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Das Kellertheater und die Maschine

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I.

Was hier beschrieben wird, trägt sich zu Bonn am Rheine zu. Es hat sich nicht etwa zugetragen, sondern es trägt sich jetzt, eben, in dieser Stunde zu und wird sich weiter zutragen. Es könnte sich aber auch irgendwo anders im Abendland zutragen. Vielleicht in Wien oder in Salzburg oder in Innsbruck. „Herr, ich danke dir, daß ich nicht so bin wie die anderen, zum Beispiel dieser Zöllner da.“

Bonn, wie gesagt, gibt es mitten in der Stadt einen geräumigen Keller. Im Vorraum ist ein Nachtlokal, dessen burschikos, bohemienhafte Existentialisten- draperie nicht über das Existenzmaximum seiner Preise hinwegtäuschen kann. Dahinter liegt ein großes saalartiges Gemach. An seinen Seitenfronten sind Holzbänke errichtet. In der Mitte stehen Holzmöbel, die eine Szene andeuten. Täglich um acht Uhr, zuweilen auch nachmittags, löschen die Lichter, und nach einem Augenblick schweigender Sammlung beginnt das Theaterspiel. Aber was für ein Theaterspiel! Wir haben seit Jahr und Tag einige sehr wesentliche Theaterabende . erlebt, Aufführungen, die vollendeter waren in artistischer Kunst, in auswägender Regie, in darstellerischer Reife, aber wir müssen weit zurückdenken, bis zu Barlogs „Prozeß"-Auf- führung in Berlin oder Fehlings „Dona Rosita“ in München, um uns einer solchen Dichte des schauspielerischen Erlebnisses, einer solchen bannenden Kraft zu entsinnen, wie es diese neun, zum Teil sehr jungen Menschen zuwege bringen. Sie nennen sich „Contra-Kreis“ und sind geprägt von der Persönlichkeit ihres Prinzipals: Kurt Hoffmann. (Ein Künstler von solchen Gnaden plagt sich in einem Keller und spielt auf Teilung um ein Existenzminimum, während … aber schweigen wir.) Sie spielen Syberbergs „Jossip und Joana", eine Auseinandersetzung um das Bestehen des Christen vor dem Letzten, sie spielen aber auch, und noch viel schöner, Henri Ghėons „Zigeunerweihnachten“, ein Stück, das die scheußlichen Kitschfabrikate von Weihnachtsmärchen, die unsere Bühnen heute noch unsicher machen, mit einem Hauch wegfegen könnte, wenn es einmal ein wohlbestallter Herr Dramaturgus entdecken würde … Und nachher kommt Kurt Hoffmann, der bei der Aufführung von „Jossip und Joana“ in der Gestalt eines Sowjetkommissars ein Erlebnis von so atemberaubender Echtheit des Stalinismus zeichnete, daß man die Zerrbilder östlicher, aber auch bemüht westlicher Propaganda glücklich vergißt und diskutiert mit den völlig unbekannten Zuhörern, Abend für Abend, oft bis lange nach Mitternacht. Am nächsten Morgen ist dann wieder Probe, für dieselben Menschen. Es sei denn, einer von ihnen hat eben einmal eine Chance, irgendwo ein paar Mark zusätzlich zu verdienen. Dann proben die anderen eben ihm zuliebe nach Mitternacht bis fünf Uhr früh!

II.

