6560049-1948_43_03.jpg
Digital In Arbeit

Die wahre Schweiz

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Land wie die Schweiz, durch dessen Grenzen alljährlich ein Strom von Gästen flutet, von denen die große Mehrheit kaum über oberflächliche Eindrücke hinauskommt, ist der Gefahr ausgesetzt, menschlich mißverstanden und kulturell von vielen überhaupt nicht erfaßt zu werden. Dazu kommt noch der Umstand, daß ein Volk, das so viel Fremdes in seinem Hause sieht, sich eine gewisse Reserve auferlegt, um seinen bodenständigen Charakter, sein Wesen und seine Seele zu erhalten. Der Schweizer schließt nicht leicht Freundschaften und, obwohl die Schweiz selbst keine Terra in- cognita ist, so ist doch das Schweizer Volk den meisten Gästen ein Buch mit sieben Siegeln und das Wissen um das Land beschränkt sich für viele auf die Preise der Seilbahnen, der Hotels, Konfiserien, der „Souvenirs" und Spezialfahrkarten. Die Tatsache, daß die Schweiz nicht nur — um mit Spengler zu reden — sehr zivilisiert ist, sondern eine kulturelle Großmacht darstellt, kommt vielen kaum zum Bewußtsein. Von den herrlichen, alten Städten der Schweiz sind die kleineren Juwelen, wie Yverdon, Romont, Aarbung, Avenches, so eigentlich vom großen Ausland noch nicht entdeckt.

Die Schweizer Gesellschaft, eine der kultiviertesten Gesellschaften Europas, ist — es sei hier gleich vorweggenommen — ganz und gar nicht egalitär. Hier finden wir exklusiven Adel und das kultivierteste Patriziat der Alten Welt, und man müßte nach Boston oder Philadelphia fahren, um Ähnliches zu treffen. Manche dieser Familien haben Stammbäume, die sich mit denen alter Herrscherhäuser vergleichen ließen. Dazu herrecht in der Schweiz ein ganz allgemeines Interesse für Familiengeschichte und Lokalgeschichte, und es wäre sehr fehlgegangen, zu glauben, daß dies der Ausfluß eines gesteigerten Snobismus wäre. Die Schweiz ist eine Demokratie, sie ist aber keine Massendemokratie. Zwar sind die Stürme von 1789 und 1847 über die Schweiz nicht spurlos hinweggebraust, aber die Tatsache, daß die Schweiz ein kleines Land., mit kleinen Kantonen, doch mit dem Stempel alter Geschichte und unerhörter Vielfalt ist, bleibt bestehen.

Dem ganz starken Geschichtsbewußtsein des Schweizers steht seine politische Schau, die sich von der kleinen zur großen Einheit — und nicht umgekehrt! — bewegt, hilfreich zur Seite. So wird ein Zermatter zuerst ein Zermatter, dann ein Nikolai- taler, ein Oberwalliser, ein Walliser und schließlich erst ein Schweizer sein. Den „Kolossalismus“ der entpersönlichten Massen, deren Glieder vor Schreck gelähmt würden, wenn sie nicht zumindest einem 40-Millionen-Staat angehörten, machen die Schweizer nicht mit. Man hat besonders heutzutage kein Recht, geringschätzig über den Kantönligeist zu urteilen, denn gerade darin liegt eine große Kraft. Nur den beschränkten Raum kann der Einzelne persönlich durchdringen und in dessen Erdreich sich wurzelhaft verankern. Je nachdem man’s will, ist die Schweiz ein kosmopolitisches oder auch ein bodenständiges Land. Zudem ist das Geschichtsbewußtsein der Schweizer auch auf die Familie bezogen und dieser Umstand hinwiederum stärkt das Verantwortungsgefühl, daher auch die großen geistigen Leistungen des Schweizer Adels und des Patriziats. Auf dem Intellektuellen mehr als auf dem Künstlerisch-Ästhetischen liegt der Hauptakzent der Schweiz. Man denke da nur an Familien, wie die Burckhardts, die Reynolds, die Segessers, die Pourtales, die Hallers, die Tschudis, in deren Reihen man Schriftsteller, Rechtsgelehrte, Professoren und Politiker von hohem Rang findet. Die Schweiz ist eines der arbeitsamsten Länder Europas und niemand ruht sich hier auf seinen noch auch auf seiner Ahnherrn Lorbeeren aus.

