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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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EXTRAAUSGABE! Lange haften wir diesen Ruf nicht mehr gehört. In den letzten Wochen hörten wir ihn oft. Zu oft. Zumindestens um einmal. Als nämlich die Panzerketten der fremden Intervention das junge Gewächs der ungarischen Freiheit zermalmten, konnte das kommunistische Zentralorgan nicht umhin., seiner Freude über die Unterdrückung des ungarischen Volksaufstandes lautstark Luft zu machen. Nun: man ist von dieser Seite einiges gewohnt, was aber diesmal geboten wurde, übersteigt das übliche Maß um ein beträchtliches. Weifj wurde Schwarz, die Militärinfervention einer fremden Macht zur „Arbeiterregierung“, eine echte Revolution, wie es sie seit 1917 nicht gegeben hat, zur „Konterrevolution“. Als Christen verurteilen wir alle blutigen Ausschreitungen — gleichgültig, von wem gegen wen. Aber die Kommunisten, die auf diesem Gebiet einiges auf dem Kerbholz haben, sind die letzten, denen moralische Entrüstung zusteht — und die Verleumdung des ungarischen Arbeiteraufstandes als „weißen Terror“ am wenigsten. Aber „Fleißaufgaben“ sind eine Spezialität unserer Kommunisten geworden. Diesmal geben sie Parolen aus, die selbst in Ungarn auszugeben niemand die Stirn hat. Dazu kommt noch nicht zuletzt die Denunziation der österreichischen Neutralität in Moskau. Genug: unsere KPOe hat für alle Zeiten den Namen einer Arbeiterpartei verwirkt, und den einer österreichischen Partei obendrein.

DAS LANDWIRTSCHAFTSGESETZ ist abermals in weite Ferne gerückt. Nachdem früher die Auf-bringungs-, Absatz- und Versorgungsmöglichkeiten durch die sogenannten Wirlschaftsgesetze bis 1950 einigermaßen geregelt worden waren, mufjte man von Jahr zu Jahr neu verhandeln, um eine Verlängerung dieser Gesetze zu erreichen. Im Kriege und in der ersten Nachkriegszeit hatten die Wirtschaftsgesetze begreiflicherweise mehr Bedeutung iür die Erzeugung und den Absatz. Seit sechs Jahren ist es aber eher umgekehrt. Schon im Sommjr 1954 wollte“ man nach Jahren der' Provisorien zu einem Gesetz kommen, das für die landwirtschaftlichen Produkte einen gewissen Schutz gegen Importe schaffen sollte, aber auch eine bestimmte Marktlenkung, welche dem Konsumenten und wohl auch der Preisbildung zugute käme. Fast alle Staaten der Well haben die Notwendigkeit des Schutzes der Landwirtschaft und der in ihr Tätigen erkannt, und durch Gesetze, die der wachsenden Industrialisierung Rechnung tragen, entsprechend untermauert. Kaum, daß man über den Plan verlauten lief;, ein modernes Landwirtschaftsgesetz zu beraten, die Kriegsund Uebergangsgesetze abzuschaffen,- kaum, dafj in verschiedenen Bundesländern, anläßlich der Haushaltdebcstte des vorigen Jahres, sich Stimmen gegen die legislatorische Vorherrschaft des Bundes in Landesdingen erhoben, ist es stiUer geworden um das Landwirtschaffsgesetz. Vor einigen Wochen hat wieder einmal ein Entwurf von allen Begutachtungsstellen Ablehnung erfahren — kein Wunder, da sich beinahe mehr Interessenfengruppen in den Haaren liegen, als es Paragraphen aufzustellen gilt. Da keine internen Besprechungen nach der letzten Ablehnung im Landwirtschaftsministerium mehr eingeleitet wurden, steht test, dafj mit Jahresende wieder einmal die Verlängerung des Getreide- und Milchwirtschaftsgesetzes nötig sein wird. Um welche Gegenstände nun seil Jahren Provisorien „erarbeitet“ wurden, erhellt aus der Tatsache, dafj der jährliche Produktionswert der Milch mit 3,8 Milliarden Schilling dem der Eisen- und Metallindustrie gleichkommt, der Wert der Brotgetreideerzeugung mit 2 Milliarden der Elektro-produktion entspricht.

