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Ungarns Enttuschungen

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Die von den Außenministern der vier Großmächte festgesetzten Friedensbedingungen haben am schwersten zweifellos in Ungarn erschüttert. Hier riefen sie einen wahren Schock hervor. Außenminister Gyöngyösi tat den Ausspruch, wenn es die Entwürfe nicht abzuändern gelinge, werde Ungarn auf Generationen hinaus versklavt. Die öffentliche Meinung des Landes teilt seine Uberzeugung.

Nach seinem Moskauer Staatsbesuch im Frühjahr hat sich der ungarische Ministerpräsident N a g y, die stärkste und eigentlich treibende Persönlichkeit des heutigen Kabinetts, über die Friedensziele Ungarns mehrfach recht zuversichtlich geäußert. Auf dem Waitzener Journalistentag am 12. Mai gab er, nachdem er der Hilfsbereitschaft Rußlands bei früheren Gelegenheiten mehrfach gedacht hatte, dem festen Vertrauen Ausdruck, die Friedensentscheidung werde den ungarischen Ansprüchen — wenn auch natürlich nicht alle Wünsche befriedigt werden können — Rechnung tragen. „Ich vertraue darauf“, sagte er wörtlich, „daß die ungarische Demokratie jene Genugtuung erhalten wird, die dieser gut startenden, in Europa vielleicht a m schönsten funktionierenden Demokratie gebührt“, und: „Wir nehmen als sicher an, die Entscheidung wird derart sein, daß auch die lauterste Demokratie S ü d Osteuropas, die ungarische Demokratie, sich darein fügen kann.“

In der Enttäuschung, die sich unseres Nachbarvolkes nach dem Bekanntwerden der Friedensvertragsentwürfe bemächtigte, wurden besonders die wirtschaftlichen Bestimmungen des kommenden Vertrages als untragbar bezeichnet. (Die nach dem Waffenstillstandsvertrag von Ungarn an Rußland zu zahlenden Reparationen sind auf Einschreiten der Angelsachsen von den Sowjets auf einen bis 1952 erstreckten Zeitraum verteilt und die Ungarn dadurch in den Stand gesetzt worden, sie, wenn auch unter schweren Lasten, zu leisten.) Es ist interessant, festzuhalten, worauf sich die von den verantwortlichen Männern des Regimes vorher erhobenen Forderungen bezogen. Man muß hier zwischen offiziellen und nicht offiziell aufgestellten Wünschen unterscheiden. Die ersteren sind in den der Friedenskonferenz überreichten ungarischen Denkschriften enthalten; über sie verlautete:

Das wichtigste Problem Ungarns sei die Sicherung der im Frieden von Trianon außerhalb Rumpfungarns belassenen drei Millionen Magyaren. Während die ungarischen Minderheiten in Jugoslawien Gleichberechtigung mit dem Staatsvolk genössen, würden sie in der Tschechoslowakei schweren Beeinträchtigungen ausgesetzt. Ein Ende der dortigen Ungarn Verfolgungen könn? auf dem Wege des Bevölkerungstausches allein nicht erreicht werden. In Rumänien habe die Regierung G r o s z a beachtliche Versuche gemacht, das Recht der ungarischen Minderheiten zu sichern, indessen seien diese Bemühungen am Widerstand der Bevölkerung und der Beamtenschaft gescheitert oder in ihrem Erfolg mindestens sehr gefährdet. Ungarn verzichte auf die räumliche Rückgliederung des geschlossenen Blocks von 600.000 ungarischen S z e klern, die wegen deren geographischer Angelegenheit im Südostwinkel Siebenbürgens nicht gut durchführbar ei; es wolle sich mit einer kantonalen Autonomie für diese und wirksam ausgebauten Minderheitenschutzbestimmungen für die anderen Gruppen begnügen. Zu deren Gewährleistung halte Ungarn es aber für erforderlich, ein von etwa gleichviel Rumänen bewohntes Gebiet, wie Ungarn an Rumänien fielen (etwa anderthalb Millionen Köpfe), an Ungarn anzugliedern. Beide Staaten würden unter dem Druck der Möglichkeit von Repressalien an Minderheitenvolksgenossen der eigenen Nationalität jenseits der Grenze die fremdvölkischen Minderheiten innerhalb der eigenen Grenzen in ihrem Recht voll respektieren.

