Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
GOTTLIEB DUTTWEILER / ABSCHIED VON EINEM „UNBEQUEMEN“
Fördert unsere westliche Demokratie die Entwicklung starker schöpferischer Persönlichkeiten? Wer die graue Realität kennt, wird dies nicht leicht zu behaupten wagen. Parteiorganisationen, Massenparteien, die Cliquen und Klüngel, die je „ihre“ Leute in den Vordergrund schieben und die Positionen besetzen, haben ihr eigenes Ausleseverfahren: sie streben ein Mittelmaß an, die Zucht von Bäumen, die ihr eigenes Gehölz nicht überragen. Es gibt •eine Eifersucht in alten und jungen Demokratien, die nicht selten in harten Neid umschlägt. Von all dem könnte der eben in Zürich verstorbene Gottlieb Duttweiler ein Lied singen. Er hat es gesungen, dieser aufrechteste, eigenwilligste,' schöpferischeste Schweizer Bürger unserer Zeit: „Dutti“, wie ihn Freund und Feind naume.
Wie ein Winkelried konnte er kämpfen: der Freiheit eine Gasse. In alt-schweizerischem Zorn hat er sich einen Stein aus der Aare geholt, um eine Scheibe im Bundeshaus einzuschlagen. So stark entbrannte der Zorn in dem Manne, wenn er sich gehindert wußte, zu bauen, aufzubauen, zu schaffen.
„Die Demokratie hat kein Herz.“ Anatole France hat dies furchtbare Wort ausgesprochen. Die Demokratie liebt ihre schöpferischen Kinder nicht, besonders dann nicht, wenn sie sich in Politik und großes Geschäft mischen. Es gehört mit zur Ehre der Schweiz und zur inneren Kraft ihrer Demokratie, daß sie diesen unbequemen Schweizer schließlich dennoch „verkraftete“, ja mancherlei bauen ließ ...
Duttweiler, geboren 1888 in Zürich, Kaufmann in der Türkei, in Kleinasien, Italien, Spanien, Frankreich, von 1923 bis 1925 in Brasilien, gründete 1925 die Migros-AG. 1961 betrug der Umsatz der Migros-Läden mehr als eine Milliarde Schweizer Franken. Duttweiler schuf die ersten Selbstbedienungsläden in der Schweiz, dazu eine Reihe von Migros-Werken, die sich vom Lebensmittelhandel bis zu Erdölwerken erstrecken. Ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann also, der mit besten amerikanischen und deutschen Maßstäben zu messen ist? Gewiß. Duttweiler hat stets sorgfältig die fortschrittlichsten Entwicklungen in der Industrie und Wirtschaft Amerikas und Deutschlands studiert und noch auf seinem letzten Krankenbett sehr aufmerksam die Entwicklung in Rußland verfolgt. Hans Fleig notiert: bei einem privaten Besuch bei Duttweiler stellt er erstaunt fest, daß Duttweiler zu gleicher Zeit Casars „Gallischen Krieg“ und einen vertraulichen Bericht über die Entwicklung der amerikanischen Kühlschrankindustrie las und über beide Themen fachmännisch sprach. Diese kleine Episode macht aufmerksam: in diesem „demokratischen Kaufmann“ (wenn wir den „königlichen Kaufmann“ in diesem ersehen) steckt ein gesellschaftlicher, ein politischer, ein humaner Eros, der sich mit alten Chiffren, wie „Mäzen“, „Volksfreund“, „fortschrittlicher Geist“ nicht einfach abschildern läßt.
Gottlieb Duttweiler hat sich geschämt, daß seine Migros-Unter-nehmungen so viel Profit abwarfen. Er hat sie deshalb in eine Genossenschaft umgewandelt und Genossenschafteranteile in Spaghetti-und Nudelpakete verpackt. Duti-weiler hat sich geschämt, daß sein Volk, sein Schweizer Volk (wie die Völker dieser Welt) so wenig von sich und von der Welt weiß. Er hat deshalb ein riesiges Werk der Erwachsenenbildung geschaffen, Klubschulen für Erwachsene in Städten und Siedlungen und eine ganze Reihe kultureller Organisationen. Duttweiler hat sich ein Sprachrohr geschaffen in der Zeitung „Die Tat“ und eine politische Bewegung im „Landesring der Unabhängigen“. 24 Jahre war er eidgenössischer Parlamentarier, als Berner Nationalrat, zwei Jahre als Zürcher Ständerat. In ein Regierungsamt gelangte er nie, da sah die „Demokratie“ sich vor . ..
Über dem Leben großer Demokraten liegt oft ein Schatten von Tragik, von Unerfülltheit. So auch über dem Leben und Wirken dieses Mannes, wobei wir hier nicht seine Einseitigkeiten und Eigenwilligkeiten meinen, sondern das andere, tiefere: das Volk verwehrt sich dem, der ihm am meisten gibt, am stärksten, im Letzten. Duttweiler erstrebte im Letzten — als ein Vorbild weit über die Schweiz hinaus — die Schaffung einer freien Wirtschaft und die Bildung eines freien Volkes, das seiner reichen Potenzen und Kapitalien in würdigster und mitmenschlichster Form sich bedienen sollte.
Seine letzten Träume mögen sich mit den Wachträumen eines Mannes getroffen haben, der sehr anders war als der Gottlieb Duttweiler, der aber in der Vereinigung von Wirtschaftsdenken Politik und Bildung nicht weniger hoch zielte: Walther Rathenau. Den hat man in Deutschland getötet. Dem Duttweiler aber haben die Schweizer in den vier größten Kirchen Zürichs, im Fraumünster und im Großmünster, in der Wasserkirche und in St. Peter gleichzeitig „die Abdankung“ bereitet.
In einem Nachruf heißt es: „Mit Duttweiler hat die Schweiz ein wesentliches Vitamin verloren“. — Wir dürfen fragen: besitzt Österreich Vitamine dieser Art? Und wenn ja, dann: was fangen wir mit ihnen an?
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!