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Italienisches Melodrama

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Bologna, Anfang Februar.

Seit dem Ende des Weltkrieges ist Italien aas den Manifestationen des politischen Radikalismus nicht herausgekommen. Alle Spielarten des Terrors, gewagter Wirtschaftsund Sozialexperimente, eine skrupellose Radikalisierung der Jugend und die Verhetzung der leicht beweglichen Massen haben das Land vergiftet. Unter der für den Mitteleuropäer unvorstellbar glänzenden Oberfläche einer inselhaften Prosperity herrscht der Terror, existiert noch ein bis zur Ausrottungsphantasie blinder Klassenhaß; ein utopisch planloser Anarchismus grenzt unmittelbar an ein rückständiges Feudalsystem; neben amerikanisiertem Nachkriegsbetrieb der Zentren, steht der homerisch patriarchalische Lebensstil der italienischen Provinz. Und diese sozialen Extreme sind durch keine nennenswerte soziale Mittelschicht getrennt.

Den starken Spannungen ist der entwurzelte Organismus dieser janusköpfigen Epoche nicht mehr gewachsen. Die Symptome dieser Krise reichen von den politischen Mordwellen der Emilia, deren Opfer nach Tausenden zählen, über die schon zur Gewohnheit gewordene, nicht abreißende Kette demagogischer Streiks, über eine sich überschlagende Kriminalität, Menschenhandel und Banditismus zum überorganisierten Schwarzhandel, der durch die offene Demonstration eines scheinbaren, absurden Überflusses der Masse ihre Entbehrungen noch unerträglicher erscheinen läßt. So wird der politische Kampf von Monat zu Monat klässenkämpferischer und materialistischer. Deutlich zeigt dies die vor kurzem noch undenkbare Gleichgültigkeit der Massen gegenüber der Abdankung des Hauses S a v o y e n und der immerbösartiger werdende Angriff gegen die Kirche. Das Leben ist turbulent geworden. Jedwedes Mißvergnügen wird zum Politi-^ kum. Das Vertrauen in den Wert des Geldes und selbst der Realwerte ist minimal, der Plan einer außerordentlich weitgehenden Sozialisierung hängt ständig als Damoklesschwert über den Realwerten.

Aber nicht weniger augenfällig ist die Unsicherheit an Leib und Leben, die von der Justiz der Straße droht. Die zahlreichen Opfer des politisch getarnten Banditismus sind unerheblich gegen die Hunderttausende, die der organisierten und zügellosen' Lynchjustiz und den zahlreichen Varianten revolutionärer Tribunale zum Opfer gefallen sind und deren Zahl die aktiven Faschisten der republikanischen Mussolinizeit erheblich übersteigt. Noch ist es in frischer Erinnerung, wie diese „ Richter“ ihr fragwürdiges Recht sprachen, dessen einziger Schein von Legalität in der bunten Armbinde oder Kokarde bestand, die sie sich selbstherrlich verliehen hatten. Ihre ungezählten Todesurteile wurden von den freiwilligen Henkern durchaus für legal genommen, denn ihr überzeugendstes Argument war das „A morte!“ einer rasenden lynchlustigen Menge. Noch hat der italienische Bürger dieses Geschrei, noch hat er das Knattern der darauffolgenden Salven in den Ohren und noch immer ist der Fanatismus im Ansteigen und sieht der Mann aus dem Volke ohne viel Phantasie ähnliche Ereignisse sich aufs neue vorbereiten. Der italienische Bauer geht heute in den terrorheimgesuchten Provinzen bewaffnet aufs Feld und verbarrikadiert sich des Nachts in seinem Hof. Der Städter geht mit der Gewandheit eines Frontsoldaten in Deckung, wenn er die Sirenen der Blitzkommandos der Polizei hört, denn selbst bei Tag sind in den Großstädten Feuergefechte mit der so beliebten „Mitra“ zwischen Fahrzeugen von Gangstern und Polizei keine Seltenheit.

In diesem mehr als ungemütlichen, öffentlichen Milieu ist die „Front des U o m o Q u a 1 u n q u e“, des italienischen „Jedermanns“, entstanden. Und immer noch ist diese seltsame Front im Süden und auch im Norden des Staates im Anwachsen.

