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Vermenschlichung!

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Im Schlußkapitel seines ungewöhnlich Inhalts- und aufschlußreichen Werkes „Schweizer Volkskunde“ (Zürich 1946) gibt uns der Schweizer Volksforscher Univ.-Prof. Dr. Richard Weiß unter der Uberschrift „Staat, Redit und Volkscharak-ter“ eine Zusammenschau, die nicht .nur den volkstümlichen Fachmann und auch nicht nur den Schweizer, sondern jeden Volksbildner und jeden Politiker angeht, dem Volk und Staat am Herzen liegen.

Wie sehr der edle Begriff „Demokratie“, das heißt „Volksstaat“ zerredet, umgelogen und schal geworden ist, das wird hier erschreckend klar. Das Rezept gegen diese verhängnisvolle Tatsache, die niemand wünschen kann, hat Richard Weiß in eine genial einfache Formel gebracht: „Der drohenden Verstaatlichung des Menschen muß die Vermenschlichving des Staates entgegengesetzt wer-d e n.“

Der inhaltsreiche Satz kommt aus dem Munde eines bedeutenden Volkskenners und aus einem Lande, das den Namen „Demokratie“ auch heute noch mit Recht und in Ehren trägt. Die Herkunft der Schweizerischen Eidgenossenschaft aus einer „alpinbäuerlichen Demokratie“ zeigt ganz klar, wie diese Demokratie aus den Dorfgemeinschaften hervorgegangen ist, die sich in der

Abwehr gegen die „Vögte“ immer fester zusammengeschlossen haben. Wir haben in der „Eurche“ vom 15. Februar 1947 gezeigt, daß die österreichischen Dorfgemeinden eine völlig parallele Entwicklung genommen hstben. Die geschichtlichen Beispiele zeigen vor;allem, „daß zwischen der volkstümlichen BJindung an die heimatliche Lokail-gemeinschafst und der modernen zentralisti-schen, rationalistischen Staatsorganisation eine Kluft sich auftut“, die immer größer wird. „Die Lokaljgemeinschaft in Dorf und Stadt, die Heim^at als der Inbegriff von allen materiellen,| landschaftlichen, familiären, sozialen unÜ geistigen Bindungen innerhalb dieser Loklaigemeinschaft, von allem, was ,heimelig und vertraut' ist, steht dem volkstümlich bestimmten Menschen am nächsten. Sie bestimmt und begrenzt seine Einstellung zum Staat;| durch sie erlebter den S t a a t.“ Heute löst allein schon das Wort „Staat“ — ein Wort, das erst seit dem 17. Jahrhunidert aus dem französischen „etat“ ins Deutsche eindrang — nicht nur in bäuerlichen, sondern auch in anderen Kreisen die unangenehmen Vorstellungen von Papier, Formularen, Büros, Nahrungs- und Woh-n'ungsämterm, Schlangenstehen, Reglementen usw. aus.

„Wo Staatsterritorium und Heimattal^sich decken, wo • das gesamte Staatsvolk in der

Landgemeinde Schulter an Schulter steht und fast jeder den andern kennt, wo die Staatsfunktionen von Mann zu Mann und nicht von Amt zu Amt, von Mund zu Mund und nicht von Papier zu Papier gehen, wie das in den Landgemeindekantonen Glarus, Appen-• zell, Untcrwalden nodi immer der Fall ist, da bleiben sich Heimat und Staat nahe, da sagt man noch ,s' Land', wenn man den Inbegriff von Staat und Heimat meint. Dem organischen, heimatnahen Staat tritt der organisierte, zentralistische moderne Staat als etwas Fremdes, ja Feindliches gegenüber. Die unübersichtliche und darum unverständliche und unnütze Organisation stellt Forderungen, deren Zweck man nicht einsieht, besteht aus unpersönlichen Ämtern und Büros, mit denen man nicht reden kann, aus abgegrenzten Funktionen und Kompetenzbereichen, hinter denen man keine handelnde und verantwortliche Persönlichkeit sietht, aus Formularen, Statistiken und Kontrollen, in denen man versteckte List oder offenen Schwindel vermutet.“

Man wird uns nicht für so töricht halten, organisatorische Notwendigkeiten des modernen Staates, die es ja heute selbstverständlich auch schon in der Schweiz gibt, etwa in Bausch und Bogen verurteilen zu wollen. Was wir mit den zitierten Sätzen sagen wollen, soll nicht gegen wirkliche Notwendigkeiten, wohl aber gegen deren Übermaß und vor allem dagegen gerichtet -sein, daß man jene anderen Tatsachen so oft übersieht, die sich zwischen Staat und Mensch eindrängen.

„Es gibt — außer der noch jungen österreichischen Republik und ihren Bundesländern — keinen europäischen Staat, der in dem Maß Alpenstaat 'wäre wie die Schweiz.“ Diese Tatsache müßte gerade uns Österreichern zu denken geben. Österreich ist ebenso wie die Schweiz durch die „natürliche Klein-kammerung des Gebirges, durch die Aufspaltung in Talschaften und durch die vielfache Gliederung auch der Voralpen und des Mittellandes“ genau so prädestiniert für eine kleinräumige, auf Persönlichkeit und Menschlichkeit abgestimmte Demokratie wie die Schweiz. Nicht nur der große Geo-politiker Napoleon hat die „kleinen Demokratien“ der Schweiz gebilligt, sondern auch Jeremias Gotthelf sprach den Satz aus: „Zentralisieren ist heute ein beliebtes Wort, in der Demokratie, sollte es ein verhaßtes Wort sein“, und schon im 15. Jahrhundert rie-f der heilige Bruder Klaus von der Flüe, der nicht nur ein großer Heiliger, sondern auch ein großer Demokrat gewesen ist, seinen

Schweizern zu: „Machend den Zuun nit zuo wyt!“

Daß der „kleine Mann aus dem Volk“ — seien wir doch ehrlich! — das Deutsch amt* Iicher Verordnungen längst nicht mehr verstehen, daß das Heer von männlichen und weiblichen Beamten die Unzahl von „Parteien“ nur noch als Nummern „abfertigen“, aber nicht mehr als Menschen behandeln kann, daß man — wie ich es soeben selber erlebe — einer siebenköpfigen Familie, die 12 Kilometer südlich von. Graz wohnt, nach zweijährigem, fast allmonatlich wiederhohem „Schlangenstehen“ jetztiendlich eine Anweisung auf ein Paar Strümpfe ausstellte, mit der Bedingung, daß sie dieses Paar in einer Gemeinde 35 Kilometer nördlich von Graz holen muß, usw. usw.,..., das sind Beispiele, die wohl jeder aus eigenen Erlebnissen ins Unendliche vermehren könnte. Und dennoch ruft es ringsum imiBlätterwalde nach Verstaatlichung und immer mehr Verstaatlichung, und keiner erhebtjseine Stimme, um nach dem zu rufen, was allein heilbringend sein könnte, nämlich nada Vermenschlichung! I 7 i I f

Wäre es denn wirklich nicht möglich, daß das kleine, arme Österreich, dem man den Grenzzaun wahrhaftig „nit zuo wyt“ gemacht hat, in seinem kleinen Raum mit den vielen Bergkammern und Talschaften endlich wieder an solch heimelige Vermenschlichung schritte, sich selber und Europa zum Heile? Daß es wieder zurückfände zu jener Haltung, die man schon vor Jahrhunderten als die „österreichische Lindigkeit“ und die man auch noch vor wenigen Jahrzehnten in aller Welt als die „österreichische Liebenswürdigkeit“ gekannt und gepriesen hat?

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