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Geistige Strömungen in der Schweiz

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Die vollkommene Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht im November 1942 brachte es mit sich, daß die Schweiz von jedem unmittelbaren Kontakt mit der freien Welt abgeschnitten wurde, nachdem sich schon seit 1940 die Beziehungen zu ihr sehr schwierig gestaltet hatten. Dies wurde ganz besonders in einem Land empfunden, das seinem ganzenWesen entsprechend nach allen Richtungen hin die geistigen Beziehungen pflegte. Und wenngleich die Schweiz durch alle Bedrohungen hindurch an ihrer Neutralität festhalten konnte, so hat sie sich ebenso klar zu jenen Werten bekannt, die ihr Ideal der Freiheit und der Demokratie begründen.

So war es nicht zu verwundern, daß jene Schriften, die im französischen Freiheitskampf entstanden waren, in der Schweiz weite Verbreitung fanden und vielfach ins Deutsche übersetzt wurden. Die Werke eines Aragon, Vercors, Paul Eluard und anderer haben auch in der Schweiz dazu beigetragen, die Unvereinbarkeit von Freiheit und Nationalsozialismus aufzuzeigen.

Aber auch das Interesse am englischen Leben wurde stärker denn je zuvor, wenngleich die Schweiz, und zwar besonders Genf mit Großbritannien bereits alte geistige Traditionen verbanden Mehr noch als vom regen literarischen Schaffen war man von dem Mut und der Offenheit beeindruckt, mit denen England mitten im Kriege an die Lösung seiner sozialen Probleme herantrat. Der Beveridge-Plan hat auch in weiten Kreisen der schweizerischen Öffentlichkeit höchstes Interesse gefunden und gewiß dazu beigetragen, daß die allgemein Altersversicherung nunmehr verwirklicht werden soll.

Mit fortschreitender Isolierung der Schweiz wuchs die Anteilnahme an allen geistigen Vorgängen der angelsächsischen Welt. So waren es vorerst die Romane einer Margaret Mitchell, eines Hemingway, eines Eric Knight, die besonderen Publikumserfolg hatten. Man fühlte das Bedürfnis der Schweizer, sich in ihren überlieferten Lebensauffassungen bestärken zu lassen. Gewisse Kreise hatten folgerichtig zu handeln geglaubt, wenn sie versuchten, der nationalsozialistischen Propaganda eigene kulturelle Werte entgegenzustellen. So erlebten Gottfried Keller und Spitteier eine neue Blüte. Aber die geistige Neuproduktion dieser Jahre -war kaum nennenswert. Ein Gonzague de Reynold, der große Historiker, von dem man erwartete, Wegweiser in diesem Kampf um die „geistige Landesverteidigung“ zu sein, hatte es gerade in den kritischen Monaten vorgezogen, seinen Landsleuten die Eingliederung in das „neue Europa“ nordnachbarlicher Fassung zu empfehlen, wenn auch ohne Erfolg. Trotz allen Bemühungen konnte es der Schweiz nicht gelingen, mit der Außenwelt jene geistigen Bindungen aufrechtzuerhalten, die sie selbst gewünscht hätte. In ihrer gegebenen Isolierung mußte sie daher trachten, mit ihren Problemen selbst so gut als möglich fertig zu werden — und es gab deren viele.

