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Operationskalender 1955

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Schweiz gehandhabt wird”. Sie verpflichtete sich auch, einen Beschluß der Bundesregierung herbeizuführen, wonach eine österreichische Neutralitätsdeklaration „dem österreichischen Parlament unmittelbar nach Ratifikation des Staatsvertrages” vorgelegt werden würde. Überdies würde die Bundesregierung alle Schritte unternehmen, um für die österreichische Erklärung eine internationale Anerkennung zu erlangen.

Die Verzahnung von Staatsvertrag und Neutralität, wie sie aus dem Moskauer Momorandum zu ersehen ist, fand in einem subtilen „Operationskalender” Ausdruck, der wohl nicht förmlich festgelegt wurde, aber faktisch Schritt für Schritt Österreich dem Inkrafttreten des Staatsvertrages, dem Abzug der fremden Streitkräfte und der Erklärung der ständigen Neutralität näherbrachte. Einige Daten dieses „Operationskalenders” sind kaum bekannt:

Am 14. Mai 1955 - also am Vorabend der Staatsvertragsunterzeichnung - tagte eine Konferenz der vier Außenminister in Wien, von der Österreichs Öffentlichkeit eigentlich nur zur Kenntnis nahm, daß Leopold Figl die „Verantwortlichkeitsklausel” aus der Präambel zum Staatsvertrag entfernen konnte.

Wenig bekannt ist, daß Außenminister Molotow bei dieser Sitzung die Verwendungszusagen der österreichischen Delegation im Moskauer Memorandum zur Verlesung brachte, daß die drei westlichen Außenminister den zukünftigen außenpolitischen Kurs Österreichs - die Neutralität - grundsätzlich billigten, und daß den vier Außenministern noch am gleichen Tage ein Entwurf der geplanten österreichischen Neutralitätsdeklaration übermittelt wurde!

Molotow legte sogar den Entwurf einer Vier-Mächte-Deklaration vor, wonach diese Mächte „den Status der ständigen Neutralität Österreichs von einer solchen Art, wie sie die Schweiz in ihren Beziehungen zu den anderen Staaten einhält, achten und aufrechterhalten werden”. All dies ging allerdings im Trubel der Vorfreude auf die Unterzeichnung des Staatsvertrages am 15. Mai eher unter.

Am 7. Juni 1955 genehmigte der Nationalrat den Staatsvertrag. Unmittelbar danach, noch in der gleichen Sitzung, beschloß der Nationalrat einstimmig (d. h. mit den Stimmen von ÖVP, SPÖ, KPÖ und VdU) eine Entschließung, die mit folgenden Worten begann:

„Österreich erklärt zum Zwecke der dauernden und immerwährenden Behauptung der Unabhängigkeit nach außen und der Unverletzlichkeit seines Gebietes sowie im Interesse der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Inneren aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität und ist entschlossen, diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechtzuerhalten und zu verteidigen.”

In der gleichen Entschließung wurde die Bundesregierung aufgefordert, dem Nationalrat den Entwurf „eines die Neutralität regelnden Bundesverfassungsgesetzes vorzulegen”, und „sobald der österreichische Staatsvertrag in Kraft gesetzt ist und Österreich von den Besatzungstruppen geräumt sein wird, dieses Gesetz allen Staaten mit dem Ersuchen um Anerkennung der Neutralität Österreichs mitzuteilen”.

Sohin lag bereits am 7. Juni 1955 eine einstimmige Willenskundgebung des österreichischen Nationalrates vor, derzufolge Österreich seine Neutralität „erklärte”, wenn auch das diese Neutralität „regelnde” Bundesverfassungsgesetz erst zu beschließen sein würde.

Schon vier Tage später, am 11. Juni 1955, ratifizierte die Sowjetunion den Staatsvertrag, die anderen Signatarmächte folgten rasch nach, und der Staatsvertrag konnte am 27. Juli 1955 mit der Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde - jener Frankreichs -in Kraft treten.

Die weiteren Etappen des „Operationskalenders 1955” sind bekannter als die bereits genannten: die mit 27. Juli beginnende, am 25. Oktober 1955 ablaufende Räumungsfrist von 90 Tagen für die alliierten Streitkräfte; die Beschlußfassung des Bundesverfassungsgesetzes über die immerwährende Neutralität am 26. Oktober; die Notifikation dieses Gesetzes an die Staatenge-

„Die Verzahnung von Staatsvertrag und Neutralität fand in einem subtilen Operationskalender Ausdruck” meinschaft mit dem Ersuchen um Anerkennung der Neutralität; die gleichzeitige und gleichlautende Anerkennung der Neutralität Österreichs durch die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich am 6. Dezember 1955.

Die vier Mächte anerkannten Österreichs Neutralität, wie sie im Gesetz vom 26. Oktober verankert war. Es kam aber nicht zu einer Garantie der Neutralität oder der Unversehrtheit des Staatsgebietes, von der im Frühjahr 1955 eine Zeitlang die Rede gewesen war.

Hingegen hatten sich die vier Mächte in der Präambel zum Staatsvertrag verpflichtet, Österreichs Beitritt zu den Vereinten Nationen zu unterstützen. Schon in Moskau war klargestellt worden, daß sich unbeschadet des Hinweises auf das Muster der Schweiz daran nichts ändern würde. Am 14. Dezember 1955 lösten die 4 Mächte ihr Wort ein; Österreich wurde in die UNO aufgenommen.

Staatsvertrag und Neutralität gemeinsam bilden also die Grundlage für die internationale Stellung der von den vier Mächten 1955 in die Freiheit und

Unabhängigkeit entlassenen Republik Österreich.

Bedenken wir, daß sich die Welt nur ein Jahr nach dem Abzug der Besat-

Unabhängig und frei zungstruppen und dem Neutralitätsgesetz, im Oktober 1956, einer schweren Doppelkrise ausgesetzt sah, nämlich in Ungarn und in Suez, so können wir ermessen, wie groß - und vielleicht einmalig - die Chance war, die Österreich 1955 geboten wurde - und die es nützte.

Der Verfasser ist Ordinarius für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien. Seine jüngste Veröffentlichung („Geschichte des Slaatsvertrages 1945 1955”) ist soeben im Styria-Verlag erschienen. Prof. Stourzh wird beim Staatsakt am 15. Mai den Festvortrag halten.

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