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Und sie wandern immer noch...

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Viele Jahre ging alles ganz im Stillen vor sich: tagtäglich gelangten einmal kleinere, dann wieder größere Gruppen jüdischer Emigranten, zuerst vornehmlich aus Polen und Rumänien, später auch aus der Sowjetunion, per Eisenbahn nach Wien. Von hier wurden (und werden) sie samt ihren dürftigen Habseligkeiten, welche man sie hatte mitnehmen lassen, auf ein nahe bei Wien gelegenes Schloß gebracht, fast ohne Berührung mit österreichischen Behörden. Und wenig später verlassen sie Österreich wieder auf dem Luftweg in Richtung Israel.

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Viele Jahre ging alles ganz im Stillen vor sich: tagtäglich gelangten einmal kleinere, dann wieder größere Gruppen jüdischer Emigranten, zuerst vornehmlich aus Polen und Rumänien, später auch aus der Sowjetunion, per Eisenbahn nach Wien. Von hier wurden (und werden) sie samt ihren dürftigen Habseligkeiten, welche man sie hatte mitnehmen lassen, auf ein nahe bei Wien gelegenes Schloß gebracht, fast ohne Berührung mit österreichischen Behörden. Und wenig später verlassen sie Österreich wieder auf dem Luftweg in Richtung Israel.

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Hauptsächlicher Organisator.dieses nie abreißenden Menschenstromes ist die. Jewish Agency und sie legte aus vielen begreiflichen Gründen nie Wert darauf, daß davon allzuviel an die Öffentlichkeit gelangte. Schließlich mußten die Emigranten und ihre Hifsorganisation befürchten, daß Publizität in diesem Falle den Strom versiegen lassen könnte. Aus Gründen des politischen Prestiges der von den Juden verlassenen Staaten ebenso wie wegen der zu erwartenden arabischen Protestnote. 1971, schätzt man, seien es etwa 20.000, vielleicht sogar mehr gewesen, die auf diesem Wege nach Israel gelangten. Man hört aber auch die Zahl 50.000. Und da der Weg nicht nur über Österreich führt, dürften es insgesamt viel mehr sein.

Unerwartet plötzlich geriet dieser stille Menschenzug in das grelle Licht des politischen und propagandistischen Weltinteresses. Das fällt zusammen mit dem Umstand, daß allmählich die Anzahl der Emigranten, die aus der Sowjetunion, vornehmlich aus deren baltischen Provinzen kamen, stieg und stieg und schließlich zur großen Mehrheit wurde.

Zugleich begann eine weltweite Diskussion um das Schicksal der in Rußland lebenden Juden, die bald sowohl im Westen wie im Osten an Schärte zunahm. Zur polemischen Hitze gesellten sich bald, zum Beispiel durch die Aktionen des New Yorker Rabbiners Cahane und seiner gut organisierten Gruppe, aber auch durch vehemente Störfeuer aus arabischen Ländern, auch kämpferische Aktionen. Und nun ist überall davon die Rede. Pressekonferenzen — pro und kontra — werden abgehalten, von Israel, von der Jewish Agency und auch von sowjetischen Delegationen, die ihrerseits nach Israel reisten, um Material zu gewinnen. Dabei herrscht im Westen teilnehmende Empörung über die schwierige Lage der in den östlichen sozialistischen Staaten lebenden Juden vor, indes die von der Sowjetunion geführte Gegenkampagne von „infamen Intrigen der bourgeoisen chauvinistischen und reaktionären Zionisten“ spricht, die den „imperialistischen Zielen der USA in Nahost dienen“ und nichts anderes im

Sinne haben als den Israelis weiteres „Kanonenfutter“ zuzuführen.

Doch auch aus Israel selbst hört man von Schwierigkeiten und Problemen, die zuletzt sogar zu Aktionen und Demonstrationen führten. Denn dort werden die Neuankömmlinge von den schon lange Ansässigen nicht vorbehaltlos ohne Skepsis begrüßt. In der Tat verbinden sich mit dieser nie aufhörenden Wanderschaft großer Teile des weitverstreuten jüdischen Volkes eine ganze Anzahl schwierig zu begreifender und schwierig zu lösender Probleme.

