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Die Alpenpässe hüten!

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„Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ So steht's in Schillers „Wilhelm Teil“, und das Wort ist auf das schweizerisch-österreichische Verhältnis gemünzt. Die „Frommen“, das sind (natürlich!) die Eidgenossen und der böse Nachbar ist der Österreicher. Der Österreicher von dazumal. Am Anfang der Eidgenossenschaft stand ja die Todfeindschaft der freiheitsdurstigen Urschweiz zur österreichischen „Besatzungsmacht“. Im Lauf der Jahrhunderte hat sich das Verhältnis von Grund auf gewandelt, und wenn in Europa heute zwei Länder freundnachbarlich verbunden sind, dann die' beiden neutralen Alpenrepubliken im Herzen unseres Kontinents. Keinem Eidgenossen, der den österreichischen Kanzler auf seiner jüngsten Schweizer Reise gesehen hat, sind Gedanken an Geßler aufgestiegen, bestimmt nicht. Die Zeit, aber auch ein

weitgehend übereinstimmendes Schicksal und die sich immer mehr ähnelnden Aufgaben der beiden Völker haben den Eidgenossen das Wort Österreich, das ihnen einst ein Schreckwort war, zu einem vertrauten Begriff werden lassen, mit dem sich der Gedanke der guten Nachbarschaft verbindet.

Die Kleinen und die Großen

Gute Nachbarschaft gründet auf Gegenseitigkeit wie alles echte Verstehen, das die Voraussetzung guten Einvernehmens ist. Man kann damit in der Welt des Großen und des Lauten allerdings keinen Staat machen, keine Rolle spielen. Aber vielleicht ist es gerade die (sehr unspektakuläre) Aufgabe kleiner und neutraler Völker, durch die Treue zu sich selber und zu ihrer Umwelt.diese bescheidenen, aber nötigen Bausteine zur Welt von morgen heranzutragen. Der Besuch Doktor Gorbachs in der Schweiz hat dieses Bewußtsein gegenseitiger Abhängigkeit und Verbundenheit vertieft. Diesen Sinn einer Solidaritätskundgebung hatte Gorbachs Besuch neben dem unmittelbaren praktischen Zweck, die Wegstrecken und die Methoden gemeinsamen Vorgehens in der Integrationsfrage abzusprechen. Der Besuchhat die Überzeugung hüben und drüben vertieft, daß sich die beiden Länder einer gemeinsamen Aufgabe bewußt sind; als blockfreie, nicht aber .gesinnungsneutrale (also neutralistische) kleinstaatliche Demokratien, die selber in ihren Gemarkungen die Integration verschiedener Volksgruppen und politischer Bekenntnisse verkörpern, das Lebensrecht des Kleinen und organisch Gewachsenen gegenüber den Zentralisierungstendenzen und der Nivellierung des großräumigen Denkens und der kühnen Konzepte glaubwürdig zu verfechten. Sind diese neutralen Kleinstaaten zudem Nachbarn, so liegt eine „Tuchfühlung“ angesichts so tiefer gemeinsamer Anliegen auf der Hand, zumal beide zu Wächtern des Alpenraumes und der Verbindungen im Herzen Europas bestellt sind. Diese Gemeinsamkeiten verleihen denn auch der Neutralität, der Richtschnur der österreichischen wie der schweizerischen Außenpolitik, einen zusätzlichen

praktischen Wert für die Umschreibung der Zusammenarbeit. In diesem Bezug waren die Gespräche Gorbachs in Bern der Anfang eines Zusammenrückens, das die Völker ost- und westwärts des jungen Rheins gleicherweise begrüßen.

