Lästige Legende und legendäre Last

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Das Leben der immer wieder verunsicherten ungarischen Juden spielte sich im Verlauf ihrer Geschichte zwischen Nationalismus und Antisemitismus ab.

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Das Leben der immer wieder verunsicherten ungarischen Juden spielte sich im Verlauf ihrer Geschichte zwischen Nationalismus und Antisemitismus ab.

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Auch wenn der ungarische Staat bereit ist, geraubtes Gut zu refundieren, leiden die meisten ungarischen Juden unter dem zunehmenden persönlichen und politischen Antisemitismus. Aber das ist nichts Neues in Ungarn, in einem Land, dessen Juden genau so alt sind wie die Ungarn selbst. Heute leben in Ungarn rund 120.000 Juden. Die jüdischen Kultusgemeinden entfalten, trotz Überalterung ihrer Mitglieder, ein reiches und sehr konkretes, gegenwartsbezogenes jüdisches Leben. So kennt jeder Budapest-Tourist, ob Jude oder nicht, die zweitgrößte Synagoge der Welt, die seit 1996 wieder in altem Glanz erstrahlt.

Bedeutend tapferer als ihre post-kommunistischen Vorgänger greift die rechts-liberale FIDESZ-Regierung des Ministerpräsidenten Viktor Orban das uralte Problem Antisemitismus in Ungarn an. So versicherte jüngst Unterrichtsminister Zoltan Pokorni, daß "ehebaldigst in allen ungarischen Schulen der Holocaust unterrichtet wird". Im Gegensatz zu Österreich und Deutschland steht die Auschwitz-Lüge in Ungarn nicht unter Strafe. So kann man nicht nur Hitlers "Mein Kampf", sondern so manche Alt- und Neonazischriften in gar nicht so wenigen Budapester Buchhandlungen halblegal kaufen. Abgesehen von einer minimalen Entschädigung für die Holocaustopfer und ihre Familien seitens der öffentlichen Hand - jeder Überlebende erhielt 30.000 Forint (1.800 Schilling) - kämpfen die jüdischen Gemeinden aber noch immer für die Rückgabe ihrer nicht privaten Häuser.

Von den 85.000 Budapester Juden besuchen, so der Präsident des Verbandes der ungarischen jüdischen Gemeinden Peter Tordai, über 30.000 regelmäßig die Gottesdienste in den Synagogen. In Ungarn sind nur vier Religionen etabliert. Die Katholiken bilden die Mehrheit, gefolgt von den beiden Evangelischen Kirchen. Der Anteil der Juden beträgt ein Prozent, der der Christlich-Orthodoxen ein halbes Prozent.

Juden aus der Steppe Die Geschichte der ungarischen Juden, wie die aller Magyaren, liegt im Dunkel der mittelasiatischen Steppenwelt. Das einst mächtige Volk der Chasaren, dessen führende Oberschicht den jüdischen Glauben annahm, vermengte sich nicht nur mit Bulgaren und Byzantinern, sondern auch mit den langsam westwärts ziehenden hunnischen und awarischen Stämmen, die sich Richtung Karpaten vorwärtskämpften. Auf dem Gebiet des heutigen Ungarns lebten seit dem 3. Jahrhundert aus dem Orient zugewanderte Juden. Zur Zeit der ungarischen Staatsgründung, vor 1100 Jahren, existierten daher bereits in den Städten Buda, Obuda, Sopron und Esztergom jüdische Gemeinden.

Die Nähe des Westens war für die Juden im jungen Königreich zunächst günstig. Der später heiliggesprochene Stephan erwies sich als wahrer Schutzherr - wie acht Jahrhunderte später Franz Josef I. - seiner Juden. Mit harter Hand faßte Stephan nur die Heiden an; die Juden ließ er in Ruhe. Auch Stephans Nachfolger, Aba Samuel (1038), änderte nichts an der toleranten Politik des Staatsgründers.

Die ersten intoleranten Judengesetze im Karpaten-Becken sind mit dem Namen des Königs Ladislaus (ebenfalls heiliggesprochen) verbunden: Im Jahre 1092 wurde auf der Synode in Szabolcs die Bewegungs- und Berufsfreiheit der Juden empfindlich eingeschränkt. Die Mischehen mit Christen wurden genauso verboten, wie die Sonntagsarbeit oder die Haltung christlicher Knechte.

Entgegen diesen Einschränkungen wuchs in Ungarn - Österreichs Beispiel folgend - die Zahl der begüterten "Schutzjuden", deren getaufte Kindeskinder nicht selten in den Adelsstand erhoben wurden. Vor allem während des Tataren-Feldzugs und der anschließenden Besetzung großer Teile des Landes (1242) erließ König Bela IV. besondere Schutzbriefe für die ihm nützlichen Juden und forcierte die jüdische Zuwanderung aus dem Ausland. Seine Politik kann mit dem Toleranz-Patent von Josef II. verglichen werden.

König Matthias Corvinus, Sohn der Fürstenfamilie Hunyadi, der auch Wien und Teile Niederösterreichs eroberte, gewährte den Juden in Ungarn ein relativ freizügiges Leben, unterdrückte dieses jedoch in seinen österreichischen Gebieten, um den dortigen Deutschen einen Gefallen zu erweisen. Matthias löste in Ungarn das Amt des Judenrichters auf und berief einen Judenpräfekten. Auch mit mehreren hohen Hofämtern betraute er getaufte ungarische Juden.

Nach Matthias Tod bestieg der Pole Jagello (Ulaszlo) den ungarischen Thron. Unter diesem schwachen, unsicheren Herrscher verloren die Juden ihre bisherige Privilegien; mehr noch: 1494 wurde in Nagyszombat der erste "Blutprozeß" ganz nach westlichen Vorbildern inszeniert; 17 völlig unschuldige Juden wurden in einem Schauprozeß wegen Hostien- und Kinderschändung verurteilt und hingerichtet.

Die wirklichen Gegner der Juden in Ungarn waren nicht Herrscher und Hochadel, die Schutz gegen enorme Summen gewährten, sondern der Kleinadel. So faßte der Landadelige Stefan von Werböczy in seinem "Dreierbuch" nicht nur alle gängigen Gesetze und Vorschriften gegen Leibeigene sondern auch gegen Juden zusammen und empfahl, diese strikt anzuwenden.

Die Geschichte der ungarischen Juden, deren assimilierte Schicht immer mehr ungarisch und weniger jüdisch war, deckt sich auch mit der wechselvollen Geschichte der Magyaren, die zwischen dem Osmanischen und dem Habsburgischen Reich eingeklemmt ihr politisches Auf und Ab erlitten.

Mit der Thronbesteigung von Joseph II. (1780) änderte sich die Situation der Juden in Ungarn wieder. Der Kaiser, die Verkörperung des aufgeklärten Absolutismus, war jedoch kein wirklicher Judenfreund; er erkannte nur die Langzeitnützlichkeit der Juden, die weit über Kredite und Kriegs(mittel)finanzierungen hinausging. Neben der Einführung der deutschen Amts- und Verwaltungssprache in Ungarn - wo man bislang nie Ungarisch, sondern Latein oder Französisch sprach - mußten die Juden ihre althebräischen Namen (der Vaternamen mit einem vorgestellten "ben") durch deutsche Familiennamen ersetzen. Erste, zur völligen Emanzipation der Juden führenden Schritte, betrafen vor allem ihre Reise- und Berufsfreiheit, wobei letztere die Interessen der Zünfte nicht verletzen durften. Auch die Öffnung öffentlicher Schulen für jüdische Kinder bedeutete einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur Befreiung. Das Wichtigste war jedoch die kaiserliche Anordnung der allgemeinen Wehrpflicht für junge Juden. Mit der Einführung des Deutschen statt des Jiddischen hatten die ausschließlich orthodoxen Rabbiner Ungarns keine Freude, da sie völlig zurecht die Assimilation - die dann tatsächlich im ungarischen großstädtischen Judentums eingetreten ist - befürchteten.

Emanzipation beginnt Der Weg zur Emanzipation war frei. An diesem Prozeß änderten weder der Rückzieher des Kaisers auf seinem Totenbett, noch die restriktiven Maßnahmen seines Bruders und Nachfolgers Leopold II. etwas. Die langsamen, doch unaufhaltsamen Emanzipationsbewegungen in Ungarn wirkten vor allem für die in Polen, Litauen und in der Ukraine (unter polnischer Herrschaft) lebenden Juden wie ein Magnet. Dementsprechend nahm die Zahl der in Ungarn lebenden Juden rapid zu: 1787 zählte man 80.000, 1805 bereits 130.000 und 1840 schon 250.000 Juden, bei einer Gesamtbevölkerung von rund 10 Millionen Menschen.

Ende des 18. Jahrhunderts sprachen sich das erste Mal ungarische Parlamentarier für den Weg der "ungarischen Assimilation", im Gegensatz zum "deutschen Weg" des Kaisers Joseph II. aus. Die liberalen Politiker des ungarischen Parlaments betonten in ihren Reden den ungarischen Weg der jüdischen Assimilation, traten jedoch einmütig für einen Einwanderungsstopp orthodoxer Ost-Juden ein. In beiden Fragen erhielten sie beträchtliche Unterstützung assimilierter Juden, die ihre noch brüchige Position in der urbanen Gesellschaft eifersüchtig hüteten. Die konservativen Parlamentarier hingegen wollten die jüdische Assimilation verlangsamen und die Osteinwanderung gänzlich und für alle Zeiten verhindern.

Seit dem Ausgleich mit Österreich (1867) erbrachten zahlreiche Juden eine, europaweit seinesgleichen suchende Pionierleistung und Funktion im Wirtschaftsleben Ungarns. Die Alt-Ofener Schiffswerft (Obudai hajogyar) war ebenso eine jüdische Gründung wie die Fabriken der Großindustriellen-Familie Goldberger. Die Präsidenten der größten Geldinstitute des Landes, waren gleichfalls Juden.

Auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges fielen 15.000 jüdische Soldaten der ungarischen Heereseinheiten. Trotz dieses Einsatzes fuhren die heimischen Antisemiten - im Schatten der, vor den Russen nach Ungarn geflüchteten galizischen Ostjuden und der nicht wenigen jüdischen Kriegsgewinnler - ihr reiches Erbe ein. Wieder einmal stellten die ungarischen Juden ihren Rot-weiß-grünen Nationalismus unter Beweis. So erklärte der ungarische Zionistenverband seine Bereitschaft, treuer opferbereiter Bürger Ungarns zu sein. Die scharf antisemitischen Ausschreitungen nach der Niederwerfung der kurzlebigen kommunistischen Räterepublik (1919) haben viele Budapester Juden mit der Teilnahme ihrer Schicksalsgenossen an der Linksregierung entschuldigt. Eines stimmt sicher: 60 Prozent der Führungsgarnitur der Räterepublik, die nur 133 Tage dauerte, waren Juden.

Konteradmiral Miklos Horthy löste die Räterepublik auf. Interessanterweise fanden sich in Horthys Umgebung nicht wenige wohlhabende Juden, die panische Angst vor den Bolschewiken hatten.

Damit begann wieder eine kurze friedliche Periode im Leben der ungarischen Juden (1920-1939). Obwohl der erste numerus clausus unseres Jahrhunderts 1920 in Ungarn eingeführt wurde - die Zahl der Studenten aller Minderheiten durfte ihren Anteil an der Bevölkerung nicht übersteigen - konnte auch diese Einschränkung die weitere Assimilation nicht aufhalten. Diesem inhumanen und intoleranten Gesetz verdanken die USA einen großen Zuzug hochbegabter intellektueller Auswanderer.

Im Herzen Patrioten Das "zweite Judengesetz" (1938) engte, bereits unter Deutschem Einfluß, die Zahl der jüdischen Künstler ein. Ministerpräsident Bela Imredy, eine Marionette Hitlers, verschärfte das Gesetz; so sank der Anteil der jüdischen Intellektuellen noch mehr. Von dieser Zeit an galt jeder als Jude, dessen Eltern, oder zwei seiner Großeltern jüdischstämmig waren. 1940 wurden jüdische Offiziere entlassen und der Arbeitsdienst eingeführt. 1941 wurde das "dritte Judengesetz" erarbeitet. Regierungschef Laszlo Bardossy ließ das mörderische Gesetz, ganz im Sinne des Nürnberger Vorbildes, durchsetzen, was rund eine Million Opfer forderte. Der große Mord an den ungarischen Juden nahm bereits 1941-42 seinen entsetzlichen Anfang, als nach Ungarn geflüchtete (Ost-)Juden in ihre Heimat zurückgedrängt wurden. Allein auf dem Todesmarsch ukrainischer Juden wurden 16.000 unterwegs ermordet. Deportierungen im größeren Umfang begannen im Mai 1944. Auch die letzte Hoffnung, die katholische Kirche, hüllte sich in Schweigen. Fürst-Erzbischof Justinian Seredi verfaßte zwar im Juni 1944 einen Protesthirtenbrief, doch er hielt diesen auf Regierungsbefehl hin zurück. Mehr Mut als der erste Mann zeigten einige Diözesanbischöfe, die regierungskritisch ihre Stimme erhoben und vielen Juden das Leben retteten.

Mit dem Beginn der großen Verstaatlichungswelle und der systematischen Machtübernahme der Kommunisten (1948-49) rollte die erste große Auswanderungswelle an: rund 50.000 Juden verließen Ungarn, viele davon Richtung Israel. Im Land selber blieben noch 150.000 Menschen jüdischer Abstammung. Viele Juden fielen dann der berüchtigten Deportation (1951-1953) zum Opfer und mußten ihre schönen Budapester Wohnungen mit stallähnlichen Unterkünften am Land vertauschen.

Nach Niederwerfung der ungarischen Revolution (1956) übernahm Janos Kadar die Regierung. Zu Kadars engsten Mitarbeitern gehörte der jüdische Intellektuelle und einstige Linkssozialist, György Aczel. Das jüdische Leben blühte erneut auf.

Im heutigen Ungarn zeigen sich leider auch die Schattengewächse der politischen Freiheit; mehrere rechtsextreme Gruppierungen - selbst die berüchtigten "Pfeilkreuzler" finden neue Nachahmer und Bewunderer - betreiben ihre judenfeindliche Wühlarbeit. Extrem nationalistische, antikapitalistische Parteien machen das Weltjudentum für die großen wirtschaftlichen und sozialen Probleme im Land verantwortlich. Trotz zunehmender antisemitischer Äußerungen sind aber die ungarischen Zionisten, unter der Leitung von Tibor Engländer, nicht sonderlich erfolgreich: die Zahl der Auswanderungswilligen nach Israel bleibt gering. Die Juden in Ungarn haben sich nicht geändert: an erster Stelle und in ihrem Herzen sind sie glühende ungarische Patrioten geblieben!

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