Zu Beginn des Krieges war gleich eine Kardinalfrage aufgeworfen worden, die an die Wurzel der Eidgenossenschaft griff: Föderalismus oder Zentralisation. Die Erfordernisse der Kriegswirtschaft und der Landesverteidigung hatten eine ganze Reihe von Maßnahmen notwendig gemacht, welche die eifersüchtig gehüteten Kompetenzer der Kantone in Frage stellten. Galt es doch, alle Kräfte zusammenzufassen ohne Rücksicht auf institutionelle Überlieferungen und die Eigenständigkeit der einzelnen Kantone. Gerade aber deren Vielheit und Verschiedenheit in Sprache und Kultur, in Religion und sozialer Struktur waren das Einmalige und Besondere am helvetischen Staatswesen. Es galt also, die Eigenständigkeit der Kantone zu wahren. Das ist im großen gesehen auch wohl gelungen. Dies ist auch für uns Europäer von höchster Bedeutung. Denn uns hat die Schweiz einmal mehr unter schwersten Bedingungen gezeigt, daß Menschen verschiedener ethnischer und kultureller Zugehörigkeit miteinander in Eintracht leben können. Damit bestätigt sich fast, daß der Nationalismus in anderen Ländern künstlich hochgezüchtet werden mußte, um andere, wirklich bestehende Probleme zu verdecken. In der Schweiz hingegen sind diese offen zutage getreten und haben zu reger Diskussion Anlaß geboten. Hier stand cias soziale Problem als brennendstes im Vordergrund.

In der Auseinandersetzung bildete das Erscheinen eines weit über die Grenzen der Schweiz beachteten Buches einen Höhepunkt, das Werk von Professor Wilhelm Röpke: „Die Gesellschaftskrise der Gegenwart“ (Zürich 1942), dem als Ergänzung „C i v i t a s Humana“ gefolgt ist. Der Autor zeichnet in der „V e r m a s s u n g“ der Menschen eines der Grundübel dermodernen Gesellschaft und stellt sich damit bewußt in Gegensatz zum Kollektivismus. Prof. Röpke macht dafür unter anderem die Atomisierung der Gesellschaft verantwortlich, die er m i t der religiösen Lage in Zusammenhang bringt. Was die Schweiz betrifft, hat das religiöse Leben in den letzten Jahren eine bedeutende Entwicklung genommen. Die Gegensätze zwischen Katholizismus und Protestantismus sind erheblich abgeklungen. Es machen sich in beiden Lagern ökumenische Bestrebungen geltend, deren Zentrum Genf ist, wo sich auch der Sitz des ökumenischen Rates befindet. Übrigen bezeichnend, daß Genf nicht mehr allein im Zeichen Calvins steht, bereits 48 Prozent der Bewohner sind Katholiken Und wenn Genf auch nicht mehr jene geistige Metropole ist, die sie in der Vergangenheit war, so ist diese Stadt dennoch weiterhin Sitz internationaler Organisationen geblieben.

Vom Völkerbund seligen Angedenkens ist nicht mehr geblieben als ein prächtiger, überdimensionaler Palast. Im Gegensatz zum Verblassen dieser großen und kostspieligen Institution hat der zweite Weltkrieg dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz neues Leben eingeflößt. An seiner Tätigkeit nahm das Schweizer Volk regsten Anteil. Gewiß zum Teil aus jener humanitären Einstellung heraus, die das segensreiche Wirken des Internationalen Roten Kreuzes würdigen ließ. Zum anderen, wenn auch geringeren Teil, aus dem Bestreben, die schweizerische Neutralität zu rechtfertigen, in Anbetracht der zahlreichen Angriffe, der diese im Laufe des Krieges von außen begegnete. Man wußte auch, nachdem die ersten Umrisse der neuen Internationalen Organisation sich abzuzeichnen begannen, daß aus ihr der schweizerischen Neutralität neue Probleme erwachsen würden, ja daß sie vielleicht sogar in Frage gestellt werden könnte. Vor dieser entscheidenden Möglichkeit stehen heute die Schweizer, welche die Aufnahme ihres Landes in die Reihe der Vereinten Nationen wünschen. Sie würde die Schweiz vor eine grundsätzlich neue Lage stellen. Daß ihre Entscheidung in jedem Falle auch für die weitere geistige Entwicklung des Landes von überragender Bedeutung ist, steht außer Zweifel. Eines aber ist gewiß, nämlich die Tatsache, daß die Schweiz auch weiterhin jenes Zentrum des Kulturanstausches bleiben wird, das es bisher war.

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