Mittler und Makler

Die sich abzeichnende Entwicklung ist indes nicht ohne Rückwirkungen auf die traditionelle Neutralitätseinstellung der Schweiz. War früher die helvetische Neutralität etwas Einmaliges, eine schweizerische Exklusivität, die der Eidgenossenschaft auch eine Sonderstellung im Völkerleben verlieh, so hat der Übergang Österreichs und Schwedens ins neutrale Lager dieser Ausnahmestellung der Schweiz viel von ihrem Nimbus genommen. Gewiß gilt die Schweiz in der Welt bei allen, die über sie informiert sind, nach wie vor als die humanitäre und Friedens-

insel, und ihre besondere Aufgabe wird immer noch im Lichte eines Bruder Klaus, des Friedensstifters vom Ranft, und eines Henri Dunant, des Schöpfers des Roten Kreuzes, gesehen. Aber dieses Bild wird überdeckt durch ein anderes, das die Neutralität zur Drückebergerei stempelt. Die Schweiz muß und wird sich bemühen, die ethische und völkerrechtliche Notwendigkeit der aus ihrer humanitären und Mittlermission sich rechtfertigenden Neutralität künftig noch mehr als bisher durch praktische Taten zu erweisen. Wenn auch ihre Helfer- und Mittlerdienste in der letzten Zeit immer wieder und immer mehr beansprucht wurden und die Schweiz diese Aufgaben stets spontan übernommen hat, so ist doch auf der Gegenseite nicht zu übersehen, daß ihre Neutralität weitherum auf schwindendes Verständnis stößt. Daran ist natürlich nicht nur, wohl aber auch bis zu einem gewissen Grade der Umstand beteiligt, daß die schweizerische Neutralität ihren Exklusivitätscharakter eingebüßt hat. Die Schweiz sieht sich in dieser veränderten Situation der Aufgabe gegenüber, ihre auch innerhalb des Kreises der Neutralen einmalige Stellung als Hüter der Rotkreuztraditionen und als Vermittler durch entsprechende Taten zu festigen und damit den *Völkern ins Bewußtsein zu rufen, daß sie alle an einer Insel des Friedens und der Humanität und damit auch an der Neutralität der Schweiz interessiert sind. Von der Wirtschaft zur Politik

Darüber hinaus stellt sich die Frage einer intensiveren Kontaktpflege im politischen Räume. Es ist aufschlußreich, daß ausgerechnet ein schweizerischer Wirtschaftsführer, Direktor R. K ä p p e 1 i, die Frage aufwirft, ob nicht die engere Schicksalsgemeinschaft, in welche die Integration die beiden Alpenländer führt, über das Nur-Wirtschaftliche hinaus zu noch engeren Bindungen führen sollte. Käp-peli geht von der Erwägung aus, daß Situationen denkbar sind, in denen „die Chancen einer erfolgreichen Vertretung des Neutralitätsanspruches des einen Landes durch das praktische Verhalten des anderen beeinflußt, ent-

weder verbessert oder verschlechtert werden können“. Ein erstes positives Beispiel dieser Art, das in der Schweiz mit großer Genugtuung registriert worden ist, liegt ja bereits vor: die Vertretung der schweizerischen Neutralitätsansprüche wird den Eidgenossen zweifelsohne erleichtert durch die prompte und klare Reaktion der österreichischen Politiker und Presse auf Versuche gewisser EWG-Chauvinisten, einen Keil zwischen uns beide zu treiben. Hier kündet sich eine Solidarität an, die — neutralitätspolitisch gesehen — ihre tiefere Rechtfertigung darin hat, daß Österreich und die Schweiz durch den Staatsvertrag so etwas wie eine zwar nicht geographische, wohl

aber ideelle „gemeinsame Grenze“ erhalten haben. Käppeli glaubt daher, daß das Neutralitätsprinzip dadurch, daß es „auf einen vergrößerten und gleichzeitig für eine zusammengefaßte Abwehr in einzigartiger Weise prädestinierten Raum ausgedehnt wird“, zu einer gestaltenden Komponente der künftigen Europapolitik heranwachsen könnte. Diese Komponente, meint er, wäre in Beziehung zu setzen zu der Allianz der im Römer Vertrag zusammengeschlossenen Mächte, eine politisch reichlich unklar umschriebene Körperschaft, die nur wachsen kann, ansonst sie zerfiele. Eine auf die Alpen beschränkte, sie jedoch gänzlich umfassende neutralisierte politische Zone vermittle dagegen im Verhältnis zum europäischen Geschehen die Vorstellung einer Konstanten, die der unbedingt notwendigen Zusammenfassung der europäischen Kraft einen unschätzbaren Rückhalt verleihen könnte.

