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Ist die Schweiz ein Käfig?

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In seinem Mitte der dreißiger Jahre erschienenen Buch „Bedürfnis nach Größe“ hat der Westschweizer Dichter C. F. R a m u z geschrieben, in kleinen Ländern haben große Gedanken keinen Platz. Das Schlimmste an diesem Umstand sei, daß die Kleinstaatler selber dies gar nicht bemerken, sie halten, meinte Ramuz, ihre Kleinheit und Kleinlichkeit noch für eine besondere Tugend, ja verwechseln sie mit einer Art von Größe und spinnen sich in ihren ideenleeren Nützlichkeitskult ein. Dieser lasse sie zum Beispiel große geisteswissenschaftliche Leistungen für reinen Luxus halten, und gerade dadurch leiden sie an einem bedenklichen Mangel an Menschlichkeit. Dieser Mangel wurde für Ramuz darin offenbar, daß ein Land wie die Schweiz überdurchschnittlichen Begabungen oft kein angemessenes Feld der Wirksamkeit zu bieten vermag. Daraus zog Ramuz den Schluß, jede Inspiration müsse dieserart versiegen und die Schweiz verfalle immer mehr der Isolierung und Sterilität, zumal sie auch geographisch abgekapselt sei. Wörtlich schrieb er im erwähnten Buch: „Wir leben in einem Vogelkäfig. Wir kennen den freien Raum nicht, wir grenzen nicht ans Meer. Wir atmen nur mit halben Lungen, denn wir haben (als fast einziges Land in Europa) kein Fenster, das sich auf die Weite öffnet.“

Diese Worte muten seltsam „modern“ an, wenn man sich vergegenwärtigt, daß heute, 25 Jahre später, ein anderer Schweizer Dichter, Max Frisch, denselben Sachverhalt feststellt und mit ähnlichen Worten beklagt. Statt des Bildes vom Vogelkäfig verwendet er lediglich das noch drastischere des Kerkers. Die schweizerische Existenz sei das Leben eines Gefangenen, das ist der leitmotivische rote Faden, der sich durch sein Werk zieht.

In einem soeben erschienenen Buch

„Unbehagen im Kleinstaat“ hat Prof. Karl S c h m i d nachgewiesen, daß dieses Mißbehagen in der schweizerischen Literatur nicht nur bei Frisch festzustellen ist. Mit wissenschaftlicher Objektivität geht Schmid diesem Motiv bei vier Schweizer Dichtern (C. F. Meyer, Amiel, Schaffner und

Frisch) sowie bei Jakob Burckhardt nach.

Femweh und Heimweh

Man könnte, ohne dem Thema Gewalt anzutun, die Ahnengalerie noch weit hinter C. F. Meyer zurückverfolgen. Nicht nur in der Literatur und in der Kunst der Eidgenossen, sondern auch in ihrer Politik und in ihrem Volkstum bricht sich von Zeit zü Zeit ein Zug in die Weite, ein eigengeartetes Fernweh Bahn. Selbst die Reisläuferei der Schweizer Söldner erklärt sich bis zu einem gewissen Grade aus dem Bedürfnis, aus der Enge der Bergwelt und der Konventionen auszubrechen.

Fernweh und Heimweh sind beide typisch schweizerisch; fast jeder Schweizer wird von Zeit zu Zeit von einem unwiderstehlichen Drang in die weite Welt gepackt, und fast jeder sehnt sich, wenn er einmal die heimatlichen Gefilde weit hinter sich gelassen hat, schon bald wieder zurück nach Hause.

In diesen Zusammenhang muß übrigens auch das Auslandschweizertum gestellt werden, das auf eine tiefeingewurzelte Tradition zurückblickt. Seit Jahrzehnten wandert regelmäßig ein breiter Strom von Schweizern in die weite Welt bis in die fernsten Länder, wo sie sich neue Existenzen aufbauen, jedoch mit rührender Anhänglichkeit ihrer alten Heimat verbunden bleiben. Die meisten von ihnen pflegen in Auslandsschweizer-Kolonien eidgenössische Gesinnung. Viele dieser Kolonien unterhalten mit Bundeshilfe eigene Schweizer Schulen.

Zur Zuschauerrolle verurteilt?

