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Schnürlsamt und Sozialversicherung

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Gibt es in Wien noch eine Boheme? Oder sollte man besser nach jenem Hauch von Poesie fragen, der unsere Erinnerungen an eine stillere, romantischere Vergangenheit umgibt? Existiert noch diese von erhitzten Debatten und literarischen Aphorismen schwellende Treibhausluft, in der der Weltschmerz attraktiv und exklusiv und wie ein leises Raunen über die Kaffeehaustische strich und der misanthropische Zorn unter den Atelierdecken hing wie kalter Zigar- rettenrauch? Haben sie noch Platz in unserer Welt des Neonrausches und der ausverkauften Kinokassen, die mit dem stechenden Blick und hohlen Wangen; die Epiker des Tages, die Lyriker von Morgen, die Revolutionäre von gestern; die ünaufgeführten Dramatiker, die diskutierenden Schauspieler und die an das jeweils aktuelle Mißverständnis zwischen dem Publikum und den Galerien inbrünstig glaubenden Maler? Und ihre Mentoren: die Herren vom Leitartikel; die Habitues der Verkaufsgalerien und die Autoritäten vom Kunstessay und der Rezension?

Die Diagnose eines Lebenskonzepts, das dem sanft fortschrittlichen Wiener Milieu jener verklungenen Tage zugehörte, von denen .wir geneigt sind anzunehmen, daß sie wienerischer waren als der rauhere Wiener Alltag heute, muß sich auf die Erfahrung stützen, daß jede Zeit über die ihr gemäßen Zentren und Cliquen verfügt, in denen sich die Künste mit ihrer Klientel zu beredter oder stummer, Bedeutsames oder Steriles hervorbringender Aussprache zusammenfinden, v/obei nur das Dekorum wechselt, und daß die Boheme seit eh und je untereinander uneins war, wer eigentlich wirklich dazugehört: Ob diejenigen, die ihr den in den Literaturführern späterer Zeiten nachzulesenden Namen gaben, oder die, die namenlos ihren Hunger beisteuerten. Woraus einerseits die Gewißheit abzuleiten wäre, daß in den Bezirken des Wiener Kulturlebens (oder Kulturbetriebes, um sich, zeitgemäßer auszudrücken) eine Art von Bohemiens nach wie vor Zu finden ist, zweitens aber die Schwierigkeit, sie richtig einzuschätzen.

Denn es ist ebenso fraglich, ob Hofmannsthal oder Schnitzler oder Klimt, wiewohl sie zweifellos viel im Kaffeehaus saßen, im engeren Sinn „Bohemiens“ waren, wie es auch gar nicht sicher ist, ob sie es, wenn sie heute lebten, in ebendemselben Maße wären, wie man es von ihnen gemeinhin anzunehmen bereit ist. So ist es denn auch (die geistige Kapazität beeinflußt die Zugehörigkeit zur Boheme keinesfalls) höchst unsicher, ob Csokor oder Qualtinger, Torberg oder Doderer, Moldovas oder Weigel, Leruet-Holeuia oder Wotruba die Boheme unserer Gegenwart repräsentieren oder ausschließlich die schüttere Anzahl jüngerer Literaten mit Zusanek und EiseureicU und Kühuelt an der Spitze und die abstrakten Maler um Ernst Fuchs.

II.

Wer immer aber nun dazugehören mag (und man ist geneigt, vor allen Dingen die weniger Prominenten und in dürftigen Verhältnissen Lebenden mit der Boheme zu identifizieren, wodurch der Kreis der „Echten“ beträchtlich zusammenschmilzt): Der althergebrachte Begriff „Boheme“ mit seinem lęicht verwitterten Geruch von schadhaftem Plüsch und dem intellektuellen Anstrich eines etwas morbiden künstlerischfreigeistigen Gehabens scheint nicht nur im Hinblick auf Dekoration und Zeitkolorit außer Mode geraten zu sein; es deutet vieles darauf hin, daß der Zahn der Zeit den wesentlichen Gehalt und die Voraussetzungen der klassischen Boheme unterhöhlt und ihre Spielregeln zu einer äußerlichen, extravaganten und nutzlosen Geste wehmütiger Reminiszenzen abgeurteilt hat.

