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Terpentineinwanderer

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Es war ein Schock, den die Familie Kristul aus Lwow (Lemberg) in Israel erlebte: das Riesenangebot an Waren hatte sie ihr ganzes Leben lang noch nicht gesehen. Ein zweiter Schock folgte: Die Sowjet-Auswanderer mußten feststellen, daß man sie in den Kaufhäusern nicht verstand. Sogar die wenigen Brocken Jiddisch, die die Kinderärztin Ludmilla und ihr Mann, Boris Kristul, ein Fotograf, noch aus ihrer Kindheit konnten, halfen nicht weiter. Zwar waren sie nach vierstündigem Warten auf dem Flughafen in Tel Aviv Israelis geworden, aber jetzt wissen sie nicht weiter. Sie wissen nicht, wohin sie ihren Kopf legen sollen, was sie morgen essen oder ob sie Arbeit finden werden. Die meisten Sowjetjuden, die jetzt in Israel ankommen, sprechen nur Russisch - und kaum

jemand in Israel versteht diese Sprache. Der Auswandererstrom hört nicht auf und droht fast, den kleinen Judenstaat zu erdrücken. Am Flughafen Ben Gurion bei Tel-Aviv werden sie von den Beamten des Eingliederungsministeriums empfangen, registriert und erhalten ihre Identitätskarten, und wichtiger noch Geld zum Leben, um sich eine Wohnung zu mieten.

Zirka 200.000 Neueinwanderer kamen aus der Sowjetunion in diesem Jahr an. Sie sind jedoch nur die Vorboten des großen Massenexodus der Juden aus dem Ostblock. Viele erinnerten sich erst vor kurzer Zeit daran, daß sie Juden sind und nach Israel auswandern können. Sie kamen teils, weil sie endlich unbehelligt als Juden leben wollen, doch die meisten einfach, weil sie aus der Sowjetunion heraus wollten, und Israel das einzige Land ist, welches sich jede Mühe gibt, um sie aufzunehmen.

Man nennt die Sowjetjuden im Volksmund „Terpentineinwanderer", denn mit ihren europäischen Manieren verdünnen sie den levan-tinischen Einfluß der orientalischen Juden, die bisher die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung bildeten. Viele behaupten, daß Israel sich in wenigen Jahren in eine weitere „ Sowjetrepublik" verwandeln wird. Je-

denf alls gibt es hier schon zwei russische Tageszeitungen, vier Wochenblätter in dieser Sprache, zwei russische Theater, drei russische Marionettentheater, sowie Hunderte Musiker, Opernsänger, Dirigenten und Maler.

Leicht haben es die Neueinwanderer nicht. Es beginnt bereits mit der Wohnungssuche. Leichter haben es Leute mit Verwandten in Israel. Schwieriger sind diejenigen dran, die hier keine Verwandten haben, die ihnen beistehen. Heute gibt es schon Tausende Familien, die solche Leute „adoptieren", um ihnen bei den ersten Schritten im Lande behilflich zu sein und sie" auch zu den Wochenenden einladen, damit sie sich nicht verlassen fühlen. Trotzdem passiert es manchesmal, daß Neueinwanderer ausgebeutet werden. Meist bei Wohnungsmieten. Die Wohnungsmakler für die Neueinwanderer sind zumeist russische Juden, die schon einige Jahre im Lande sind, die versuchen, den Neuankömmlingen auch Wohnungen zu Wucherpreisen zu vermitteln.

Inzwischen wird die Wohnungs-

not immer größer. Es wurden bereits einige tausend Wohnwagen bestellt, um für die erste Zeit als Unterkunft zu dienen. Sogar zwei bis drei Familien wohnen in einer Wohnung. Für ein Jahr haben die Neueinwanderer Wohnungsgelder erhalten, wobei die Mieten bereits immens gestiegen sind. Danach sollten sie in neue Wohnungen übersiedeln, doch müssen diese erst gebaut werden. Zur Zeit sollen 40.000Bauarbeiterausgebildet werden, bis dahin wird eben weniger gebaut, doch der Einwandererstrom läßt nicht nach.

Als seinerzeit, in den siebziger Jahren, zirka 200.000 Sowjetjuden kamen, konnten diese in den bestehenden Unternehmen unterkommen, heute jedoch gibt es bereits zirka 100.000 Arbeitslose. Ohne Neueinwanderer (zirka acht Prozent der Beschäftigten). Im letzten Jahr gab es zwar einen kleinen Aufschwung in der Wirtschaft, trotz des völligen Ausbleibens von über einer Million Touristen, die wegen der Golfkrise nicht kamen. Doch genügt dies nicht. Nur mit neuen Betrieben und dem Aufbau neuer

Industriezweige kann man diesen Einwandererstrom absorbieren. Hierzu braucht man jedoch ausländische Investitionen. Diese bleiben jedoch auch aus. Die Golfkrise und der Araberkonflikt wirken hier bremsend.

Zu all diesen Schwierigkeiten gesellt sich die israelische Bürokratie sowie die Unfähigkeit der heutigen israelischen Regierung, ein solch großes Unternehmen wie diese Masseneinwanderung zu meistern. Das Finanzministerium hat zwar Pläne ausgearbeitet, diese Neueinwanderung zu finanzieren, doch sah es sich gezwungen, ein Defizit von drei Milliarden Dollar mit einzuplanen, und dies mit einer vorgesehenen Einwanderung von 300.000 Personen jm Jahr 19 91. Heute nimmt man an, daß wahrscheinlich bis zu 600.000Juden kommen werden. Insgesamt sind bis jetzt 1,210.000 für die Einwanderung registriert. Die Frage ist, ob sie alle kommen wollen oder können, denn die Sowjetbehörden sind nicht fähig, mehr als 30.000 pro Monat abzufertigen.

Um internationale Finanzhilfe im großen Ausmaß zu erhalten, müßte Israel an erster Stelle seine Position im Palästinenserkonflikt ändern, auf die besetzten Gebiete verzichten oder wenigstens auf den Großteil dieser, um dort einen Palästinenserstaat errichten zu können. Dies würde bedeuten, daß Jizchak Schamir und seine Likud-Partei die Idee von Großisrael aufgeben müssen.

Zionismus bedeutet, daß die Mehrheit des jüdischen Volkes sich in Israel konzentriert. Das Großisrael, das an Stammvater Abraham gottverheißene Land, ist hingegen nur eine religiöse Idee, die sich nach Ansicht vieler erst zu Messias Zeiten verwirklichen läßt. Aber nur ein großer Führer, wie es David Ben ,Gurion war, wäre fähig, völlig umzudenken und solch einen weittragenden Beschluß zu fassen. Jizchak Schamir ist nicht dieser Mann. Inzwischen wartet man in Israel wieder einmal auf Wunder.

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