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Im „Gleichgewicht des Schreckens“

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Hier nun trennten sich die Initian-ten von der offiziellen, durch den Urnenentscheid vom 1. April sanktionierten Haltung. Sie wollten mit ihrer Initiative dem Schweizer Volk die Gelegenheit verschaffen, der Welt ein Beispiel zu geben. Die Schweiz sollte nach ihrer Meinung ihr Ansehen als neutraler und wehrbereiter Rechtsstaat in die Waagschale werfen zugunsten einer weltweiten Ächtung der Atomwaffen, indem sie als erstes Land sich in der Verfassung verpflichten sollte, ein für allemal auf die Anschaffung und Anwendung von A-Waffen zu verzichten. Die moralisierenden Unter-und Obertöne dieser Argumentation haben bei manchen Bürgern Sympathien für das Unternehmen geweckt, weil sie zum ersten typisch schweizerisch sind und weil ein solcher heroischer Verzicht manchem geeignet erscheinen mochte, die von der Welt so oft moralisch diskreditierte Schwei-, zerische Neutralität vor sich selber und den Kritikern der Schweiz ethisch aufzuwerten. Sicher war das Bedenken gegen den totalen Krieg, welcher der friedliebenden Schweiz ein Greuel ist, ein bestimmendes Element dieser Haltung. Die gutgläubigen Befürworter übersahen aber, daß ein Ja des Schweizer Volkes in der Welt falsch aufge^ faßt und namentlich von der kommunistischen Propaganda mißbraucht worden wäre. Sie verkannten den realpolitischen Hintergrund der Situation; sie vergaßen namentlich, daß auch die Sicherheit der Schweiz heute maßgeblich bestimmt wird durch das atomare Gleichgewicht des Schreckens, das heißt durch die Opfer, welche die Amerikaner und ihre Verbündeten bringen, um dieses kostspielige Gleichgewicht und damit den Frieden aufrechtzuerhalten. -HmsW

Es wäre in dieser Situation nicht eine moralisch wegweisende Großtat des kleinen Schweizer Volkes gewesen, großmütig auf eine Verteidigungswaffe zu verzichten, die es vorläufig nicht erhalten kann, sondern vielmehr ein Rückenschuß gegen die Garanten des Gleichgewichts und des Friedens. Es wäre damit keineswegs der Welt ein Beispiel gegeben worden, sondern lediglich dem Kreml eine Propagandawaffe für seinen Kampf für die einseitige atomare Abrüstung der Westmächte. Dazu konnte und wollte sich die nüchtern und realistisch denkende Mehrheit der Schweizer nicht hergeben. Die Schweiz hat nach ihrer Meinung auch darum kein moralisches Recht zu einem einseitigen Verzicht auf Atomwaffen, weil sie zur Aufrechterhaltung der Neutralität mit den besten ihr verfügbaren Mitteln verpflichtet ist; sollte es jemals dahin kommen, daß die atomare Bewaffnung der Armeen sich allgemein durchsetzt, so wäre es militärisch sinnlos und der schweizerischen Neutralitätspolitik widersprechend, der Armee von vornherein diese besten Waffen zu versagen. Das sind die ausschlaggebenden Gründe, welche die Mehrheit der Eidgenossen zum Refus der Einladung veranlaßte, sich selber auf alle Zeit die Hände zu binden.

Das Ergebnis bedeutet allerdings noch nicht „Ende Feuer“ im Schweizer „Atomkrieg“. In absehbarer Zeit haben nämlich Volk und Stände über eine zweite Atominitiative abzustimmen. Sie ist von der sozialdemokratischen Partei lanciert worden und verlangt, daß der Souverän, das heißt das Stimmvolk selber, im gegebenen Moment darüber an der Urne bestimmen soll, ob für die Schweizer Armee Atomwaffen angeschafft werden sollen. Zum Verständnis dieses Vorstoßes muß man sich die interne Situation vergegenwärtigen, in welche die Sozialdemokratie durch die Lancierung des nun abgelehnten Volksbegehrens geraten war. Ihr rechter Flügel lehnte es ebenso entschieden ab wie es der linke befürwortete. Um einer Erschütterung der Parteieinheit oder gar einem Schisma zu entgehen, kam die Parteileitung auf den Gedanken, es sei der Entscheid des Volkes, darüber anzurufen, welche Instanz über eine Atombewaffnung der Armee zu bestimmen hat. Wird die sozialdemokratische Initiative nicht zurückgezogen — und ein solcher Rückzug ist höchst unwahrscheinlich — so wird also das Volk der Eidgenossen ein erneutes Gefecht des kalten Atomkrieges zu bestehen haben, in dem manchem Eidgenossen die Entscheidung schwerer fallen dürfte als im ersten.

