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Die Familie in Israel

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In den Jahren knapp nach dem ersten Weltkrieg und in der Zeit, da sich die ersten Anzeichen eines „praktischen“ Antisemitismus, zuerst in Polen, Rußland und in der Ukraine und nachher in Deutschland, bemerkbar machten, waren die Einwanderer — gleichviel ob sie allein oder in kleinen organisierten Gruppen kamen — zumeist Einzelgänger, junge Pioniere ohne Familie, die häufig sogar gegen den Willen ihrer Familie Europa verließen, um am praktischen Aufbau einer neuen sozialen und nationalen, bewußt oder unterbewußt religiös konzipierten Ordnung teilzunehmen. Es war also eine Einwanderung vornehmlich unverheirateter Menschen, potentieller Familiengründer. Ein Großteil von ihnen schloß sich sofort zu einer neuartigen, die Familie ersetzenden Grundeinheit — Kibbuts oder Kvutsah — zusammen, welche in den ersten Jahren tatsächlich, eine Art synthetischer Familie bildend, die Grundzelle einer den alten Begriff des Stammes ersetzenden Gemeinschaft wurde. Mit der allmählichen Verbreiterung und Vergrößerung dieser Kollektive setzte aber — durchaus im Gegensatz zu einer von den ersten Verfechtern der Kibbutsidee wohl uneingestandenen, aber erhofften schließlichen Eliminierung der Familienzelle — ein sozusagen rückläufiger Prozeß ein: die Mitglieder der Kollektive heirateten untereinander, und allmählich, mit fortschreitendem Alter der Paare, trat der natürliche Hang auch nach einer privaten Gemeinschaft immer stärker in Erscheinung, so daß sich heute in dieser Beziehung keines der vielen Kollektivdörfer Israels von irgendeinem Bauerndorf irgendwo in der W~'f linterscheidet.

Auf die Jahrzehnte der Einwanderung freiwilliger Pioniere folgte die Masseneinwanderung, welche sehr schnell den Charakter einer kleinen Völkerwanderung mit allen ihren sozialen Symptomen annahm. Das heißt vor allem, daß nun ganze Familien einwanderten, wobei aber in der Typologie dieser Migration eine sehr scharfe Trennungslinie zwischen den aus Europa und den aus den asiatischen und aus-den nordafrikanischen Lebensräumen Kommenden gezogen werden muß. Die Familien, denen es gelang, sich vor dem Nazismus zu retten, waren Familieneinheiten im westlichen Sinn: aus dem Elternpaar und zumeist nur wenigen Kindern bestehende kleinste biologische, ökonomisch und sozial basierte Gruppen. Die Familien aber, welche, entweder der beinahe mes-sianisch wirkenden Idee eines unabhängigen jüdischen Staates folgend, aufbrachen — zumeist aus den südarabischen Ländern — oder aber dem Druck fanatisierter mosleminischer Massen, wie besonders in Nordafrika und im Irak, weichen mußten, stellen eine durchaus andersartige Gesellschaftszelle dar. Ihre Struktur ist nicht nur die einer privaten Zelle ökonomisch-sozialer gegenseitiger Hilfe ihrer Mitglieder, sondern eine solche, die gleichzeitig auf einem überaus starken, bis in die letzten Konsequenzen — in manchen Fällen sogar noch bis in die mythischen Tiefen der Blutrache - wirkenden Familien-bewußtsein aufgebaut ist. Diese Tatsache des Auftretens zweier völlig anders organisierter und auf völlig anderer Mentalität beruhender Familientypen brachte natürlich eine Fülle nicht allzuleicht zu bewältigender Probleme sowohl administrativer wie auch psychischer Art mit sich, denn der Staat, in den sie einwandern, ist ein moderner, auf westlich-demokratischen Grundprinzipien aufgebauter. Die kleine, nennen wir sie der Einfachheit wegen die westliche Familie, schichtet sich in die bereits vorhandene Gesellschaft des jüdischen Sektors ohne besondere Schwierigkeiten ein. Anders aber die orientalische, deren Voraussetzungen derartige waren (““d sind), daß sie sich, würde es sich nicht um religiös-national jüdisch determinierte Gruppen handeln, weit besser in die Gesellschaft des arabischen Sektors einschichten würde. Es kam, um nur ein Beispiel zur Erläuterung dieser Problematik zu geben, vor einigen Jahren folgender Fall vor: Eine Art Quartiermeister einer jüdisch-afghanischen Familie kam zu den Einwanderungsbehörden in Israel und teilte mit, daß seine Familie, im Aufbruch begriffen, in Kürze ankommen werde und die Behörden bitte, sie mögen sie beisammen lassen, also, ohne sie auf mehrere Dörfer aufzuteilen, an einem Ort ansiedeln. Die gewünschte Zusage wurde gegeben, der Abgesandte erfuhr auch bereits den Namen des Dorfes, aber als die Familie eintraf, erwies es sich, daß das Versprechen von einem Beamten gegeben worden war, der noch mit westlichen

Verhältnissen rechnete. Die Familie bestand nämlich aus etwa 240 Seelen, die, wie in allen Zeiten seit Beginn der Historie, zusammen in einer Siedlung unter der Herrschaft des Familien- oder, besser gesagt, des Genusältesten lebte. Da dieser Klan sich demnach unter keiner Bedingung aufteilen lassen wollte, mußte ihm ein eigenes neues Dorf eingeräumt werden.