Die enge Verflechtung der Schweiz mit der Welt, wie sie sich namentlich

im Auslandsehweizertum und in de Offenheit des kulturellen Lebens de Landes für ausländische Einflüsse mani-festiert, kann aber nicht darüber hin wegtäuschen, daß die kleine Alpen republik an den großen Entscheidungen der politischen, wissenschaftlicher und kulturellen Welt nur einen geringen Anteil hat. Das hängt nicht nur mit der geographischen Lage, mil der räumlichen Begrenztheit und dei Heterogenität der Schweiz zusammen, sondern wird noch gefördert durch die Neutralität. Diese hat sogar die „Hauptschuld“ daran, daß die Schweizer zu einer Art von Zuschauerrolle am Wegrand der Geschichte verurteilt sind. (Von daher erklärt sich vielleicht das Bestreben der jungen neutralistischen Nationen, die „passive“ Neutralität, die in der schweizerischen ihre klassische Ausgestaltung gefunden hat, durch eine sogenannte „positive Neutralität“ zu ersetzen, d. h. durch eiri zwar blockfreies, aber eben doch aktives Engagement in der Weltpolitik.) Die Selbstverdammung zur bloßen Zuschauerrolle hat die im Buche von Schmid erstmals wissenschaftlich angegangene Haltung eines C. F. Meyer, eines Jacob Burckhardt, eines Amiel, Schaffner und Frisch zum helvetischen Kleinstaat maßgebend — und zwar negativ — beeinflußt. Die Skepsis dieser Vertreter der geistigen Elite verschiedener Dezennien gegenüber dem eigenen Lande darf gewiß nicht mit bloßer helvetischer Lust am Nörgeln und auch nicht als Ausfluß eines platten, modischen Nonkonformismus abgetan werden. Der Kern ihrer negativen Haltung liegt weiter innen: im Engagement des Künstlers. Begrenzung der Ideen und des Blickwinkels, Nichtparteinahme, Nicht-engagement sind jedem Künstlertum zuwider. Eine andere Frage ist es jedoch, ob darob der „bessere“ Teil des schweizerischen Wesens, wie es sich in der Vereinigung der politischen, rassischen, kulturellen und religiösen Gegensätze dartut, einfach übersehen und als belanglos abgetan werden dürfe. Die Schweiz ist an sich und durch sich als Vereinigung von Gegensätzen ein Beitrag an die politische und geistige Entwicklung, ein Beitrag von unzweifelhafter Strahlungskraft. C. F. Meyer, Jakob Schaffner und Max Frisch übersehen die Bedeutung dieses Faktums, weil sie Größe nur als individuelle Größe begreifen und die Größe der Gemeinschaft und der gemeinschaftsbildenden Kräfte und Leistungen verkennen.

Der Gefangene ohne Fesseln

Das aktuellste und zugleich lebendigste Kapitel in Schmids Buch gilt Max Frisch. Es hat in der Schweizer Presse eine Kontroverse ausgelöst, weil Schmid (der Literaturhistoriker ist) bei aller Wissenschaftlichkeit kein Hehl daraus macht, daß er Frischs Ableh-' nung der heutigen Schweiz für ein Fehlurteil hält. Das hat Schmid den Vorwurf eines Teiles der Rezensenten eingetragen, er sei unobjektiv, er nehme einseitig Partei. Ein bekanntes Blatt hat versucht, den Streit auf den Nenner zu bringen: Gibt es für den Schweizer ein Recht auf Unbehagen an seinem Kleinstaat oder nicht? Diese Fragestellung ist aber allzu simpel und rhetorisch in einem Land, in dem d i e Eigenart der Bürgerschaft ja geradezu die Lust am Ärger über das eigene Land istl Ihnen das Recht auf Unbehagen bestreiten, hieße ja geradezu die Schweizer entSchweizern wollen.

Nein, das Recht auf Unbehagen ist ernstlich nicht bestritten, so wenig wie es sich ernstlich leugnen läßt, daß die Enge und Kleinheit (und auch oft: Kleinlichkeit) der Preis sind, den diese Schweiz für den inneren Zusammenhalt ihrer so verschiedenartigen Teile, für die „Einigkeit der Gegensätze“, zu zahlen hat. Ganz ehrlich gesagt: es gibt genau genommen gar keine einheitliche schweizerische Kultur, sondern nur eine schweizerische kulturelle Vielfalt, deren einziges einigendes Band der gemeinsame Staatswille ist.

Die „Größe“ der Schweiz ist gerade die Erkenntnis und das Bekenntnis, daß man das Nationale nicht überwerten und ihm niemals die Eigenart natürlich gewachsener Kräfte opfern darf. Dieser schweizerische Gedanke trägt heute in der Welt Früchte, wie die Integrations-Diskussion zeigt. Allein schon diese Feststellung läßt hinter Frischs Ablehnung der Schweiz ein Fragezeichen setzen. Überhaupt: ist ein „Kerker“, dessen Tore dauernd offen stehen, dessen Gefangene frei aus- und eingehen und sich nur zum Schlafen und Essen im Gefängnis ein-

finden (wie Frisch es tut) wirklich eir. Kerker?