Aber: wir wollen hier keine Theaterkritik und schon gar keine Lokalreportage schreiben. Es gibt da nämlich noch etwas anderes: mitten in die zarteste Liebeszene, mitten in die Anbetung der Hirten hinein, erhebt sich Abend für Abend ein Geräusch, das penetrant anhält. Rrumm, rrumm, rrumm. Daneben geht eine Maschine. Sie könnte wie jede andere Druckmaschine auch ohne Schaden eine kleine Stunde vorher oder nachher gehen. Jeder Drucktechniker wird uns das bestätigen. Man könnte die Korrektur, das Präparieren der Matrizen durch die organisatorische Denkanstrengung von fünf Minuten ein klein wenig anders einteilen. Und die Druckmaschine, es sei verraten, daß sie die Zeitung einer recht angesehenen Besatzungsmacht in Deutschland darstellt, würde ihre gewiß notwendige Stimme ein paar Minuten nach Moliere, Ghėon, Lope de Vega erheben. Aber man kann eben nicht. Abend für Abend das gleiche. Wer einmal auf der Bühne gestanden hat, weiß, was das für Schauspieler und Regisseur bedeutet. »Rrumm, rrumm, rrumm.“ Immer wieder waren die Künstler bei dem gewiß sehr ehrenwerten Druckereidirektor, beim Inhaber. Es hat nichts genützt. Es wird vermutlich auch nichts nützen, wenn wir uns in Wien, einige tausend Kilometer entfernt, darüber aufhalten. Und also wäre dieser Artikel ein müßiges Geschwätz?! Ich glaube: nein. Denn dieser Bonner Keller ist nur ein Symbol, stellvertretend für Dinge, die, vermindert oder verstärkt, heute und jetzt geschehen und morgen geschehen werden. Er zeigt nichts anderes als die gänzliche Fremdheit, die heute zwischen den Sphären des menschlichen und gesellschaftlichen Daseins besteht. Wir sagen nicht einmal anmaßend-snobistisch: zwischen der höheren Welt des Künstlers und der ach so jämmerlichen Welt der Industrie und des Gewerbes. Wir denken es nicht einmal.

Denn wir halten dafür, daß die Welt des bürgerlichen Gewerbefleißes, der geschäftlichen Sauberkeit und des wertschaffenden Handwerks nach göttlichem und menschlichem Recht auf anderer (nicht auf tieferer Ebene) dieselbe Werthaftigkeit besitzt wie das Schaffen und Nachschaffen des Künstlers. (Ein „Geschäft" nannte es der nicht ganz unzuständige Herr von Goethe.)

Fragwürdig der Bohemien, der die sinnvolle Bedeutung des echten Bürgertums überheblich leugnet! Aber: all diese Schichten sind in einem gesunden Gemeinwesen aufeinander hingeordnet, wie in jedem echten Organismus. Wie aber sieht das heute aus? (Und nicht nur im Keller zu Bonn!) Soll man advokatorisch von dem „bösen“ Kapitalisten sprechen, der seine Maschine laufen läßt, weil er ein Banause ist und keinen Sinn für die Künstler hat? Nichts läppischer und wirkungsloser als das! Aber man kann anders fragen: Hat es nicht vor einer, vor zwei Generationen noch eine breite Schicht des Bürgertums gegeben, die nicht nur die Maschinen nicht laufen ließ, sondern die ein echtes Mäzenatentum, nicht nur für den Modepianisten oder das süße Ballettmädel, pflegte, die, wie etwa Deutsche und Juden (ja: Juden), in Prag das Deutsche Theater erhielten, die einen echten Nährboden der schaffenden und der nachschaffenden Kunst bildeten? Der Marxist wird jetzt triumphierend mit der Zahlenakrobatik ökonomischer Entwicklungsberechnungen kommen und … nichts erklären. Denn wenn, wie Karl Marx behauptet, das ökonomische Sein das Bewußtsein bestimmt, wie verhält es sich dann mit jener in der Bundesrepublik schon wieder sehr starken Schicht der Kaufleute und Gewerbe? treibenden, ganz zu schweigen von In-

