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Nathan gegen roten Pharao

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Sie sind keine Dissidenten, sie haben nur einen Wunsch: Ausreisen. Trotzdem reagiert Moskau hart. Welche Folgen hatdie Freilassung Schtscharanskis für die Juden in der UdSSR?

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Sie sind keine Dissidenten, sie haben nur einen Wunsch: Ausreisen. Trotzdem reagiert Moskau hart. Welche Folgen hatdie Freilassung Schtscharanskis für die Juden in der UdSSR?

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Die Freilassung des jüdischen Bürgerrechtskämpfers Ana-tol Schtscharanski wurde in der sowjetischen Öffentlichkeit mit keinem Wort erwähnt. Auch der spektakuläre Tauschhandel auf der Glienicker Brücke in Berlin war für die sowjetischen Medien keine Meldung wert.

Lediglich das jugoslawische Parteiblatt „Vjesnik“ meldete die Freilassung des jüdischen Bürgerrechtlers und fügte hinzu, diese habe Washington über „2 Millionen US-Dollar gekostet“. Ein weiteres „5-Millionen Dollar-Angebot“ für die Freilassung Andrej Sacharows haben die Sowjets „mit Entrüstung“ abgelehnt, will die jugoslawische Zeitung wissen.

Wie dem auch sei, der Westen hat eben keine Schtscharanskis

und Sacharows zu verkaufen, weil er niemanden der bloßen Gesinnung wegen einsperrt.

Eines ist schon jetzt gewiß: die Sache Schtscharanski hat den Sowjets gleich einen unangenehmen „Nebeneffekt“ beschert. Sie hat die Diskussion über die Lage der Juden in der UdSSR wiederbelebt, selbst KPdSU-Chef Michail Gorbatschow sah sich in seinem Interview mit dem französischen KP-Organ „L'Humanite“ gezwungen, auf das Thema Juden in der Sowjetunion einzugehen. Er wiederholte dabei Lenins altes Propagandalied von der „Gleichberechtigung aller Völker im Sozialismus“. Die Juden in der Sowjetunion, so Gorbatschow, verfügten über die gleichen Rechte wie die „Angehörigen anderer Nationen“.

Die Realität sieht jedoch anders aus: Die Pflege jüdischer Sprache und Kultur ist in der UdSSR nur im jüdischen autonomen Gebiet Birobidschan, unweit von Chaba-rowsk (Sibirien), erlaubt. In Birobidschan — von Stalin 1934 den sowjetischen Juden als „Siedlungsgebiet“ zugeteilt — lebt jedoch nur ein halbes Prozent der 1,8 Millionen Sowjetjuden.

Das Verbot, die jiddische und hebräische Sprache außerhalb Birobidschans zu lehren, hat dazu geführt, daß 1979, bei der letzten Volkszählung, nur noch 14 Prozent der sowjetischen Juden Jiddisch als Muttersprache angaben. Die rücksichtslose Assimilie-rungskampagne hat schließlich bewirkt, daß immer mehr Juden . die Sowj etunion verla ssen wollen. Als Ende der sechziger Jahre, quasi auf dem Höhepunkt der „detente“ (Entspannung), der sowjetische Ministerpräsident Aleksej Kossigin erklärte, man werde niemanden daran hindern, die Sowjetunion zu verlassen, nützten die Juden ihre Chance. In den siebziger Jahren reisten mehr als 200.000 Juden aus. 1979 war mit 51.000 jüdischen Auswanderern ein absolutes Rekordjahr.

Jüdische Hilfsorganisationen schätzen die Zahl derer, die heute noch auswandern wollen, auf über 100.000, das Regime behauptet dagegen, diejenigen, die ausreisen wollten, hätten bereits in den siebziger Jahren das Land verlassen.

Hinzu kommt, daß die Frage der jüdischen Auswanderung in der UdSSR keineswegs nur als Frage der jüdischen Emigration, sondern vielmehr als ein brisantes politisches Problem betrachtet wird. Wegen der 5 Millionen starken jüdischen Lobby in den USA betrachtet Washington das jüdische Auswanderungsproblem als

ein „konstitutives Element“ seiner Politik gegenüber Moskau. So knüpften die Amerikaner 1974 einen „vergünstigten Handel“ mit der Sowjetunion an die Höhe der jüdischen Auswanderung aus der UdSSR. Deshalb mußten ausreisewillige Juden zunächst einmal einen Spießrutenlauf durch die endlosen Korridore der Sowjetbürokratie absolvieren. Dieser wurde noch zusätzlich dadurch erschwert, weil das Sowjetregime jeden einzelnen Ausreiseantrag mit „ideologischer“ Elle maß.

Stereotype Frage: Ist der Antragsteller ein loyaler Sowjetbürger oder ein potentieller CIA-Spion? Für viele Juden endete der Behördengang schon bei der Einlaufstelle. Auf der anderen Seite beantwortete Moskau die Betonung der Menschenrechte in der amerikanischen Außenpolitik, insbesondere in der Ära Carter, mit einer Repressionswelle, der 1979 auch der jüdische Bürgerrechtler Anatol Schtscharanski zum Opfer fiel.

