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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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WIR LEBEN GANZ VORTREFFLICH, stellt uns der letzte Monatsbericht des Instituts für Wirtschaftsforschung vor Augen. Die Industrieproduktion ist weitaus stärker angestiegen, als man es der Jahreszeil nach erwarten kann und erreichte mit dem Index von 241 (Kennziffer 100 im Jahre 1937) einen neuen Höhepunkt. Bergbau und Eisenerzeugung sind am Rande ihrer Kapazität. Die Umsätze des Einzelhandels sind im Berichtsmonat Mai um sieben Prozent gestiegen, obwohl saisongemäß ein Rückgang zu erwarten gewesen wäre. Die Deviseneingänge der Nationalbank sind im Mai und Juni um rund 300 Millionen auf einen Gesamtbetrag von nahezu neun Milliarden angewachsen, was nicht zuletzt eine Folge des um 91 Prozent höheren Fremdenverkehrs sein dürfte. Im Gegensatz zu diesen Fanfaren steht jedoch die Mitteilung, daß unsere Erdölproduktion ihren Höhepunkt erreicht habe und künftighin zurückgehen werde. Als der österreichische Staat die Erdölbetriebe übernahm, hat man uns von den verantwortlichen Männern ganz andere Voraussagen gegeben: allein aus den Oelquellen werde unabsehbarer Segen und Wohlstand erfiiefjen! Wie stellt man sich angesichts der pessimistischen Voraussage des Instituts für Wirtschaffsforschung die Bedeckung des Mehraufwandes des Bundes anläßlich der Milchpreisregulierung vor? Die Oesfer-reichische Mineralölverwaltung soll 300 Millionen Schilling zu diesem Zwecke abführen! Ein weiteres Fragezeichen ist der Arbeitsmarkf. Es wird behauptet, daß die Reserven an Arbeitskräfte!, nahezu erschöpft sind. Immerhin betrug nach den Meldungen der Landesarbeitsämter die Zahl der vorgemerkten Arbeitsuchenden Mitte Juli 72.237 (60,8 Prozent davon Frauen) und belief sich der Rückgang gegenüber Juni nur auf 1373 Personen. Das Wort von den „beschränkt Vermittlungsfähigen“ — es sind 26.000 — haben wir noch jedes Jahr gehört, ohne daß berichtet würde, was für die Unterbringung dieser Menschen denn geschehen ist und geschieht. Wo sind die schönen Worte aus dem Sozialmini-sferium, der Appell wegen der angeblich „zu ctfen“ Arbeifskräfte? Halten wir uns doch nüchtern vor Augen, dafj die registrierten Arbeitsuchenden nicht das tatsächliche Kontingent derer sind, die wirklich, ehrlich noch arbeiten wollen! Weder das Oel noch die Oelschichf der Konjunktur ist so dick, als dafj sie die offenstehenden Fragen auf die Dauer überdecken können.

UNANGENEHME WAHRHEITEN. Der Mandelstein bei Gmünd war vor einiger Zeit das Ziel einer Gruppe von Heimatvertriebenen aus dem nahen und doch so fernen Böhmerwald. Nach einer Feldmesse und einer Kreuzweihe ergritt auch der Wiener Vizebürgermeister Weinberger das Wort. Es war keine übliche Versammlungsrede eines routinierten Politikers. Im Angesicht der verlorenen Heimat fand er tiefe und ernste Worte der Erkenntnis:

„Am Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie, mit dem der Unfriede über Europa und die ganze Welt kam, waren nicht nur die Tschechen, Ungarn und Serben schuld-Auch viele Deutsche und auch manche unserer böhmischen Heimat hatten Anteil an dem Zusammenbruch und wurden so mitschuldig auch an der Tragödie, die nachher einsetzte und mit der Vertreibung und Verfolgung unserer Landsleute einen schrecklichen Höhepunkt erreichte. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dafj wir später dann alle fasziniert waren von dem neuen grofjen Reich und daß wir den Einmarsch in Böhmen als einen Triumph unseres Volkes, als einen Sieg der Deutschen betrachteten. Vielleicht wurden wir alle damals zum zweiten Male schuldig. Jetzt müssen wir warfen, beten und treu bleiben. Wie wir seither vieles büfjen mufjfen, was wir Unrechtes taten, so mufjfen auch die Tschechen schon vieles büfjen, was sie Unrechtes taten. Wir müssen uns vornehmen, zu verzeihen, und den Hengott bitten, dafj er uns und unsere Kinder wieder in den Böhmerwald heimkehren läfjt.“