Neutralität und Wehrbereitschaft

Eine kühne Vision! Fast ist man versucht, dazu das Sprichwort zu zitieren: „Liebe deinen Nachbarn, aber reiß' den Zaun nicht ein!“ Immerhin: Auch für den nüchtern Denkenden hat Käppelis Vorstellung eines neutralen Alpenraumes eines künftigen Europabildes etwas Faszinierendes, über das nachzudenken sich lohnt. Konfrontiert man sie mit den Realitäten, so stellt sich — jedenfalls in der Schweiz — sogleich die Frage nach dem Verhältnis der Neutralität zur Wehrbereitschaft, denn dem Schweizer ist nur eine bewaffnete Neutralität als Mittel zur Wahrung der Unabhängigkeit vertraut und denkbar. Käppeli ist sich dessen wohl bewußt, wenn er schreibt, das Verteidigungskonzept der Schweiz ver-

ändere sich von Grund auf, sobald man die österreichisch-schweizerischen Alpen als Einheit betrachte. Hier wird denn auch der unverbindliche, akademische Charakter seiner Spekulation sichtbar. Aber die bloß theoretische Hypothese hat für die Eidgenossen unter wehrpolitischen Gesichtspunkten doch einen aktuellen Aspekt. Insofern nämlich, als sie die Problematik des militärischen Flankenschutzes an der Ostgrenze der Schweiz sichtbar macht. Es gibt helvetische Bürger, die sich fragen, ob nicht das militärische Vakuum, das die durch den Staatsvertrag 1955 herbeigeführte Beendigung der Besetzung in Österreich für etliche Jahre geschaffen hat, für die Schweiz und darüber hinaus für Westeuropa

allgemein ein beträchtliches Risiko darstelle. Und da jedes Vakuum die fatale Eigenschaft hat, auf einen Angriffslustigen anziehend zu wirken, ist man in der Schweiz natürlicherweise daran interessiert, daß es ausgefüllt werde. Man darf, um das zu verstehen, nicht übersehen, daß die Eidgenossenschaft bedeutende Opfer für ihre Wehrbereitschaft bringt, wendet sie doch für die Armee und die Rüstung jedes Jahr mehr als 1,2 Milliarden Franken auf; ja, entspräche der Bereitschaftsgrad der anderen westeuropäischen Staaten demjenigen der Schweiz, so müßte die NATO gegen 300 Divisionen aufweisen!

Das heißt nun aber keineswegs, die Schweizer würden ihren österreichischen Nachbarn dafür verantwortlich machen, daß das Problem der österreichischen Verteidigung noch seiner Lösung harrt. Sie wissen sehr wohl, daß der Staatsvertrag ihrem Nachbarn militärisch die Handlungsfreiheit stark beschnitten hat. Mit um so größerer Genugtuung wurde die Antwort Bundeskanzler Gorbachs anläßlich seiner Berner Pressekonferenz auf eine Frage des Schreibenden über den militärischen Grenzschutz Österreichs zur Kentnis genommen. „Wer neutral sein will, muß stark sein“, erklärte er, und fügte bei, daß Wien willens ist, im Rahmen seiner Möglichkeiten eine Abwehr aufzubauen, die geeignet ist, einem Angreifer denjenigen Respekt einzuflößen, der Chancen hat, ihn von einem Überfall womöglich abzuhalten. Auch darin, so stellt man fest, stimmt die Haltung der österreichischen Regierung mit der schweizerischen überein. So darf man denn hoffen, daß auch in den Fragen der Verteidigungsbereitschaft das Zusammenrücken der beiden Alpenrepubliken Früchte trägt.

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