AUF EWIGE ZEITEN... Nach den revolutionären Redemokratisierungsversuchen in Polen und in Ungarn blickt die westliche Welt mit Interesse auf die Tschechoslowakei, den „abendländischsten“ von allen Satellitenstaaten der Sowjetunion. In Prag rührt sich scheinbar noch gar nichts. Die Entsfalinisierung und die Entwicklung seit dem XX. Parteikongreß in Moskau ist in der Tschechoslowakei sichtlich bei der Wiederherstellung der Freundschaft mit Jugoslawien, beim Personalwechsel im Verteidigungsministerium und im Oberkommando der Armee sowie bei den ohne jedes Aufsehen erfolgten Entlassungen der überlebenden Verurteilten des Slansky-Prozesses stehengeblieben. Slansky, Clementis und die übrigen Hingerichteten dieses blutigen Cliquenprozesses der KPC sind bis heute unrehabilitiert; die Reuewelle über begangene Fehler, wie sie die Spitzen der Parteihierarchie in Polen und Ungarn durchweht hat, ist in der Tschechoslowakei) ohne Parallele. Die offizielle tschechoslowakische Reaktion, die auf die polnischen Vorgänge mit Maß erfolgte, insoweit dort das Dekorum der Volksdemokratie gewahrt erschien, lebt sich gegen Ungarn mit den schärfsten Akzenten einer dirigierten Presse-und Rundfunkpropaganda aus. Für die bisherige . Nichtteilnahme der Tschechoslowakei an der in Ungarn und Polen deutlich gewordenen Empörung des Volkes wider die kommunistische Diktatur gibt es mehrere Erklärungen: es ist eine unleugbare Tatsache, daß von einer wirklichen Not des Arbeiters, die ihn in Polen und in Ungarn zur Aktion getrieben hat, in der Tschechoslowakei bei aller Schinderei doch nicht die Rede sein konnte. Auf ihrem alten industriellen Fundus basierend ist die Tschechoslowakei von den kommunistischen Macht-habern bislang doch noch nicht auf den niedrigen Lebensstandard der ungarischen und der polnischen Arbeiter hinuntergewirtschaftet worden. Es fehlt in der CSR auch an dem Haß gegen Ruhland als fremde Macht, der in Polen und in Ungarn auf wesentliche Ereignisse in der Geschichte beider Länder zurückgeht und an der Tatsache der Anwesenheit sowjetischer Truppen in ihren Ländern immer wieder neue Nahrung gefunden hat. Die Tschechen, die in ihrer Geschichte mit den Russen nie direkt zu 1un hatten, neigen eher dazu, dem „großen slawischen Bruder“ auch weiterhin in sentimentaler Liebe zu begegnen. Nicht minder wichtig für die gegenwärtige Haltung der Tschechoslowakei ist auch der Umstand, daß sie als einziges Land des gegenwärtigen Ostblocks in den ersten freien Wahlen nach dem Krieg. Mai 1946, nahezu 40 Prozent der Stimmen für die kommunistische Partei aufwies: auch dieser Fundus von einst, eine Art Verfrauensfundus einer falsch orientierten Arbeiferschaft, ist hier noch nicht so radikal zerstört wie in den Nachbarländern. Militärische Vorgänge in der Tschechoslowakei sind freilich ihrerseits der Beweis dafür, daß mit der Ansteckungsgefahr gerechnet wird. Sämtliche Militärurlaube im Land wurden gestrichen, alle lebenswichtigen Betriebe der Tschechoslowakei werden militärisch bewacht, in den Kasernen stehen Verbände der Armee und des „Staatssicherheitsdiensfes“ in Alarm. Die Aufgabe der tschechoslowakischen Gewerkschaffen kommunistischer Observanz ist es indessen, die Arbeiter in den Fabriken zu spontanen Ergebenheitsadressen an Prag und Moskau zu veranlassen und den Slogan „Auf ewige Zeif mit der Sowjetunion!“ bis zum Ueberdruß zu wiederholen.