Problem Nummer eins: Für die sozialistischen Staaten, ganz besonders aber für die Sowjetunion ist es peinlich genug, daß es einige Millionen Mitbürger gibt, die den gesellschaftlichen, sozialen und politischen Errungenschaften des Marxismus-Leninismus den Rücken kehren wollen. Ideologisch empfindsamen Systemen kommt so etwas nie gelegen. Dies um so weniger, als ja das System von sich behauptet, alle Gegensätze von Klassen, Rassen, Religionen und Völkern beseitigt zu haben. Wenn nun aber der Großteil der in Polen, Rumänien, in den baltischen Sowjetrepubliken und in Rußland selbst lebenden Juden ihre Heimatländer, in denen viele von ihnen schon unter dem Sozialismus geboren wurden und kein anderes System aus eigenem Erleben kennen, zu verlassen wünschen oder schon verlassen haben, muß eine solche Begegnung zwangsläufig den geäußerten Vermutungen Nahrung geben, es gehe ihnen dort schlecht. Die Behauptung, in diesen Ländern seien die jüdischen Mitbürger in größerer Anzahl unterprivilegiert und diskriminiert, erhält dadurch bedeutsame Indizien. Ein Umstand, der ein politisch-propagandistisches Spannungsfeld erzeugt.

Problem Nummer zwei: Die Sowjetunion steht in einem direkten Bündnisverhältnis mit den arabischen Staaten, die mit Israel, dem Ziel der Emigration, de facto im Kriegszustand leben. Die Immigration immer neuer Juden, gerade aus der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten, nimmt aber in den Augen der Araber die Dimension einer „biologischen Aufrüstung Israels“ an, weshalb diese immer lautere Vorwürfe gegen ihre „Schutzmacht“ erheben. Dadurch geraten aber die Schutzmacht und deren Verbündete in eine schwierige Klemme: nicht zuletzt um der „westlichen antisowjetischen Propaganda willen und einer Reihe weiterer Gründe läßt man dort die jüdischen Mitbürger ziehen — und handelt sich damit die Kritik der mühsam gewonnenen Freunde in der arabischen Welt ein. Das ist einer der Gründe, warum nun die Sowjetunion ihrerseits zu propagandistischen,Schläge ausholt, die zunächst weniger Israel als eben dem vermuteten „Hauptfeind Zionismus“ gelten.

Problem Nummer drei wächst in Israel selbst auf. Viele der Immigranten aus den Oststaaten verlassen ihre Heimat nicht aus politischen oder sozialen, sondern aus religiösen Gründen. Sie wähnten im fernen Israel jenen tiefreligiösen „Staat der Juden“ zu finden, der ungestört nach den strengen und gerade in der Diaspora gegen alle Widrigkeiten mühsam bewahrten orthodoxen Gesetzen lebt. Sie kamen in ein ungemein modernes, lebhaftes, eminent wirtschaftlich handelndes, progressives Land, in welchem die orthdoxe Minderheit eine Art beharrlicher, aber vergeblicher Opposition bildet, und das zudem einer ringsum belagerten Festung gleicht. Nicht wenige zeigten sich davon enttäuscht. Andere wiederum konnten sich nicht in die gänzlich ungewohnten Verhältnisse westlich-politischer Freiheit finden, nicht in das scharfe

Wettbewerbsklima und nicht in die so ganz anderen sozialen Verhältnisse. Sie wissen oft mit diesen neuen Bedingungen zunächst nichts anzufangen, haben es schwer, taumeln gleichsam umher — und einige von ihnen wünschen dann wieder zurückzukommen woher sie gekommen waren.

Doch dieser Weg ist lang, nicht selten unmöglich. In Rußland, in Polen und anderswo haben sie ihre Wohnungen verlassen, ihre Stellungen verloren, ihre Habe verkauft. Dort sieht man in ihnen „Verräter am Sozialismus“ und „Deserteure aus der sozialistischen Gemeinschaft“, man hat sie für immer „abgeschrieben“.

