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Neutralität: mit Schweizer Augen

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Der Grundstein zur österreichischen Neutralität wurde bekanntlich mit der Paraphierung des Moskauer Memorandums vom 15. April 1955 gelegt. Die Bevollmächtigten Wiens teilten darin eine Erklärung in Aussicht, mit welcher die österreichische Regierung sich verpflichten würde, „immerwährend eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird“. Die Erklärung erfolgte nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages durch den Nationalratsbeschluß vom 7. Juni 1955 sowie durch das am 26. Oktober desselben Jahres verabschiedete Verfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs. Obwohl in den beiden Dokumenten nicht mehr ausdrücklich auf die schweizerische Neutralität Bezug genommen wurde, scheint festzustehen, daß diese bei der Unterzeichnung des Moskauer Memorandums zumindest den beiden Vertragspartnern als Modell vorgeschwebt hatte.

Als Gast dieses Landes steht es mir nicht zu, in einer österreichischen Zeitung die Frage zu prüfen, inwieweit die bisherige Neutralitätspolitik Österreichs diesen Vorstellungen entsprochen hat. Für eine solche Untersuchung standen mir höchstens die Spalten der Zeitung, die ich vertrete, zur Verfügung. Ich habe mir daher in Erfüllung des Wunsches meines Kollegen Skalnik zur Aufgabe gestellt, das Wesen und die Ziele der Neutralität von der geschichtlichen Erfahrung meines Vaterlandes her zu definieren. Gemeinsames und Verschiedenes in der Neutral'itätsinte>rpretation Österreichs und der Schweiz werden sich aus dieser Betrachtungsweise für Leser, die mit der Thematik vertraut sind, fast von selbst herausschälen.

Neutralität als Funktion des inneren Gleichgewichts

Neutralität ist, so lautet die landläufige Antwort auf die Frage nach dem Zweck, ein Mittel zur Bewahrung der Unabhängigkeit eines Kleinstaates, der im Spannungsfeld

ier internationalen Politik liegt. Sie ist also primär ein Instrument der Außenpolitik.

Historisch betrachtet, trifft dies für die Schweiz nicht zu. Die schweizerische Neutralität ist in der Zeit der alten Eidgenossenschaft aus der zwingenden Notwendigkeit zur Herstellung und Bewahrung des inneren Gleichgewichtes entstanden. Im Interesse der Erhaltung des inneren Friedens wurden gewisse Kantone bei ihrem Eintritt in die Eidgenossenschaft ausdrücklich zum „Stillsitzen“ bei und zur Vermittlung in eidgenössischen Streitigkeiten verpflichtet. Ihre Rolle war die einer aktiven Neutralitätspolitik nach Innen.

Aus dem gleichen Grunde verzichteten die einzelnen Orte (Kantone) der alten Eidgenossenschaft nach der Niederlage bei Marignano ausdrücklich auf die Fortsetzung ihrer bisherigen kriegerischen Außenpolitik, die, weil jeder dabei andere Ziele verfolgte, den Bestand des Bundes aufs schwerste gefährdet hatte. An Stelle der Machtpolitik trat ein ausgeklügeltes Vertragsund Bündnissystem, aus dem sich allmählich ein neutralitätspolitisches Konzept entwickelte.

Aus diesen Andeutungen ergibt sich zweierlei: Erstens ist die Neutralität in der Schweiz seit jeher eine Funktion der Innenpolitik gewesen. Sie ist es im wesentlichen auch heute noch, wenn ihre innenpolitischen Beweggründe auch nicht mehr so offenkundig sind, wie sie es in der Zeit der alten Eidgenossenschaft waren. Ich brauche zum Beweis nur an die Viersprachigkeit unseres Landes zu erinnern, die stets eine Konzentration nach Innen und in Zeiten großer internationaler Krisen vom Staat und der Gesamtheit der Bürger ein besonderes Maß an innerpolitischer Rücksichtnahme erheischt. In einem Kleinstaat hat die Innenpolitik absolute Vorrangstellung oder, um es mit den Worten eines schweizerischen Historikers zu sagen: „Der Kleinstaat lebt einzig von der Treue zu sich selbst.“

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