Wenn wir dies in Betracht ziehen, dürfen wir uns nicht wundern, daß Historiker, wie Gonzague de Reynold und Karl J. Naef, in der Schweiz nicht eine Republik egalitärer Revoluzzer, sondern den letzten wahrhaften Rest und das Herzstück des Heiligen Römischen Reiches sehen. Reynold hat diesen Gedanken schon im Jahre 1912 aufgegriffen und Naef hat ihm in einem ausgezeichneten und überzeugenden Artikel vor einem Jähre „Schweizer Rundschau", November 1947 Ausdrude verliehen. Naef hebt hervor, daß die Schweizer Abneigung gegen das Über-einen-Leisten-Spannen das bezeichnendste Erbe des alten Reiches ist, das die Schweiz angetreten hat.

gegenüberzustehen, ein Vertrag, der nun bald — ganz ohne UNO und Sicherheitsrat — ein halb Jahrtausend lang getreulich eingehalten würde.

Da wir aber schon vom Freisinn und dem Liberalismus geredet haben, dürfen’ wir nicht vergessen, daß es auch in der Schweiz zweierlei von dieser Sorte gab; auf der einen Seite steht ein Mann wie Gottfried Keller, auf der anderen Jacob Burckhardt, Jeremias Gotthelf, Benjamin Constant und Alexandre Vinet. Gerade Vinet hatte sofort erkannt, daß es dem bürgerlichen Ra dikalismus nicht um die wirkliche Freiheit ging, sondern um eine Handhabe, den Konservativismus und damit das historische Christentum ausrotten zu können. Dieser Pastor befehdete grimmig, ähnlich wie der kalvinische Antistes Dr. Hurter, der spätere Geschichtsschreiber Kaiser Ferdinands II., die Aargauer Klosterstürmer, denn „mit den Klöstern fängt es an, aber die Herren wollen uns nicht verraten, wo sie sich zum Schluß eine Grenze setzen wollen". Allerding war der klassische Schweizer Liberalismus konservativer Prägung nicht nur der Französischen Revolution, sondern der doppelsprachige Murten selbst, eine prächtige Kleinstadt’ mit ‘ mittelalterlichen Bastionen, die Karl der Kühne von Burgund zu bezwingen getrachtet hat. Dabei erlitt er 1477 seine böseste Niederlage, die aber auch den militärischen Ruhm der Schweizer für immer besiegelte. Vorher aber hatten die Schweizer die „Ewige Richtung" mit den Österreichern abgeschlossen, den .Pakt, nie mehr mit der Waffe in der Hand einander

Gerade in der Erhaltung des föderalistischen Prinzips, dem die meisten Demokratien so abhold sind und das in Denis de Rougemont einen so begeisterten Künder gefunden hat, besitzt die Schweiz in Europa eine wahrhafte Führerrolle. Daß uns Europäer nur der Föderalismus aller Dimensionen retten kann, dürfte heute wohl eine Binsenwahrheit seih. Nun aber ist dieser organisch nur möglich, wenn die bodenständigen Werte erhalten werden. Doch gerade diese Vielfalt lebt in der Schweiz auch heute noch in ungeahntem Ausmaß. Daran hat der ganze Ansturm der Technik nichts zu ändern vermocht. Man braucht da nur den kulturellen Abgrund ermessen, der zum Beispiel Freiburg von Bern trennt. Nur 30 Minuten braucht der Leichtmetallschnellzug von der Kapitale der Schweiz und der Hauptstadt des „schweizerischen Preußens“ zum „schwarzen Fribourg“ und doch führt der kurze Schienenstrang von einer Welt in eine ändere. In Bern herrschen der bürgerliche Freisinn und die letzten Reste der Aufklärung des 19. Jahrhunderts dabei ein ganz anderer Liberalismus als in Zürich, ein ganz anderer als in Genf!, aber in Freiburg dominieren die Dominikaner, in Freiburg erhebt sich das modernste katholische Universitätsgebäude der Welt und manifestiert sich die Katholizität der Kirche durch abessynische, chinesische, indische und amerikanische Studenten. Hier wird zumeist französisch gesprochen, dort fast ausschließlich deutsch. Dabei ist Bern nicht ungemütlich und es hat mehr „Gesicht“ als die meisten europäischen Metropolen, aber Fribourg mit seinem deutschen Substratum liegt doch am halben Weg zwischen Paris und Rom — ganz unleugbar so, ganz auffällig so.