Die Wahrheit ist bekanntlich mitunter un-anqenehm. Zumindstens unpopulär. Deshalb liefj sie einen gewissen b. k. h. nicht ruhen, bis er am 10. August in einer bekannten, in Salzburg erscheinenden Tageszeitung Gelegenheit bekam, gegen den Wiener Vizebürgermeister zu polemisieren. Und recht massiv, oberflächlich und mit unsympathischen Untertanen obendrein. Lois Weinberger wird als Historiker unter Anführungszeichen vorgestellt. „Mit gewissen KZ-Nachwirkungen (!) allein lasse es sich nicht erklären, dafj ein Mandafsfräger das eigene Nest beschmutzt, indem er ausgerechnet die Deutschen der Habsburgormonarchie, die der letzte Mörtel waren, die diesen imposanten Bau noch zusammenhielten, entgegen der geschichtlichen Wahrheit derart verunglimpft.“ Hier mufj anscheinend wieder einmal Fraktur gesprochen werden. Die Rolle der Deutschen in der alten Donaumonarchie in Ehren. Dennoch darf man darüber nicht vergessen, dafj es auch einen Schönerer und einen Karl Hermann Wolf gegeben hat, welche — leider — gerade unter den Deutschen Böhmens nicht wenige Ar-hänqer haften. Und wie es wirklich war an jenem „3. November 1918“, als das alte Reich in Trümmer ging, haben Dichter vom Rang eines Csokor und Joseph Roth (,Die Kapuzinerqruft“) aufgezeichnet. Aber das alles wollen ja b. k. h. und seinesgleichen nicht hören.

Ist es doch viel angenehmer, slets mit dem Finger auf andere zu zeigen, als mitunter auch einmal an die eigene Brust zu klopfen.

WAR ES NUR EIN WAHLTRICK! In einer seiner letzten Reden vor den italienischen Gemeindewahlen bezeichnete der in der ersten Linie der kommunistischen Front agierende Senator Terra-cini die Einführung der 44-Slunden-Woche bei den heuf£ 60.000 Arbeitnehmer zählenden FIAT-Werken in Turin als „eine unfaire Handlung der Kapitalisten“, als einen „plumpen Ueberraschungscoup der übermütig gewordenen Werkleitung“. Die für den nichteingeweihien Beobachter zweifellos über Nacht gekommene Maßnahme entspringt zwei im Laufe der letzten Jahre gediehenen Vorbedingungen: dem in den mit amerikanischer Hilfe technisch völlig erneuerten FIAT-Werken weit gediehene Prozefj der Automation, die, entgegen vielfach gemachten Voraussagen, keine Arbeifskräfte freisetzte, sondern 1955 die Einstellung zusätzlicher 3000 Arbeifer möglich machte — und zweitens der Entgiftung der früher kommunistisch verhetzten Belegschaff, einer Be legschafl mithin, mit der nunmehr über Wohl und Wehe des Unfernehmens und seiner zahlreichen Angehörigen sachlich verhandelt werden kann, ohne die früher beliebten Mittel der Drohung und Erpressung, zumal ohne Streiks und Sabotagen. Die Bedeutung der Maßnahme der FIAT-Befriebe kann also nicht leicht unterschätzt werden. In den dem Unternehmen nahestehenden Kreisen heißt es, der Erfolg sei hauptsächlich dem politisch klugen und sozial aufgeschlossenen Generaldirektor Valletta zu verdanken, der auch das Verdienst habe, mit seiner auf ständige Besserung der sozialen Einrichtungen hinzielenden Aktion das Gros der Arbeiter vom moskauhörigen Kommunismus loszulösen. Das mag zutreffen. Ausschlaggebend aber dürfe die sich aus der Automation ergebende erhebliche Senkung der ehedem wegen technischer Rückständigkeit überhöhten Betriebskosten sein. Ein anderer Aspekt, der der Herabminderung der noch immer an de' Zweimillionengrenze sich bewegenden Arbeilslosigkeif, wird hier im gleichen Atemzug genannt. Besonders der Arbeits-minisfer Vigorelli verspricht sich von der A r-beitszeitverkürzung auf die Dauer heilsame Folgen für die Erwerbslosen. Das von ihm eingebrachte und vom Parlament bewilligte Gesetz, das im Interesse der Erwerbslosen die Ableistung von Uebersfunden auszumerzen trachtet, hat zwar erhebliche Widerstände, und dies mit Recht, gefunden. Ohnehin dürfte das Arbeifs-losenproblem mit solch kleinen Mitteln nicht zu lösen sein. Fast scheint die politische Auswirkung der umfassend geplanten, auf die 40-Stunden-Woche abzielenden Arbeitszeitverkürzung heute im Vordergrund zu stehen.

EIN PARLAMENT TAGT. Der neugotische Kuppelbau am Budapesfer Donauufer, Schau-und Tummelplatz so vieler erbitterter parlamentarischer Kämpfe in den letzten Jahrzehnten der Monarchie, später Zeuge der zunehmenden Verkümmerung und schließlich Zerschlagung der parlamentarischen Institutionen, kommt, so scheint es, von nun an wieder zu größeren Ehren. Eine Woche nach der an dramatischen Ereignissen nicht arm gewesenen Tagung des Zentralkomitees der Partei — der einzigen „Partei“ — trat das ungarische „Orszaggyüles“ zusammen, um die Beschlüsse der Partei zur Gesetzeskraft zu erheben. Die Mitglieder dieses Parlamentes wurden 1953, noch in den letzten Ausläufern der Sfalin-Aera nach der üblichen Manier „gewählt“, und manche von ihnen haben manchmal Skrupeln — und das spricht für sie —, weil sie nicht wissen, in wessen Auffrag sie als Abgeordnete im Sitzungssaal Platz nehmen. In Wirklichkeit sind sie alle Abgesandte der Partei, und es isf daher verständlich, wenn die Wiederbelebungsversuche an diesem Parlament in der Bevölkerung auf einige Skepsis stoßen. Trotzdem ist der Fortschrift beachtenswert. Man darf nichf vergessen, daß es sich dabei um einen Versuch handelt, ohne Regimewechsel und ohne einen „neuen starken Mann“ eine Entwicklung in die Wege zu leiten, die das bisherige Tun und Planen der meisten von den gegenwärtigen Führern und ihr häufiges Versagen unter Anklage stellen muß, selbst dann, wenn diese Anklage (vorläufig noch) nicht klar ausgesprochen wird. Das Regime setzt seine Hoffnung auf die Wirksamkeit der neuen Methoden, die es vor den Folgen seiner bisherigen Unterlassungen retten und es in den Augen der schwer demoralisierten Oeffentlichkeit als von nun an tragbar erscheinen lassen soll. Als Glieder dieser neuen Methode sollen gelten: Die Wiedereinführung einiger Bestandteile des westlichen Parlamentarismus wie Interpellationen, Debatten (mindestens zum Schein), ja sogar einiger Traditionen der längst versunkenen liberalen Zeit. Ob diese Maßnahmen das Vertrauen in das volksdemokratische Regime wiederherzustellen vermögen, ist ungewiß. Viel mehr zu tun ist aber Budapest gegenwärtig nicht gewillt — das bewies zuletzt auch die erfolgte Umbildung der Regierung, die keine wesentlichen Aenderungen zeigt.

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