Weitergehende Ansprüche hatte nach einer Meldung des „Magyar Nemzet“ das nichtoffizielle Ungarn angemeldet, und zwar im Wege eines „Zentralausschusses für die Errichtung einer selbständigen Siebenbürgischen Republik“. Das Blatt gab aus dem „Courrier de Paris“ den Inhalt eines Aufrufes wieder, mit dem sich der Zentralausschuß an den amerikanischen Außenminister Byrnes gewandt hatte. Den Siebenbürgern, so hieß es da, soll im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes und der Atlantik-Charta die Freiheit eingeräumt werden, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Siebenbürgen, mit einer Gesamtoberfläche von 103.000 Quadratkilometer (Österreichs Gesamtoberfläche umfaßt 84.000 Quadratkilometer) und einer Gesamtbewohnerzahl von 5,5 Millionen Menschen (Österreich 6,5 Millionen), erfülle in geschichtlicher, geographischer, sozialer und staatsrechtlicher Beziehung alle Voraussetzungen staatlicher Selbständigkeit und Lebensfähigkeit. Als selbständige Republik könne es seinen Bewohnern jeder Sprache, Religion und Rasse durch eine Verfassung nach Sdiweizer Muster vollständige Freiheit sichern und damit den alten Zwist zwischen Rumänien und Ungarn friedlich beilegen. „Darum fordern wir die Proklamierung des geschichtlichen und unabhängigen Siebenbürgen!“ Im Wege einer Volksabstimmung sollten die Siebenbürger ihren Willcn selbst zum Ausdruck bringen. In ähnlicher Weise ist inoffiziell — und auch halbamtlich — die Meinung vertreten worden, wenn die Tschechoslowakei auf der Aussiedlung aller Magyaren bestehe, dann solle mit der magyarischen Bevölkerung auch ein entsprechend großer Grenzstreifen, auf dem diese Bevölkerung leben könne, an Ungarn angegliedert werden.

Fast automatisch wirft sich die Frage auf, worauf das starke Vertrauen der ungarischen Staatsmänner in die Realisierbarkeit dieser Ansprüche sich gründete. Die Antwort darauf war in der angeführten Erklärung des Ministerpräsidenten Nagy enthalten. Der Anspruch wird verständlicher, wenn man zum Terminus „Demokratie“ das Bestimmungswort „östlich“ hinzufügt. Es hätte der politischen Taktik entsprochen, vor der Weltöffentlichkeit auf den in der Zeit der Machtblüte Hitler-Deutschlands geleisteten Widerstand, hinzuweisen und die Einsetzung dieses Aktivpostens in die von den Alliierten vorgelegte Abrech nung zu fordern. Die Chancen Ungarns wären dabei nicht schlecht gewesen. Es ist bekannt und in den Kriegsverbrecherprozessen, die Ungarn seinen Staatsmännern der letzten Jahre vor der Weltöffentlichkeit gemacht hat, durch Zeugenaussagen immer wieder erhärtet worden, daß die ungarischen Regierungen, während sie Loyalitätsbeteuerungen der Achse widmeten, in Wirklichkeit ihre Achsenpartner in deren Kriegsanstrengungen nicht nur ungenügend unterstützten, sondern oft sogar vor Sabotage nicht haltmachten. Namen wie K a 11 a y und der seines Innenministers Keresztes-Fischer sind dafür symptomatisch; aber selbst ein durchaus deutschfreundlich eingestellter Politiker wie Imredy hat, wie sich im Zeugenverhör herausstellte, gewissen von Berlin für absolut kriegswichtig gehaltenen Wirtschaftstransaktionen im Interesse Ungarns nicht zustimmen zu können geglaubt.

Aus “ ideologischen Gründen hat das Regime die Verteidigung Ungarns nicht auf diese Tour gebracht.

Aber in seinem Bekenntnis zur östlichen Demokratie ist Ungarn aufrichtiger und radikaler gewesen als in seiner Stellung zur Achse. Und daran mag Ministerpräsident Nagy bei seiner zuversichtlichen Auffassung gedacht haben. Drei in ihren Auswirkungen säkulare Reformen sind mit der größtmöglichen Rasdiheit in Angriff genommen, zum Teil auch schon durchgeführt worden. Die Zerschlagung der alten Struktur des ungarischen Feudalstaates durch eine weitgehende Bodenenteignung des Großgrundbesitzes und der Kirche leitete diese Reformen ein. Das alte „regnum Marianum“ wurde dieser seiner traditionellen Stützen beraubt und als „Volksrepublik“ auf eine ständisch neue Grundlage gestellt. Aus dieser wurde außer den beiden oberen, gewissermaßen übernationalen Ständen auch die gehobene Mittelsdlicht, das im 19. Jahrhundert zu einer beachtenswerten Macht erstarkte national-liberaleBürgertum, die „Bourgoisie“, durch eine im Zuge der Bodenreform und einer künstlich herbeigeführten Geldentwertung herbeigeführte wirtschaftliche Umschiditung herausgebrochen. Kriegsverbrecherprozesse boten die Möglidikeit, die führenden Persönlichkeiten dieser Schidite teils völlig zu beseitigen, teils aus dem aktiven politischen Leben auszuschalten. Die untere Führerschicht wurde durch „Kollaboration“ und „Westflucht“ belastet, aus ihrer Funktion entfernt und der frühere soziale Organismus des Landes dergestalt zerschlagen, um einer neuen Herrschaft und ihrem Streben Platz zu machen. Der dritte Angriff richtete sich gegen den geistigen und biologisdien Nachwuchs der alten Mittelschichte, und zwar in einer typisch-ungarländischen Form: die „S c h w a-b e n“, das unerschöpfliche Pveservoir der Ergänzung des ungarischen Mittelstandes und der ungarisdien Wirtsdiaftskraft, wurden kollektiv aus dem Lande entfernt und in ihre freigewordenen bäuerlichen Wirtschaften wurden „Landlose“ eingewiesen.