Die Vielfalt der Schweiz habe ich am deutlichsten gefühlt, als ich vor wenigen Monaten mit dem Grafen Reynold von seinem Schloß in Cressier Kanton Freibürg nach Murten ging. Cressier selbst ist ein französisch-sprachiges Inselchen — oder Halbinselchen — in einer sonst deutschen Gegend und unser Spaziergang führte uns durch Münchenwiler, eine Enklave Berns, von Protestanten bewohnt und mit der Bärenfahne, die vom ehemaligen Schloß der Graffenrieds weht. Und dann kam das ganzen Demokratie abhold. Er fürchtete das Treiben der Mehrheiten, die gerade dje Schweizer Freiheit am ehesten ausrotter könnten.

Diese Freiheit — eine innere und eine äußere — muß aber, wenn es no’ttut, aucl mit dem Schwert in der Hand verteidig, werden können. Der Schweizer ist fried liebend, aber kein Pazifist, und seine militä rische Tradition als verläßlicher eidgebundener Söldner nicht weniger als ein Be schirmer seiner Heimat, wurde schon obenhin berührt. Das Kriegswesen beherrscht aber das soziale Leben, ja, den Alltag dei Schweiz in einem Ausmaß, wie es der Tourist sich kaum vorstellen kann. Heute vielleicht gemahnen ihn die überall noch vorhandenen Kasematten, Tanksperren unc Stacheldrähte an die Wehrhaftigkeit det Schweiz, was aber nicht zu seinem Erfahrungsbereich gehört ist die weitgehende Verbundenheit des Schweizer Mannes mit dem Heer. Nicht umsonst hängt das Bild des Generals Guisan in jedem Amt und in jeder Gaststube der Schweiz.. Abgesehen davon, daß der Schweizer regelmäßig an den Manövem teilnehmen muß, wird es ihm auch zur Pflicht gemacht, in der Zwischenzeit sich im Scharfschießen zu üben. Auch hier ist das Militärische wiede.r mit dem Zivilen verflochten, denn dieses Training wird von privaten Schützenverbänden durchgeführt, die manchmal parteipolitische Färbung haben, aber dennoch den Militärbehörden von den Übungen Bericht erstatten. Der Soldat nimmt von den Ma- növern auch seine Uniform und Gewehr in sein Heim zurück und oft prangt der Stahlhelm über der Kommode. Die Berufsoffiziere bilden nur einen ganz kleinen Kader. Ein militärischer Kastengeist wäre da ganz undenkbar und dennoch kann man hier von einen Überallsein des Soldatentums reden. So ist die Schweiz voller Paradoxe.

Den Besucher der Schweiz überkommt ein schmerzliches Gefühl, denn die Schweiz ist das, was Europa hätte sein können — strukturell, geistig und auch wirtschaftlich. Die Schweiz ist im Grunde genommen ein armes Land; in Wirklichkeit aber ist sie ein reiches Land dank ihrer hervorragenden, inneren Organisation, ihrem Arbeitssinn, und dem Umstand, daß sie in den letzten 100 Jahren nur für zwar teure Heereseinberufungen, nicht aber für mörderisch-selbstmörderische Kriege zu zahlen hatte. Das Einkommen durch den Fremdenverkehr wird dabei stark überschätzt; in erster Linie ist die Schweiz ein Industrieland, in dem nicht das Rohmaterial, sondern der menschliche Faktor die Hauptrolle spielt. Ein Ausfall des Fremdenverkehrs würde den Lebensstandard der Schweizer nicht wesentlich senken.

Die Schweiz ist ein freies und ein christliches Land. Das Kreuz im Wappen spricht da eine beredte Sprache. Nicht so sehr die Sagengestalt des Wilhelm Teil, als vielmehr die Realität des heiligen Nikolaus von der Flüe ist die wahre Verkörperung Helvetiens. Allerdings kam auch er aus den Bergen und in diesen „wohnt die Freiheit". Das Wort Berg nicht weniger als das Wort Burg kommt von „bergen“, das heißt „beschützen“. Unter dem Schutz der Gebirge und der Mauern konnte der Mensch auch politisch frei werden. Im Hintergründe steht noch der Ritter, aber im Vordergründe der Mann aus der Burg, der „Bürger“, den die Stadtluft frei gemacht. Und dort, wo das Kreuz, die Berge, Burgen und Städte sich treffen, dort ist die Schweiz, dort ist der Hort der Freiheit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung