Heimat nirgendwo, Gräber überall

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Ein wahrer Massenexodus führte in der Donaumonarchie zahlreiche Juden aus dem bitterarmen Galizien nach Wien, das als "Tor zur Welt" gesehen wurde.

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Ein wahrer Massenexodus führte in der Donaumonarchie zahlreiche Juden aus dem bitterarmen Galizien nach Wien, das als "Tor zur Welt" gesehen wurde.

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Seit Jahrhunderten wandert dieses Volk der Ostjuden westwärts, Heimat verlassend, Heimat suchend", schreibt Joseph Roth 1921 in dem Artikel "Das Schiff der Auswanderer". "Die Ostjuden haben nirgends eine Heimat, aber Gräber auf jedem Friedhof", notiert er sechs Jahre später in "Juden auf Wanderschaft". Der altösterreichische Schriftsteller wusste, wovon er sprach, denn er stammte selbst aus Galizien: 1880 lebten in diesem Armenhaus des Habsburgerreiches 690.000 Juden, der jüdische Bevölkerungsanteil in Roths Geburtsstadt Brody etwa betrug 76 Prozent.

Eine Ausstellung im Jüdischen Museum Wien wirft derzeit einen Blick zurück auf die untergegangene Welt des Ostjudentums, eine Welt, die der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk beschreibt wie folgt: "Kleine Städte, elende Dörfer, bittere Armut, heiße Glaubenskämpfe, gelehrte und zornige Rabbiner im Streit mit Geschichten erzählenden Chassidim". "Zwischen Ost und West. Galizische Juden und Wien", so der Titel der Ausstellung, beschreibt aber auch die Sehnsucht der im Habsburgerreich lebenden Ostjuden nach einem besseren Leben im Westen, speziell in Wien, das ihnen als "Tor zur Welt" galt, "wo sich alle Wünsche und Hoffnungen erfüllen sollten", wie die Historikerin Almut Meyer im Katalog formuliert.

"Luftmenschen" oder "Luftexistenzen" nannten sich die galizischen Juden oft selbstironisch, denn sie schienen gleichsam von Nichts zu leben. "Hungerkünstler sind es, deren Bedürfnislosigkeit die einfachsten Existenzbedingungen so sehr herabgedrückt hat, dass bei den meisten ein Zustand dauernder Unterernährung herrscht", beschrieb die Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim 1904 die Not der jüdischen Bevölkerung des österreichisch-ungarischen Kronlandes. Der Schriftsteller Manes Sperber schildert in seinen Lebenserinnerungen, "Die Wasserträger Gottes", dass sich viele Familien im Winter ein oder zwei Paar Stiefel teilen mussten.

"Keine ärgere Pest" Seit der frühen Neuzeit lebte der Großteil der europäischen Juden auf dem Gebiet des alten Doppelstaates Polen-Litauen. Nach den drei polnischen Teilungen (1772, 1793 und 1795) fanden sich die jüdischen Bewohner des zerschlagenen Staates in den Ostprovinzen Preußens, in Österreich-Ungarn, und in Russland wieder. Im Zarenreich erging es ihnen am schlechtesten: Ohne jegliche bürgerlichen Rechte fristeten sie, zusammengedrängt in wenigen westlichen Provinzen, ein Leben unter ständiger Bedrohung. Die im 19. Jahrhundert einsetzenden Verfolgungen übertrafen "an Umfang und Grausamkeit alles, was bis dahin in der Neuzeit an Antisemitismus in Erscheinung getreten war", bewertete der Historiker Egmont Zechlin ihre Situation.

Den unter österreichische Herrschaft geratenen Juden im neu geschaffenen "Königreich Galizien und Lodomerien" ging es vergleichsweise gut, obwohl sie im Kaiserhaus anfangs auf wenig Freundschaft stießen. "Ich kenne keine ärgere Pest für den Staat als diese Nation", ereiferte sich Maria Theresia und selbst der Aufklärer Joseph II. witzelte anlässlich einer Reise nach Galizien, er wüsste nun, warum auch "König von Jerusalem" zur langen Liste seiner Titel zähle.

1867 erklärte Kaiser Franz Joseph I. die Juden zu gleichberechtigten Staatsbürgern. Obwohl diese rechtliche Verbesserung kaum etwas an den Lebensumständen änderte, führte sie zu einer enormen Sympathie gegenüber den Habsburgern. Franz Joseph wurde von den galizischen Juden beinahe mythisch verehrt, es kursierte eine Reihe von Sagen, die "Efraim Jossele", wie der Kaiser liebevoll im Volksmund genannt wurde, als persönlichen Schützling des Propheten Elia darstellten. Selbst im Kriegsjahr 1917 ließen die galizischen Juden für den neuen Kaiser Karl anlässlich seiner Thronbesteigung einen kostbaren Huldigungsschrank anfertigen; das teure Stück ist nun im Jüdischen Museum zu bestaunen. "Im ausgehenden 19. Jahrhundert waren die Juden in Galizien die eigentlichen Träger der österreichischen Staatsidee": Zu diesem verblüffenden Resümee kommt Gabriele Kohlbauer-Fritz, Kuratorin der Schau "Zwischen West und Ost".