Gegen das Unabänderliche

Frisch betont gelegentlich, als Maßstab für die Bemessung der wahrer Größe des Landes tauge weder die Fläche noch die Einwohnerzahl. Die Größe eines Landes sei vielmehr die Größe seines Geistes. Sie sei nicht zu beurteilen nach historischen Größen, sondern einzig „nach Manifestationen einer schweizerischen Geistesgröße“. Solche Manifestationen seien aber nicht sichtbar (wobei offenbar Frisch sein eigenes Werk oder dasjenige seines Freundes Dürrenmatt nicht als

gültige Manifestation schweizerischen Geistes gelten läßt). Man muß sich beim Lesen von Frischs immer wiederkehrenden Protesten gegen die „Kerkerexistenz“ der Schweiz fragen, ob mit seinem Gemeinschafts- und seinem Freiheitsbegtiff überhaupt Gemeinschaft und Größe möglich seien. Frisch verwechselt anscheinend Gemeinschaft mit Kollektiv und Freiheit mit Ungebundenheit. Auf Grund solcher Verwechslungen sind gewiß große Einzelleistungen außerordentlicher Menschen (wie er selber einer ist) möglich, aber keine Gemeinschaftsleistungen, wie sie etwa ein Pestalozzi zustande gebracht hat.

Zeitalter des Durchschnitts

Was t-risch an der Schweiz von 1963 auf die Nerven geht, ist vielleicht überhaupt nicht so typisch schweizerisch, wie er wähnt, sondern zum Teil eine allgemeine Erscheinung dieser Zeit; die Befähigung zum Außerordentlichen, das Bestreben, über sich selbst hinauszuwachsen, kann ganz allgemein in einer Zeit schlecht gedeihen, die das Bedürfnis nach Sicherung und Sicherheit an die oberste Stelle rückt und dabei weniger auf sich selber als auf die schützende Macht der Organisation und der Zahl vertraut. Diese Haltung ist wohl kein schweizerisches Privileg ...

Sinn für Proportionen!

Frischs Fehler ist es, daß er die Tugenden seiner Mitbürger verkennt und nur ihre Laster sieht. Mit andern Worten: er verzeichnet die Proportion. Eine Kritik kann nicht gerecht und nicht objektiv sein, wenn sie nur das

Kritikwürdige ins Visier nimmt. Gewiß, seine Kritik an der Schweiz ist nicht unberechtigt, aber sie ist dadurch ungerecht, daß Frisch nur am Kritikwürdigen sein Land mißt.

Was ist Größe?

Wiewohl Frischs Kritik der heutigen Schweiz eine moralische Verurteilung miteinschließt, geht es ihm nicht um Moral. Ihm geht es um das seelische Format, um den intellektuellen Horizont, um die geistige Größe des ! Schweizervolkes. Er vermißt diese '• innere Größe. Aber er sagt eigentlich I nie, was er darunter versteht. Größe i ist ein schillernder, vielsinniger Be- i griff, und wenn der Schweizer diesem ' hochtönenden Wort gegenüber miß- < trauisch ist, so hat er doppelt gute i Gründe dazu, seitdem er Zeuge und i Bedrohter einer Art von nationaler 1 Größe war, deren Megalomanie und 1 Monumentalität heute noch, in der

geschichtlichen Rückblende, etwas Erschreckendes für alle Schweizer behalten hat.

Trotzdem: Der Schweizer ist geneigt, Frisch und Ramuz zuzugestehen, daß die Kleinheit und Enge eines Kleinstaates Hindernisse bilden für die Entfaltung außerordentlicher Talente und daß dieser Boden steinig und dieser Raum zu eng ist, um große, einmalige Leistungen zu begünstigen. Im Atomzeitalter werden sich die Schweizer dieser Tatsache schmerzlicher als je bewußt; ihre beschränkten Mittel und Möglichkeiten zwingen tatsächlich beste Kräfte der Forschung und Wissenschaft unter die Protektion der Mächtigen dieser Erde, die unbeschränkte Mittel zur Verfügung stellen können. Dieser Sachverhalt aber liegt nun einmal in der Sache selber, und es wäre ein illusionärer, trügerischer Schluß, daraus die Konsequenzen zu ziehen, ein kleines Volk solle sich in größere Staatsverbände flüchten. Ist es denn eine Schande, wenn ein kleines Volk die Beiträge seiner besten Köpfe an den Fortschritt nicht auf sein nationales Konto zu buchen wünscht? Wesentlich erscheint nur, daß es Talente hervorbringt und im Rahmen seiner Möglichkeiten sie fördert. Es ist sber falsch, diese Möglichkeiten mit amerikanischen und russischen Maßgaben zu messen. Wichtig und richtig st es, daß ein kleines Land wie die Schweiz seine Tore zur Welt und für iie Welt weit offen hält und im Rah-nen seiner Möglichkeiten d. h. in nternationaler Zusammenarbeit bei-:rägt zum Fortschritt. Das scheint mir /erdienstlicher zu sein, als irreale Träume von nationaler Größe.

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