Wohl über keine Parteigründung der Nachkriegszeit ist im Ausland soviel Zwielicht gebreitet, als um diese junge Partei, ihre Anhänger und Ziele. — Die außerhalb Italiens verbreitetste Meinung kommt der seiner schärfsten linksradikalen italienischen Gegner am nächsten, die im Qualunquismus einen vorderhand noch verbesserten Neofaschismus erblicken wollen, eine Partei, die durch skrupelloseste Kritik an allem wahllos Unzufriedene sammle. So warte diese Partei, durch eine geschickt dosierte, liberale Mimikry für die demokratische Gegenwart tolerabel gemacht, auf den großen wirtschaftlichen Zusammenbruch, der als stumme Drohung über dem allzu raschen Erblühen des fragilen italienischen „Wirtschaftswunders“ schwebt. Der Abzug der Alliierten sei dann ihre Stunde, um als kompakter Block des unentwegten Faschismus und der Reaktion zur Diktatur zu gelangen. Daß diese dramatische Version von den Freunden von Sensationen eher akzeptiert wird als die aus ihrem Programm ableitbare ist verständlich. Dieses Programm, mit dessen Hilfe der Parteigründer Italien aus dieser, nur mit den gefährlichsten seiner Geschichte vergleichbaren moralischen und sozialen Krisen zu führen verspricht, ist nämlich mit Abstand das weitgehendst demokratische, ultraliberalste unter allen politischen Programmen, das um die Palme dieser so aktuellen Attribute sich finden läßt.

Bekannlich ist diese Partei aus einer Zeitung entstanden: dem „Qualunque“ und bei dessen Erscheinen hat man in Italien viel darüber gelacht, daß brotlose Theaterleute sich auf die Presse stürzen und es mit der Politik versuchen. Der Gründer des Qualunque, Giannini und sein Generalsekretär Onn. T i e r i, sind beide alte Theaterleute. Und noch mehr hat man gelacht, als aus dieser Zeitung eine Partei werden wollte, die nicht mehr Programmpunkte hatte und nicht weniger verschwommene Grundsätze, als die Zeitung. Aber dieses Lachen ist denen in Hen anderen Parteilagern, die den Qualunquismus nur als das politische Gaukelspiel wildgewordener Komödianten glossierten, zusehends vergangen. Giannini ist heute zu einer nicht übersehbaren politischen Realität geworden. Merkwürdig genug:

Inmitten der düsteren Szenerie des heutigen Italiens erscheint Guglielmo Giannini dem italienischen Volke in seiner Bonhomie und vorgetragenen Überlegenheit, in seiner Sicherheit und Ironie als der Garant des Happy-End zu dem unheimlichen Melodrama des Landes. Giannini hat in dieser scheinbar entfesselten Welt die Macht des „Buon senzo“, des gesunden Menschenverstandes, der dem italienischen einfachem Manne in so hohem Maße eigen ist, erkannt. Während seine ganze politische Umwelt hetzt und tobt, protestiert und beschwört — lacht Giannini.

Nichts ist aufschlußreicher, a.k nach ' einigen politischen Massenkundgebungen mit ihrer unheilschwangeren Gewitterstimmung zu einer Versammlung des „Qualunque“ zu gehen. Statt der erregten hysterischen Hochspannung, die langsam zur offiziellen Politik zu gehören scheint, sieht man hier auf einmal ein ironisdies Amüsiertsein, eine schmunzelnde Überlegenheit, als das Produkt einer woh1arrangierten Massensuggestion. Hier ist es die psychologische Routine des alten Theatermannes, der sich seines treffsicheren Humors genau so geschickt als Waffe bedient, wie seines beruhigend bourgeoisen Habitus, der ihn, dem Durchschnittsitaliener, als den gemütlichen Onkel aus Amerika erscheinen läßt. Breitspurig und dick, die Hände in den Taschen und ein Monokel ins Auge geklemmt, steht dieser unerschütterliche Koloß vor seinen Masseriversammlungen: er schnappt begierig jeden Einwurf auf, um ihm schlagfertig mit funkelnder Parade zu begegnen. Der Zuhörer hat den Eindruck, daß man hier über die Aktualitäten plaudert und hier selbst die Hiobsbotschaften schnell ihre Schrecken verlieren. Man unterhält sich königlich, denn Giannini ist der amüsanteste Conferencier, der sich denken läßt. So werden die Probleme vor dem Zuhörer mit einem legeren Humor ausgebreitet und dann wird ihnen mit der klinischen Ironie des gewitzten Psychiaters zu Leibe gerückt, um den ausweglos scheinenden Fanatismus der Gegner zu erledigen. Gianninis Lösung ist dann auf einmal von selber da, ein Ei des Kolumbus, das alle zusammen gefunden zu haben glauben, und die Masse reagiert mit jener wohligen Überlegenheit, die immer eintritt, wenn einem gerade ein Stein vom Herzen fällt. Diese Atmosphäre ist ansteckend im meridionalem Klima, in dem ein treffender Situationswitz das von der Lynchjustiz j erkorene Opfer im Handumdrehen zum Helden des Tages machen kann. So erreicht Giannini mit seinem sehr dehnbaren, weitmaschigen Programm seine kaum erklärbaren Erfolge.