Es ist kein Geheimnis: Die Zeiten des „Central“ und des „Herrenhof“ sind vorüber, die Tarockpartien Alfred Polgars und Peter Altenbergs sind gewesen, und man verhungert nicht mehr am hellichten Tage, wie es Ottfried Krzyzanowsky getan hat. Den Platz der jungen Lyriker von einst haben, ohne daß dabei für die Lyrik etwas herausgeschaut hätte, der zeitbedingten Vergreisung ihres Metiers zufolge, ältere Lyriker eingenommen, die unaufgeführten Dramatiker haben sich, ohne daß am Theater viel davon zu bemerken gewesen wäre, in eine Generation aufgeführter Dramatiker verwandelt, die Schauspieler haben unlängst in ihrer Gewerkschaft das Recht auf Unkündbarkeit und die materielle Sicherheit von vierzehn Monatsgehältern gefordert — und scheiden infolgedessen aus dem Kreis der kulturellen Taglöhner ganz entschieden aus. Nur die Maler, immer schon Eckpfeiler aller Separation, halten noch die Stellung und wahren ein existenzialistisches Dekorum — aber sie haben keine Chronisten mehr, die ihre Symposien literarisch verwerten, denn die Literaten haben sich, sofern sie schreiben können, empfohlen. Sie sind am gründlichsten korrumpiert worden: vom Radio, von der Gaggia-Maschine, vom Fernsehen, vom Fernschreiber. Die Literatur der Heutigen wird durch den Telephondraht gejagt, die Aphorismen werden auf Schallplatten aufgenommen, das Feuilleton schnellt unsichtbar durch den Aether.

Man trifft sich zwar noch da und dort: Im Cafe „Raimund“, im Cafe „Havelka", bei den Vernissagen der Galerie St. Stephan; man kann sehr exklusiv und dem literarischen Brettl zugewendet im „Torberg-Stüberl" in der „Marietta-Bar“ verkehren, einen Journalisten- und Künstlerstammtisch gibt es im „Cafe 3lt“ im siebenten Bezirk — und wenn man genau den Zug der vazierenden Avantgarde-Grüppchen studiert, mag man noch hin und wieder' ein paar verstreute Ueberreste aus den großen Tagen des „Strohkoffers“ im Kärntnerdurchgang, dem einstigen Hauptquartier des 1945 mit viel Optimismus gegründeten und 1954 mit ebensoviel Ueberdruß aufgelassenen Art-Club begegnen: sei’s im „Glory“ nächst der Universität, das aber auch nicht mehr en vogue ist, sei’s in der von ausländischen Touristen mehr als von Künstlern besuchten „Adebar“. Aber irgend etwas stimmt nicht mehr, es ist kein „echter Geist" dahinter. Das bürgerliche Zivil herrscht in auffallender Weise vor und blickt mit kaum verhüllter Herablassung auf die Kollegenschaft im Rollkragenpullover und Blue-jeans herab, die mit größerer Hingabe bei der Sache ist und die w ederum mit unverhüllter Verachtung den Zweireiher in ihren Reihen mustert.

Die Debatten sind erlahmt, die kulturellen Anliegen sind numeriert, sie sind nicht mehr Objekt der Auseinandersetzung, man kennt sie schon, und es genügt, sie anzudeuten. Die Gespräche kreisen um die Technik des Hörspiels, den Cliquentratsch, die fetten deutschen Hono rare und die Autonummern der Minister. Der ergiebigste Gesprächsstoff ist der Burgtheaterdirektor, die Aventiuren der Romy Schneider, und bestenfalls findet sich einer, der ohne viel Ueberzeugungskraft für oder gegen die „Strukturellen“ ist.

III.

Und die Substanz? Vegetiert dahin zwischen einem Dutzend undurchsichtiger geistiger Fronten, ist Spielball der allgemeinen inneren Konfusion, taumelt zwischen den Wunschträumen vom Individualismus und den Alpträumen vom Kollektiv umher — und ist somit, und das ist das einzige, was sich mit Bestimmtheit von der heutigen Boheme sagen läßt, zutiefst europäisch. Nur daß sie eben früher irgendwo an den Spitzenfronten Europas lag — jetzt ist sic Europas Appendix, über den innerhalb der letzten fünfzig Jahre allzuviel hereingebrochen ist: der Impressionismus, das „Abendblatt“, die Psychoanalyse, die Gestapo und der Espresso-nismus.

Aber was ist das alles: Der Wurm sitzt tiefer — nämlich außerhalb und unbeeinflußbar von der Boheme. Sie ist weder so populär wie einst noch so arm. Was einmal Triebfeder und im Psychologischen begründetes Motiv war — das Anpassen an einen Lebensstil der Beschrän-

kung, in der die äußere Not der materiellen Unfreiheit mit einer düster aufrechten, martialischen Tugend der inneren Freiheit und Frei-

geistigkeit gegenüber der saturierten Gesellschaft quittiert worden ist, ist überholt, überrumpelt, gilt nicht mehr in unseren Tagen der rationellen Arbeit und kollektiven- Versorgung.

Die Armut ist nicht mehr Ausdruck einer Lebensform und ist infolgedessen nicht mehr literarisch; die Armut ist nur noch eine Lücke in den Sozialgesetzen, und der individuellen Distanzierung und intellektuellen Eigenbrötlerei begegnet die neue öffentliche Meinung mit Abneigung und Mißtrauen. Freilich gibt es not- leidende Künstler, es wird sie immer geben, aber sie genießen keinen Vorrang mehr unter den sozial Benachteiligten der Gesellschaft. Man empfindet sie ebenso wenig bohemien, wie man etwa ihre kahlen, kalten, dürftigen Behausungen nicht mehr mit den Augen der Romantik, sondern nur noch als Symptom der allgemeinen Wohnungsnot betrachtet, der sich jeder, der geschickt ist, über kurz oder lang in eine Gemeindewohnung entziehen kann.