dustrie und Finanzwelt, die, zeitgemäß modifiziert, in den gleichen gesicherten, wohlständlichen Lebensverhältnissen lebt wie ihre weiland Väter und die eben nicht mehr die Verpflichtung fühlt, den Atem anzuhalten, wenn es um die Kunst geht. Nicht weil sie unreif und parvenü- haft den Star verhimmeln, sondern weil sie ahnen und wissen, daß es um die gemeinsamen Lebensgrundlagen der Menschheit geht, die weit hinter oder vor allen ökonomischen oder politischen Sonderungen liegen. Daß hier unsere, meine und deine Sache abgehandelt wird, wenn echtes Theater gespielt wird. Und echtes Theater gibt es nicht nur bei irgendwelchen pompösen Festspielen oder Stagiönemaskeraden, sondern echtes Theater wird dort äbgehandelt, wo sich ihm Menschen mit Haut und Haar verschrieben haben, denen der innere Funke nicht etwa die artistische Meisterschaft, sondern den harten, übermenschlichen Fleiß verleiht, aus einem kleinen Talent ein großes herauszuarbeiten. Sage keiner, daß ihm dafür die ästhetischen Maßstäbe fehlen. Hier entscheidet Instinkt und Klugheit des Herzens in erster und letzter Instanz. Jede Erklärung versagt also, es sei denn die eine, völlig pessimistische: es wird halt immer schlimmer!

III.

Und mit der können wir uns ja kaum zufrieden geben. Zudem wird es nicht immer schlimmer. Es hat auch schon viel schlechtere Zeiten gegeben. Und man hat damals, als die absoluten Fürsten und Landesväter den Feuerschluckern und Hosenherunterlassern, oder als Friedrich der Einzige seinen Jagdhunden den Vorrang vor den teutschen Comedianten gaben, auch Mittel und Wege gefunden, die Zeiten besser zu machen. Nicht zuletzt die Ahnherren jenes Bürgertums, die unter anderem auch für die Freiheit und Achtung des Geistes und der Kunst auf Barrikaden stiegen, die, sehr stabil und sicher von hochachtbaren Handwerkern erbaut, von Studenten und Künstlern verteidigt und von Bürger- und Künstlerblut gerötet wurden. Und es ist nicht bekannt geworden, daß diese Ehe einem der beiden Teile schlecht bekommen ist. Es hat keinen Sinn, nach dem Kadi oder näch der Presse zu rufen, wenn es um die Überbrückung dieses Abgrundes geht, ohne die es zu keiner echten Kultur in deutschen Landen kommen wird. Denn jede echte Kultur wächst in einer echten Gesellschaft. Sie wird nicht von ihr automatisch produziert, wie sich das die alten Marxisten vorstellten, oder gar von ihr kommandiert, wie es ihre jungen Stalin-Enkel sehen möchten, sondern sie wird von ihr getragen.

Die Selbstverständigung der Menschen, die heute in einem Boote sitzen, muß den Anfang machen. Die Welt, die wir verteidigen und in der es sich zu leben lohnt, ist eine bürgerliche. Wir lassen uns von Herrn Marx diesen Begriff nicht einengen, denn wir wissen, was er in seinem Ursinn bedeutet. Wir wissen, daß am Anfang des großen mitteleuropäischen Reiches in seiner heute noch wirksamen Kulturkraft das Bürgertum der Städte, die dem römischen Kaiser unmittelbar unterstanden, da war. Daß Fürsten, Schranzen, Demagogen, Parteileute, Journaille und Manager wesentlich später kamen. Und daß wir auf ihre Spuren in unserem Stammbuch verzichten könnten, wenn sie nicht hier und da einmal instinktiv einen Künstler entdeckt hätten. Und wir glauben an dieses echte Bündnis: zwischen dem Geist und der Druckmaschine, zwischen Hutten und Gutenberg. Wir glauben daran, daß die beiden zusammengehören, der redlich schuftende Künstler und der genau so redlich schuftende Handwerker. Nicht in einer .Front“ nazi-faschistischen Andenkens, nicht in einem Kulturbund bolschewistischer Provenienz, sondern in einem echten, den wohlverstandenen Nutzen beider achtenden Bündnis. Und wir glauben, daß eine Zeit kommen wird, in der einer und der andere sich selbst erkennen und damit den anderen würdigen wird. Wir glauben an den letzten Akt der „Meistersinger“. Und auch an Hans Sachsens poetische Sendung. Und an den Kaufmannssohn Goethe.

… und an die Möglichkeit eines erneuten Gesprächs zwischen dem Buchdrucker und dem Theatermann. Ohne die Vermittlung eines beamteten Kulturbetreuers. Den wird dann ohnedies der Teufel holen!

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