsparteien vom neutralen Handel abgeschlossen war, begann derselbe zum Verbündeten der nicht abgeschlossenen Partei zu werden. Die Krise der Neutralität war hiemit ausgebrochen.

Der zweite Weltkrieg entzog der Neutralität die letzten Möglichkeiten. Schon die alleinige Tatsache der Neutralität wurde als Vor-bezw. Nachteil für diese oder jenen Kriegführenden ausgelegt und daher als Parteinahme gedeutet. Jede wie immer geartete Wirtschaftstätigkeit der Neutralen mußte sich für die Kriegsparteien vor- oder nach-

teilig auswirken. Ein tatsächlich — im totalen Sinne — neutraler Staat hätte seinen ganzen Auslandhandel stillegen müssen. Der Luftkrieg tat ein übriges mit seinem Bedarf an Stützpunkten, so daß die Neutralität gegen Ende des zweiten Weltkrieges tatsächlich als beseitigt betrachtet werden mußte.

Der Krieg 1939 bis 1945 hat auch die Auf- • fassung von der Eigennützigkeit der Neutralität betont, daß nämlich die Neutralen sich schonen, vielleicht sogar Gewinne aus dem Kriege ziehen, während die Kriegführenden sich für allgemeine Menschheitsziele verbluten. Die Neutralen sollten daher damit rechnen, von den Vorteilen des Friedens ausgeschlossen zu werden, da sie zu diesem Frieden keinen Beitrag leisteten. Diese Auffassung schien zunächst ungewöhnlich und hatte sicher mehr den Charakter einer Aufforderung zur Aufgabe der Neu-

tralität. Heute kehrt sie — wenn auch in anderer Gestalt — in der Kollektivpflicht zur UNO-Exekution wieder. Die UNO kennt im Kriegsfalle keine Neutralität ihrer Mitglieder und selbst außerhalb der UNO stehende Staaten haben nach der Satzung der UNO zu gewärtigen, zu satzungsgemäßem Handeln verhalten zu werden.

Kann man bei der Souveränität noch von einer Neuprägung des Begriffes reden, erscheint dies bei der Neutralität nicht mehr möglich, der Begriff der Neutralität muß dem wichtigeren Begriffe der Solidarität aller Staaten der Erde zum Opfer gebracht werden. Verzicht auf Neutralität bedeutet jetzt Förderung der Erhaltung des allgemeinen Friedens, von der sich kein Mitglied der Völkergemeinschaft ausschließen soll.

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