DAS ECHO AUF DIE KANONEN VON BUDAPEST. Noch ist der Blick nach Polen und Ungarn durch widersprechende Meldungen und verworrene Urteile und Meinungen getrübt. Um so deutlicher heben sich die Reflexe bei den marxistischen Parteien Italiens ab, also bei den Nenni-Sozialisten und den Kommunisten Togii-attis. Die feine Witterung Nennis hat ihn, trotz seiner schwerwiegenden Verirrungen Und Gaukeleien der Vergangenheit, schnell auf die richtige Bahn gebracht und sogar die bisher unverbrüchliche Freundschaff mit Togliatti aufs Spiel setzen lassen. In scharfer Polemik mit dem Kommunistenführer bekennt sich Nenni ohne Vorbehalt zu den für Freiheit und Selbstbestimmung kämpfenden Männern in Ungarn. Nenni beklagt die verbohrte und kaltschnäuzige Moskauhörigkeit Toglialfis. Während die Auseinandersetzung in den Zeitungen „Avanti!“ und „Unita“ in mehr und mehr sich zuspitzender Form fortschreitet, spielen sich viel dramatischere und ernster zu nehmende Debatten im Schoß der Kommunistischen Partei ab. Togliatti, der spitzfindige Jurist, dessen Dialektik auch von seinen Gegnern bewundert wird, dem aber die Gefühlsakzente gänzlich fehlen, hat mit seinem in der Zeitschrift „Rinascifa“ veröffentlichten Kommentar über „Die Vorkommnisse in Ungarn“, der sich linientreu wie eh und je zu dem Moskauer Vorgehen in Ungarn bekennt, in weiten und einflußreichen Kreisen seiner Partei Verstimmung, ja Entrüstung hervorgerufen. Führende Männer wie der Leiter der kommunistischen Gewerkschaft Di Vittorio oder der einflußreiche Senator Terracini, dem sein unentwegtes Bekenntnis zum Kommunismus während der faschistischen Zeit 15 Jahre Gefängnis eintrug, hatten sich spontan und treffsicher zu den aufständischen Arbeitern und Bauern Ungarns bekannt und den russischen militärischen Eingriff laut und öffentlich gebrandmarkt. Die scharfe Reaktion Togliattis blieb nichi nur unbeachtet, sondern rief weitere dezidierte Einsprüche hervor, unter anderem einen geharnischten, der Oeffentlichkeit übergebenen Protest der kommunistischen Intellektuellen. Darin heißt es: „Wenn man die ungarische Arbeiterklasse nichf verleumden will, so muß man anerkennen, daß es sich in Ungarn weder um einen Putsch noch um eine reaktionäre Bewegung handelt, sondern um den Ausbruch lange aufgespeicherten Volkszorns, der von den wirtschaftlichen Nöten, der Liebe zur Freiheit und dem Wunsch herrührt, den nationalen Weg des Sozialismus zu beschreiten.“ Den „nationalen“, das heißt vom verabscheuten Moskauer Vorbild losgelösten Sozialismus streben viele führende Männer der Kommunistischen Partei Italiens, im Gegensatz zu Togliatti, an. In drei Gruppen scheint die Partei aufgespalten: in die Togliatti-Gruppe, die sich zum Chruschtschow-Kurs zurückgefunden hat, in die Di-Vitforio-Gruppe (Gewerkschaftsbewegung), die sich mit Terracini und anderen zum nationalen, das heißt italienischen Sozialismus bekennt und, endlich, eine Minderheit unter dem vorübergehend in Acht und Bann getanen Mailänder Parteiunterführer Secchia, der nach wie vor dem Stalinkurs zugetan ist. Die Auseinandersetzungen sind in vollem Gange. Wer wird siegen? Ist der Schrecken vor den Kommunisten, der die italienischen Bürger ein Jahrzehnt verfolgte, ausgestanden? Dies sind Fragen, die überall erörtert werden.

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