Die Würdigung des eidgenössischen Urnenentscheides wäre unobjektiv, ließe sie die bei dieser Gelegenheit manifest gewordene welsche Sondertour außer Betracht. Daß sich Deutschschweizer und Welsche seit einigen Jahren in ihrem politischen Denken auseinandergelebt haben, war aufmerksamen Beobachtern schon früher aufgefallen. Während sich der Kommunismus in der deutschen Schweiz nie festsetzen konnte, hat er im Welschland einige Stützpunkte zu etablieren und zu halten vermocht, und der Kommunist ist am Genfer See nicht geächtet und gemieden wie in der Ur- und Ostschweiz. Die Gründe der unterschiedlichen Haltung sind verschiedenartig, sie sind indes nicht so stark, daß jemals ernsthaft der innere Zusammenhalt der Eidgenossenschaft bedroht worden wäre, wie dies beispielsweise in Belgien der Fall ist. Die deutschschweizerische Mehrheit ist sich dessen bewußt, daß sie der Minderheit weiter entgegenkommen muß, als ihr zahlenmäßiger Anspruch es geböte. Zudem bemühte und bemüht man sich hüben und drüben, die Unterschiede der Mentalität zu achten und gelten zu lassen. Verschiedene Vorkommnisse und Diskussionen der letzten Zeit haben aber die Unterschiede öfter zum Gegensatz ausarten lassen. Das war namentlich jüngst in der Diskussion über die Ostkontakte festzustellen, denen die Deutschschweizer sehr reserviert, die Welschschweizer dagegen fast durchweg positiv gegenüberstehen. Hitzköpfe hüben und drüben haben dafür gesorgt, daß darob ein Graben aufgerissen wurde, dessen Erweiterung ernsthafte Gefahren birgt.

Es ist im ganzen Land unliebsam aufgefallen, daß sämtliche deutschsprachigen Kantone die Initiative verworfen, sämtliche französisch sprechenden Stände und der italienischsprachige Tessin sie gutgeheißen haben. Diese starre Frontstellung Deutsch—Welsch wird noch bestätigt durch die Tatsache, daß in den gemischtsprachigen Kantonen Bern und Wallis der deutsche Kantonteil groß-mehrheitlich nein, der französische Teil dagegen ebenso deutlich ja gesagt hat. Noch nie ist der „Graben“ so deutlich sichtbar geworden. Dabei wäre es unsinnig, aus deutschschweize-rischer Sicht über die staatspolitische Reife der Confederes zu Gericht zu sitzen. Abgesehen von den Kommunisten, haben die Jasager der welschen Schweiz achtbare Argumente für ihre Haltung anzuführen. Aus der in der Westschweiz stärker verbreiteten Atomangst heraus wollten sie ihre Sorge um die atomare Bedrohung der Menschheit zum Ausdruck bringen und manifestieren, daß der prinzipielle Entscheid gegen dieses „Teufelszeug“ allen anderen, auch den wehrpolitischen Überlegungen, vorangehen soll.

Sprachgrenze — Denkgrenze?

Diese Haltung entspricht dem durch Erziehung und Bildung erhärteten abstrakten Denken der Westschweizer, die geneigt sind, der formallogisch erarbeiteten Erkenntnis vor den realpolitischen Überlegungen (welche die Haltung des Deutschschweizers weit mehr bestimmen) den Vorrang zu geben. Heute besteht, wie die Osthandelsdiskussion und die Auseinandersetzung über das Atomwaffenverbot blitzartig erhellt haben, die Gefahr, daß man sich hüben und drüben auf die eigene Sicht versteift. Die verständigen Elemente diesseits und jenseits der Sprach- und Denkgrenze werden in der Eidgenossenschaft in den kommenden Jahren die große und dankbare Aufgabe haben, das, was Deutsch und Welsch trennt, in Schianken zu halten, und das, was sie verbindet, zu stärken. Die Vorbereitung der Landesausstellung, die 1964 in Lausanne stattfindet, bietet ihnen dazu vielerlei Möglichkeiten.

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