Nur an ihn als letzte Instanz gebunden, läßt sich der Qualunquismus im Süden recht anders an als im Norden. Denn, was man in Neapel unter buon senzo versteht, ist, weiß der Himmel, nicht das gleiche wie in Mailand. Diese Beweglichkeit wurde im organisatorischen Aufbau der Partei durch die weitgehende Unabhängikeit der Pro-vinzialkomitees von der römischen Leitung eingebaut. Giannini gibt die große Richtlinie und das Material zur Argumentation, den Text zu der Melodie machen sich dann die Provinzen selber. Zu diesem Zweck hat Giannini ein Studienkomitee eingesetzt, das sich aus tüchtigen Fachleuten zusammensetzt: Soziologen, Juristen, Technikern, Volkswirten, Ärzten und Journalisten, die alle aktuellen Probleme ausarbeiten, bevor Giannini sein neues Projekt lanciert, eine Methode, die ihm den Respekt sichert, der nach uralter heimischer Tradition gerade bei der „Bassa Plebbe“ der Wissenschaft entgegengebracht wird. Seine Künste nützt der Qualunquismus aufs Gründlichste aus. Es wird alles angegriffen und -jeder, nur vor der Kirche macht Giannini halt. Der Regierung wirft er, der selbst Freidenker war, Lauheit in Glaubensfragen, schwächliche Kompromißlerei mit den Linksparteien vor. Er weiß sehr gut, daß seine Partei als extrem liberale Partei keinen beträchtlichen Zulauf von seiten der radikalen Linken zu erwarten hat. Er sieht in dem Lager der „Demochristiani“, der Christlichen Volkspartei Degasperis, sein großes Stimmenreservoir, und es ist wirklich geschehen, daß, mißgestimmt durch die zahlreichen Fehlschlage der Nachkriegszeit, auch aus den Reihen des italienischen Klerus nicht wenige zu Giannini gegangen sind. In Wirklichkeit gibt es eine einzige wirkliche Bindung, die den Qualunquismus festlegt. Seine Linie ist ein Konservativismus, der ihm automatisch die „Gente per bene“, die „Gesellschaft“, das gehobene Bürgerund Beamtentum, die Gutsbesitzer und ländlichen Honoratioren gewinnt. Diesen Schichten folgen zahlreiche Bauern und Handwerker, Angestellte und Arbeiter. Daß dem Industrie- und Bankkapital der schrankenlose Wirtschaftsliberalismus Gianninis gut zu Gesicht steht, ist erklärlich. Weniger, sagt diese Programmrichtung den ausgepowerten kleinen Leuten zu. Aber solche Bedenken machen Giannini wenig Kopfzerbrechen. Planwirtschaft, sagt er ihnen, hat es in den faschistischen Staaten gegeben und gibt es auch in Rußland. Absoluten Wirtschaftsliberalismus gibt es nur in Amerika, und Amerika ist für den Durchschnittsitaliener das gelobte Land. So braucht Giannini sich nicht mit wirtschaftlichen Doktorfragen zu plagen und überläßt diese Sorgen seinen Gegnern, die das Malheur haben, an der Regierung zu sein'.

Nun wirft man sich hierzulande gegenseitig Faschismus vor, ohne sich damit allerdings sehr weh zu tun, denn dieser Kampf geht nicht um die Extreme, gekämpft wird um den unentschlossenen kleinen Mann der Mitte. Daß der Qualunquismus seine größten Erfolge im Süden hat, ist viel weniger dem zuzuschreiben, daß dorthin die Faschisten und Kriegsverbrecher vor der rigoroseren Justiz des Nordens geflohen sind und hier, wie ihm gerne vorgeworfen wird, einen erheblichen Zuzug fü: den Qualunque darstellen, sondern dem, daß das südliche traditionsreiche, patriotische, religiöse Alt-Italien stärker als der Norden zu dieser seltsamen Bewegung inkliniert. Im Norden ist man skeptischer und deshalb appelliert dort der Qualunquismus nicht an Instinkte, gegen die man mißtrauisch geworden ist. Hier ist es eher die Entschiedenheit, mit der er den Streiks entgegentritt, die ihn populär macht.

Das Bild des heutigen Italiens wäre allerdings nicht vollständig, wenn auf seiner Bühne diese Erscheinung fehlen würde: eine Art italienischer „Lieber Augustin“ in einer Zeit der Massenerkrankung. Eine bissige Satire innerhalb einer großen Heimsuchung, aber eine, aus der sich vielleicht eines Tages ein Tribun emporreckt.

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