Diese Art der Familie, wohl deren Urform, hat sich ohne wesentliche Verfassungsänderung aus den klassischen Zeiten der Bibel im Orient bis heute erhalten. Sie ist die Grundzelle des Klans, welcher eine Unterabteilung des Stammes darstellt. Die Stammesverfassung ist im jüdischen Volk mit der Zerstreuung verschwunden, so daß heute nur noch Abkömmlinge der Priesterfamilien, der Kohanim und der Lewiim, mit einiger Sicherheit ihre Stammeszugehörigkeit kennen. Die Familienverfassung aber ist erhalten geblieben, beinahe überall, wo die Juden außerhalb der alles nivellierenden großen Städte in den Dörfern des arabischen Ostens leben. Dies nicht nur aus Gründen überaus stark entwickelten Familiengefühls, sondern auch aus ökonomischen Gründen und vor allem schon deshalb, weil ja auch die sie umgebende nichtjüdische — arabische, kurdische, berberische — Landbevölkerung in Familieneinheiten organisiert lebt.

Im arabischen und im drusischen Sektor Israels sind die Verhältnisse mehr oder weniger ähnlich den benachbarten arabischen Staaten. Der Familienzusammenschluß ist in den Städten nicht so stark ausgeprägt wie in den Dörfern, aber zweifellos noch immer ein nicht unwichtiger gesellschaftlicher Faktor, wobei er bei den Mohammedanern stärker ins Auge tritt als bei den Christen. In den Dörfern hingegen, sowohl in den mosleminischen wie in den christlichen, ist er wie eh und je die Dominante des gesellschaftlichen Lebens. Zumeist sind es zwei oder drei Familien, aus denen die Einwohnerschaft eines Dorfes besteht, in manchen Fällen sogar nur eine, wie zum Beispiel in dem jedem Touristen bekannten Dorf Abu-ghosch an der Straße von Tel Aviv nach Jerusalem. Hier führt jeder der etwa zweitausend Einwohner den Familiennamen Abu-ghosch. Daß eine derart straffe Scheidung zwischen Familien, das heißt in vielen Fällen zwischen differenten Schicksalsund Traditionsgruppen, sehr oft zu Dorfstreitigkeiten, ja sogar zu jahrelang sich hinziehenden Kämpfen führen kann, ist alltäglich.

Am stärksten ausgeprägt, der Tradition und der Mentalität der Wüste entsprechend, ist die Familienorganisation, das Familiengefühl und die Familiensolidarität bei den beduinischen Nomaden, gleicherweise aber auch bei den beduinischen Halbseßhaften. Ihre — halbfeudale — Stammesverfassung wäre ohne Familie — im weitesten Sinn — nicht denkbar. Hier ist das Familienoberhaupt absoluter Herrscher — bis zur Sklavenbefreiung, sofort nach der Proklamation des Staates Israel im Jahre 1948, gehörten auch die schwarzen Sklaven in jeder Beziehung zur Familie —, der für seine Leute bis zur letzten Konsequenz eintritt.

Für weit mehr als die Hälfte der Bewohner Israels ist die Familie heute noch eine feststehende Einrichtung von fast religiöser Voraussetzung des Lebens. Wie lange sie aber dem allmählichen Fortschreiten einer durchaus anders gearteten westlichen Zivilisation standhalten wird, zumindest ohne in kleine „westliche“ Familieneinheiten aufgelöst zu werden, ist eine Frage, deren Beantwortung vor allem davon abhängt, ob eine andersgeartete innergesellschaftliche Bindung von gleicher Stärke sich entwickeln wird. Wenn auch ein Zerfall der großen Familieneinheiten hier ein der Entwicklung entsprechender, also natürlicher sein wird — nicht kunstlich, wie im heutigen China ein unter dem Druck einer mechanistischen Staatsdoktrin hervorgerufener —, wird die Reaktion des dem Menschen natürlichen Zusammengehörigkeitsgefühls eine ebenso natürliche sein. Der Stamm, ja sogar der Klan wird über kurz oder lang seine Funktionsnotwendigkeit eingebüßt haben. Die Familie aber kann nicht aufhören zu existieren, ohne zugleich die Existenz ihrer Dachorganisation, des Staates, zu gefährden.

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