Die drei intern durch tausend Fäden verbundenen Reformen stellen ein Riesenexperiment dar. Indem man sich von der in Ungarn mit der zweihundertjährigen Unterbrechung der Türkenzeit traditionellen westlichen Ausriditung abkehrt, hofft man die Zukunft des Landes und die neuen Reformen zu sichern. Das ist das Konzept des Ministerpräsidenten Nagy, der dafür auch den Präsidenten der Republik, Zoltan Tildy, einen ursprünglich aus dem westlich orientierten Mittelstand herkommenden kavinisti-schen Pfarrer, gewonnen hat. Unbekehrt blieben die sowohl an Zahl als auch an Gewicht bedeutsamen Anhänger der sogenannten „Reaktion“. Unter dem Drude des verlorenen Krieges mit allen seinen Folgen haben diese der Regierung Nagy aber keine wesentlichen Schwierigkeiten bereitet. Das Koalitionskabinett, das die Geschäfte führt, erfreut sich weitgehender Unterstützung der hinter ihm stehenden Parteien.

Mitbestimmt war diese Haltung durch die propagandistisch von der extremen Linken unterstrichene These, daß nur völlig loyales Verhalten die junge „Demokratie“ kreditfähig machen und für die schwere Aufgabe der Erringung eines erträglichen Friedens befähigen könne. Der Friedensvertrag sollte gewissermaßen die Probe aufs Exempel sein.

Um so ersdiütternder wirkte die Erkenntnis, daß die „lauterste Demokratie Südosteuropas“ den ihr gewährten Vertrauensvorschuß möglicherweise falsch eingesdiätzt habe und daß, im Wettlauf um die Gunst der Mächtigen, die slawischen Mitbewerber ihren natürlichen Vorsprung vor Ungarn zu halten verstanden. Der tschechoslowakische Ministerpräsident Gottwald konnte als Ergebnis einer Vorsprache in Moskau bekanntgeben, daß Rußland die Aspirationen Prags, im besonderen auch gegenüber Ungarn, unterstützen werde. In der Tat hat auf der Friedenskonferenz die Tschechoslowakei, weit entfernt von jedem Nachgeben in der Frage der Aussiedlung der ungarischen Minderheiten oder von Grenzberichtigungen zugunsten Ungarns, nicht nur einen Minderheitenschutz im Sinne der Verträge von 1919 abgelehnt, sondern, nebst Kriegsentschädigungen, auch einen weiteren territorialen Zuwachs auf Kosten Ungarns verlangt. Rumänien aber ist nicht nur im Besitz ganz Siebenbürgens belassen, sondern schickt sich an, 200.000 bis 300.000 Ungarn kurzfristig auszuweisen. Ungarn seinerseits hat ja 430.000 „Schwaben“ teils schon ausgesiedelt, teils ist deren Ausweisung im Gange, ein Argument mehr für die Nachbarn, daß es ihm an Platz für die rückzusiedelnden Ungarn nicht mangeln könne.

Zweifellos ist die Stellung Ungarns auf der Friedenskonferenz schwierig. Kleine Nationen kommen, mag ihre Vergangenheit und deren politische und kulturelle Leistung auch bedeutend sein, um ein nicht knappes Maß an politischem Opportunismus nicht herum; es zeigt sich aber, daß es auch hier Grenzen gibt. Gewisse sachliche Grundlagen des politischen Handelns müssen gegeben sein und dürfen, sei es aus ideologischen oder aus anderen Gründen, nicht überspannt werden, will man sich nicht der Gefahr aussetzen, Prügelknabe der anderen zu werden.

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