Es gibt notleidende Künstler, gewiß, aber ihr Anblick ruft nicht mehr jene schwärmerische Sympathie hervor, die einerseits Ausdruck des halbbewußten Unbehagens und nagenden Gewissens ,war (das.i(jie patriarchalische Wohlhabenheit der Gründerjahre angesichts der vogelfreien Not ganz allgemein empfand), anderseits war es Geste eines persönlichen, privatmäzenischen Interesses. Die Saturierten unserer Tage zahlen pünktlich ihre genormten Sozialabgaben und betrachten den notleidenden Künstler verhältnismäßig ungerührt in dem Bewußtsein ohnehin getaner Pflicht, die sie von jeglichem persönlichen Verkehr mit der Kunst weitgehend entbindet — denn die Förderung der Künste wurde dem Staat übergeben. Er hat die Musenjünger zu ernähren und für ihre standesgemäße Kleidung zu sorgen — und wenn er es in diesem oder jenen Fall verabsäumt, mag der zuständige Kulturamtsreferent versagt haben (was aber niemanden über Gebühr erregt, da gibt es wichtigere Pannen zu besprechen), oder aber (und das nimmt man im speziellen Fall gerne als wahrscheinlicher an) der Mann ist selber schuld, wahrscheinlich malt er schlecht oder schreibt er zuwenig, ein asoziales Individuum halt, dem nicht zu helfen und ohnehin (schon des struppigen Bartes wegen) nicht über den Weg zu trauen ist.

IV.

Es gilt, wer etwas leistet in unserer auf Angebot und Nachfrage eingestellten Welt, und die Leistung drückt sich heutzutage im Wohlstand aus, darüber gibt es für niemanden auch nur den geringsten Zweifel. Der anerkannte Künstler unserer kulturkonsumfreudigen Gegenwart zeichnet sich mit dem Ausweis eines Autos aus, an dessen Größe die Größe seiner Leistung jederzeit gemessen werden kann. Und die Unerkannten? Gibt es nicht in den Kulturgesetzstatuten der modernen Völker, darf es nicht geben und gibt es auch de facto nicht: das bescheidenste Talent wird aufgespürt und dem Rundfunk und Film zugeführt, damit es dort seine staatsbürgerliche Pflicht erfülle.

Da gibt es schließlich nur noch die Zornigen, die Eigenwilligen, die, die aus Protest gegen den Zeitgeist im Stübchen leben: Die Bürger können ihnen getrost, auch wenn ihnen eine Zeitung der spartanische Geist einer modernen Avantgarde vorexerziert wird, mit einem Augenzwinkern begegnen. Man hat seine Erfahrungen mit ihnen: nichts auf dieser Welt ist leichter zu beschwichtigen als ihr Weltschmerz mit ausreichenden Tantiemen! John Osborne, der literarische young angry man von England, der mitseinen Stücken zwei Kontinente erschreckte, beteuerte vor zwei Jahren, als er noch in einem Hausboot an der Themse wohnte, daß er alle Leute, die keine Sandalen tragen, unheimlich finde. Heute, nachdem sein „Blick zurück im Zorn" verfilmt worden ist, stehen ein amerikanischer Straßenkreuzer und ein fashionabler englischer Sportwagen in der Garage seiner Luxusvilla.

Ein kleines Wiener Beispiel liefert der eminent begabte H. C. Artinam. Vor kurzem noch saß er, ein selbstquälerischer, mit der Sprache ex perimentierender Geist und ungekrönter König der Nachkriegsboheme, im „Glory“, und hegte gegen den als Todsünde verpönten „Utilitarismus“ ein scharfes Mißtrauen. Neuerdings wird seine populär gewordene „schwoazze tintn“ auf Platten aufgenommen und ins Berlinerische „übersetzt". Noch hält er sich tapfer, besitzt vorläufig erst einen eleganten grauen Einreiher; aber auch H. C. A. wird fallen, der aufrechte Baum, sie werden ihn schon noch kleinkriegen!

Folge all dessen; Man nimmt sie hin, die bohemienen Revoluzzer, beachtet sie und läßt sie bis zu ihrem geistigen Verstummen angenehm im Wohlstand leben oder man geht vorüber und begibt sich auf einen „Schwoazzn" ins „Sacher", um dort einen Blick auf einen .'rominenten Filmstar zu werfen.

Die Boheme hat keine Interessenten mehr.

Was aber ist schon die Boheme ohne Publikum? Ein romantischer Film. ohne Zuschauer, eine altmodische Operette vor tauben Ohren, ein Problemtheater ohne Galerie, eine Menagerie, ohne das erschreckt-erstaunte Leuchten in den Augen von Kindern.

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