Heute hat in der ohnehin „frostigen“ Reagan-Ära die Frage der jüdischen Auswanderung nur noch einen geringen außenpolitischen Wert. Zwar wurde der bisher tiefste Stand von 904 Emigranten von 1984 im vergangenen Jahr mit 1140 ausgereisten überwunden, doch sind heuer im Jänner wieder nur 79 Juden in Wien registriert worden. Von denen waren wiederum nur 17 bereit, nach Israel weiterzureisen. Mit größeren Auswanderungskontingenten ist vorerst also nicht zu rechnen. Soviel zur jüdischen Auswanderungsfrage in der UdSSR. Auf einem anderen Blatt steht freilich

der von vielen Sowjetjuden beklagte latente Antisemitismus in der UdSSR, der immer giftigere Blüten treibt. In wohlbemessenen Dosen verabreichte Judenfeindlichkeit war im Ostblock immer schon ein bewährtes Mittel, den Unmut des kleinen Mannes in Krisenzeiten auf die Juden umzuleiten. Der Prager Slansky-Pro-zeß ist dafür nur ein Beispiel unter vielen. Heute ist es keine Sel-

tenheit mehr, daß führende Sowjetwissenschaftler wahre Haß-tiraden gegen die Juden und ihren Staat verfassen. Die angesehene Leningrader Zeitschrift „Newa“ veröffentlichte im vergangenen Jahr aus der Feder des Sowjethistorikers Lew Kornejew einen Artikel, in dem schlicht behauptet wird, daß die Zahl von 6 Millionen jüdischen Holocaust-Opfern „mindestens zwei- bis dreimal“ übertrieben sei. Selbst Adolf Eichmann sei laut Kornejew ein „Opfer von zionistischen Terroristen“.

Offiziell werden solche Tiefschläge als „Kampf gegen den Weltzionismus“ ausgegeben. Zu diesem Zweck ist auch das „Antizionistische Komitee der sowjetischen Öffentlichkeit“ gegründet worden, das zudem noch von regimetreuen Juden geleitet wird. Das Komitee, so die Gründungscharta, sei auf Bitte von zahllosen Sowjetbürgern gegründet worden, um den Kampf gegen den Zionismus als „gefährliche Spielart der bourgeoisen Propaganda des Westens“ voranzutreiben. In Wirklichkeit ist das Komitee ein Werkzeug der Sowjetpolitik, das Propagandafeldzüge gegen die jüdische Auswanderung und gegen Israel veranstaltet.

Das Außergewöhnliche an der

sowjetischen Variante des Antisemitismus ist dessen tiefe Verankerung im derzeit herrschenden außenpolitischen Dogma. Dem war aber nicht immer so. Zur Erinnerung: Anfangs unterstützte Moskau den neugegründeten Judenstaat. Allerdings war die ursprünglich positive Haltung der Sowjets gegenüber dem 1948 gegründeten Staat Israel lediglich von Stalins Wunsch geprägt, die damalige Position Großbritanniens im Nahen Osten zu schwächen. Damals galten die USA und Großbritannien als „araberfreundlich“. Also schickte der Ostblock via Tschechoslowakei und Jugoslawien Waffen nach Israel. Dies sollte sich dann durch dje arabisch-sowjetische Annäherung in der Nasser-Ära grundsätzlich ändern. Später entdeckten die Sowjets ihre „Südpolitik“, die nach Militärstützpunkten und Ölquellen des Mittleren Ostens zielte. Um als „Schutzmacht“ Libyens und des radikalen arabischen Lagers glaubhaft auftreten zu können, wurde es notwendig, den „Antizionismus“ und „Antisemitismus“ zum Bestandteil der offiziellen Politik der UdSSR zu machen.

Dieser seltsamen arabisch-sowjetischen Alljanz entsprang ein Dogma, das fortan die Politik der UdSSR sowie des radikal-islamischen Lagers überschatten sollte. Das Stichwort heißt „Zionismus“, dessen erklärtes Ziel nach sowjetischer Lesart die „Weltherrschaft“ sei. Von diesem Dogma will man in Moskau, Damaskus oder Bagdad nicht um ein Jota ab-> rücken.

Ein ähnliches „Kunststück“ will heute die sowjetische Propaganda mit der Gleichsetzung des Zionismus mit dem Hitler-Faschismus vollbringen. Dabei schreckt man selbst vor gröbsten Geschichtsfälschungen nicht zurück. In seinem Roman „Das gelobte Land“ schreibt der junge Sowjetschriftsteller Jurij Koles-nikow, die „Herren vom Zionistischen Komitee“ hätten wäh-

rend des vergangenen Krieges nicht die Juden geschützt, sondern mit den Chefs der Gestapo und der SS „gemeinsame Sache“ gemacht. Kolesnikow machte inzwischen Karriere und avancierte zum Stellvertretenden Vorsitzenden des „Antizionistischen Komitees der sowjetischen Öffentlichkeit“.

Das Auffallende an der ganzen Propagandakampagne besteht darin, daß der „Kampf gegen den Zionismus“ in keiner Relation zur „Bedrohung“ steht, die angeblich für den Sowjetstaat vom „Weltjudentum“ ausgeht. Die Juden in der UdSSR bedrohen erst recht niemanden, sie verfügen nicht einmal über eine eigene Republik im Sowjetstaat. Die meisten unter ihnen sind unpolitisch, ihr einziger Wunsch ist nur ein Ausreisevisum. Den besten Beweis dafür lieferte der sowjet-jüdische Bürgerrechtskämpfer Anatol Schtscharanski selbst, der bei seiner Ankunft auf dem Tel Aviver Flughafen „Ben Gurion“ erklärte: „Rote Pharaos sind in der Sowjetunion auferstanden und haben behauptet, wir, die Juden, hätten uns gegen ihr Regime verschworen. Doch nie und nimmer. Wir wollten einfach in unsere Heimat, in unser starkes und unabhängiges Land, ausreisen.“

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