Kein Wunder, dass viele galizische Juden sehnsüchtig nach Wien blickten, das als Ort wirtschaftlicher und kultureller Aufstiegsmöglichkeiten galt. "Der einsilbige Name der Haupt- und Residenzstadt hatte in jenem äußersten, fernsten Winkel der Monarchie einen Klang von stets begeisternder Wirkung. Nicht nur dem 9-jährigen Knaben war Wien Glanz und Pracht, die absolute Schönheit auf Erden, die Stadt der Paläste, die nicht aus Ziegel und Stein, sondern aus leuchtenden Kristallen erbaut sein musste, auf die sich die Nacht niemals herabzusenken wagte", erinnert sich Manes Sperber zurück.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts war die Verelendung aufgrund des rasanten Bevölkerungswachstums unerträglich geworden - es kam es zu einer wahren Massenauswanderung. Etwa 230.000 galizische Juden emigrierten in die USA, rund 40.000 nach Wien. Die Hoffnung nach Wohlstand und Ansehen, der Wunsch, dem Schtetl und seiner "geistigen Enge" (Meyer) zu entkommen, um in der Anonymität der Großstadt ein von den Normierungen der orthodox-jüdischen Gemeinschaft losgelöstes leben zu führen, sowie der provinzielle Antisemitismus waren die Antriebsfedern. Den unmittelbarer Anlass für die Massen-emigration bildete die Pogromwelle von 1881 in Russland, die Tausende von Flüchtlingen aus dem Zarenreich nach Galizien führte.

Von allen abgelehnt Die ausgewanderten galizischen Juden blieben zum größten Teil bei ihren Bräuchen und religiösen Gewohnheiten. Sie blieben unter sich, kleideten sich weiterhin schwarz, trugen lange Schläfenlocken, sprachen jiddisch, richteten ihre eigenen Synagogen und Betstuben ein. Damit wurden sie nicht nur zur Zielscheibe antisemitischer Angriffe, sondern stießen auch bei der assimilierten Mehrheit der Wiener Juden auf Ablehnung. Diese fürchteten, dass der schwelende Antisemitismus durch die Neuankömmlinge angefacht werden könnte und hielten sich tunlichst von ihnen fern. "Der Ostjude aus Galizien wurde zum Gespenst vergangener Zeiten, die der Westjude seit der rechtlichen Gleichstellung längst hinter sich gelassen zu haben glaubte", schildert Meyer den Konflikt.

Von weniger als 10.000 um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinde in Wien auf über 175.000 im Jahre 1910 gestiegen; ein Viertel der Wiener Juden stammte aus Galizien. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs flohen weitere zehntausende galizische Juden vor der herannahenden russischen Front in die Hauptstadt. In den ersten Nachkriegsjahren wurden die akute Wohnungsnot, die Lebensmittelknappheit diesen Flüchtlingen angelastet; "der Ostjude" wurde zum antisemitischen Feindbild. Von "östlicher Pestilenz" und "Wanderheuschrecken" ist auf einem im Jüdischen Museum gezeigten Hetzplakat ("Ostjuden hinaus!") aus dem Jahr 1923 die Rede.

Trotz alledem wurde Wien in den zwanziger und dreißiger Jahren ein Zentrum jüdischer Kultur. Jiddische Literatur, jiddisches Theater und jiddisches Kino boomten. Zwar konstruierte eine Gruppe von jüdischen Intellektuellen, darunter Martin Buber und Arnold Zweig, ein Idealbild des Ostjudentums als den Ursprung jüdischer Frömmigkeit und Authentizität, doch die aus Galizien stammenden Juden behielten ihr positives Österreich-Bild bei.

Verklärtes Wien So wird in dem halbdokumentarischen Film "Opfer des Hasses" (1923) von Hans Marschall Osteuropa als Hort finsterster Rückständigkeit gezeichnet, Wien hingegen als "leuchtende Bastion westeuropäischer Aufklärung" (Kohlbauer-Fritz) idealisiert. Ähnlich die Sicht des jiddischen Spielfilms "Ost und West", den der amerikanische Regisseur Sydney M. Goldin im selben Jahr in Wien drehte: Galizien wird als bigott und reaktionär, Amerika als dekadent und atheistisch, Wien hingegen als gelungene Synthese dargestellt: Hier wird aus einem unbeholfenen Ostjuden ein selbstbewusster, aufgeklärter Jude, aus einer "verdorbenen" Amerikanerin wieder eine Frau mit jüdischer Identität.

Diese verklärte Wien-Bild wurde letztlich vielen Ostjuden zum Verhängnis: Sie konnten sich nicht vorstellen, zu welcher Barbarei der von ihnen hochgeschätzte Westen fähig sein würde. So erkannten sie nach dem Anschluss zu spät, dass ihr Verbleib in Wien nicht zu Wohlstand und Ansehen, sondern in die Gaskammern des Dritten Reiches führen sollte.

Bis 18. Februar 2001

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