Neuerdings werden diese Re-Emi-granten allerdings im Zuge der propagandistischen Auseinandersetzungen auf besondere Weise eingesetzt: es erscheinen Sammlungen von Protokollen und Briefen, aus denen die „Enttäuschung über Israel“ spricht, gebündelte Beschwörungen, den „Lockungen des Zionismus“ nicht zu folgen.

Problem Nummer vier: In Israel hält sich die mit Bestimmtheit vorgebrachte Behauptung, absichtlich mische man unter den Zug der Emigranten auch solche, die dann in Israel früher oder später „Enttäuschung“ äußern und den Staat, der alle wo immer in der Welt lebenden Juden vorbehaltlos aufnimmt, in Mißkredit bringen sollen. Auch seien, wird versichert, stets eine Anzahl „echter Agenten“ darunter, die, wenn überhaupt, so nur schwer und oft erst nach langer Zeit auszumachen sind. Zwar unternehme Israel alles, um die schonungsvolle Eingliederung der Neuankömmlinge zu fördern, aber vieles davon brauche eben seine Zeit, um wirksam zu werden.

Daraus ergibt sich Problem Nummer fünf: Einerseits befürchten viele Israelis, unter den Ankömmlingen könnten sich eines Tages eigene, bisher in Israel nicht bekannte politische Gruppierungen herausbilden, die das politische Gesicht des Staates verändern würden und deshalb sei ein allzu großer Zuzug vorerst gar nicht wünschenswert. Anderseits kam es bereits zu Aktionen und Demonstrationen gegen die „öffentliche Bevorzugung“ der Einwanderer, die nun auch Wohnstätten, Arbeitsplätze und soziale Leistungen erhalten müssen, obgleich sie zur Wertschöpfung noch nichts beigetragen haben.

Diese fünf Hauptprobleme, ob sie nun intern israelische oder von anderer Art sind, nähren ununterbrochen die im Gange befindliche Propagandaschlacht, für die jede Seite ihre guten Gründe anführt. Dadurch entsteht in Israel selbst eine gewisse Skepsis, die noch durch den gelegentlich zu hörenden Einwand gesteigert wird, was denn erst geschähe, wenn nach und nach der Großteil der etwa drei bis vier Millionen in der Sowjetunion lebenden Juden nach Israel gelangt sei und dann den größeren Teil der Bevölkerung des Staates ausmachte? Eine Frage, die nicht ohne politische Brisanz ist.

Wie bisher immer überwiegt in Israel freilich der Optimismus, so wie mit allem, nun auch mit diesen Problemen fertig zu werden. Es gibt direkte Kontakte mit den Oststaaten, die zweifellos der „Klimaverbesserung“ dienen sollen und die ja den nicht abreißenden Zuzug der Emigranten eigentlich erst möglich machen, auch wenn sowjetische Resolutionen zur gleichen Zeit „den Zionisten“ vorwerfen, „den reaktionären Anspruch zu erheben, sich alle Juden, WQ^irnme sie in.der Welt auotaleteft'. unterzuordnen“. Daß diese angefeindete Verhaltensweise und Bewußtseinsbildung der Juden jedoch das Ergebnis eines mehrtausendjährigen, schmerzlichen Umwelterlebnisses sind, welches dem jüdischen Volk in Ghettos, in der Diaspora und stets von Progromen und Vernichtungswellen in seiner Existenz bedroht, zuteil wurde, müßte jedoch gerade den Anhängern und Kennern des historischen und dialektischen Materialismus geläufig sein. Doch die Brunnen, aus welchen die Weltöffentlichkeit schöpft, geben niemals so klares Wasser her. Was dem einen Heimkehr ist, gilt dem anderen als Verrat, und das zutiefst menschliche Problem wird von politischen Absichten und Vorwänden bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Der stumme Zug der Emigration schlängelt sich indes durch die politische Kulisse, deren Arrangement regelmäßig die Einsicht verstellt, daß der Mensch das Ziel und nicht das Objekt der Politik sein sollte.

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