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Gefährliche Wandlungen

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Nach einer Mitteilung des Ministeriums für Landwirtschaft fehlen unserem Lande für die restlose Durchführung des heurigen Anbauplanes 70.000 Arbeitskräfte. Infolge unüberwindlicher Devisenschwierigkeiten müssen sie zur Gänze im Inland gewonnen werden. Durch Aufruf freiwilliger Helfer unter den „Versetzten Personen“ und aus den Städten und Industriegebieten, durch die Heranziehung Nichtvollbeschäftigter, von Studierenden und Lehrern, durch Ortshilfen bei gleichzeitiger Gewährung von Lebensmittelprämien als besonderem Anreiz glaubt man diesen Mangel ausgleichen zu können. Da es sich hier aber meist um der Landwirtschaft fremde und auch der harten Bauernarbeit ungewohnte Helfer handelt, stellt eine solche Hilfe begreiflicherweise in vielen Fällen keinen vollwertigen Ersatz für die Bauern dar.

Woher diese außerordentliche Not?

Überprüft man die Stimmen, die des Landwirtschaftsministeriums mit eingeschlossen, die zu den Ursachen unseres Landarbeitermangels Stellung nehmen, so ist nach ihnen die „Landflucht“ dafür verantwortlich zu machen, die gerade nach dem letzten Weltkrieg wieder in argem Maße eingesetzt haben soll. Die Diagnostiker, die ihr die Hauptschuld zumessen, scheinen bei nicht tiefschürfender Betrachtung recht zu haben; denn groß ist die Zahl der jugendlichen Menschen, die aus den Landbezirken in die Städte strömen. Der Aufbau der Polizei, der Gendarmerie, der Finanz- und Zollwache usw. im neuen Staate zog und zieht allein eine beträchtliche Menge heimkehrender Soldaten an sich. Nach den vielen Jahren Soldatendienstes, der sie durch ganz Europa und selbst in fremde Erdteile geführt und nolens volens ihren Horizont geweitet hat, verspüren die besitzlosen Heimkehrer meist keine Lust mehr, sich als einfache Landarbeiter zu verdingen, um so mehr, als sie die wirtschaftliche und soziale Not unseres Landarbeiterstandes sehen, die die Gründung einer eigenen Familie nahezu ausschließt und außerdem dem Landarbeiter keine Möglichkeit für sozialen Aufstieg bietet. Statistische Untersuchungen bestätigen diese Not, indem sie den praktischen Ausschluß des Landarbeiterstandes von den Bildungsgütern der Menschheit deutlich aufzeigen: nur 0,3 Prozent aller Studierenden stammen aus Familien von Landarbeitern.

Um der Landwirtschaft die nötigen Arbeitskräfte zu sichern und der Landflucht wirksam zu begegnen, fordern so alle Stellen und Körperschaften des Staates, ob parteigebunden oder nicht, mit Recht die Verbesserung des Lebensstandards und der sozialen Stellung des Landarbeiters und ihrer Verankerung durch die Schaffung eines gediegenen Landarbeitergesetzes. Für seine Durchführung wird sich freilich auch eine umfassende wirtschaftliche Besserstellung der Landwirtschaft überhaupt, besonders bei Eintritt normaler Ernährungsverhältnisse, als notwendig erweisen

Und dennoch würde das schönste Landarbeitergesetz, das zur Besserstellung unseres ärmsten Standes im Staat kommen muß, im Verein mit der Besserstellung der Landwirtschaft selbst den empfindlichen Mangel an Landarbeitern nicht beheben, solange seine eigentliche Ursache übersehen und nicht gebannt wird. Denn für den tieferschenden Beobachter und Diagnostiker ist die eigentliche Wurzel des Übels durchaus nicht d i e Landf1ucht — dies traf mit beginnender Industrialisierung Europas allein nur seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts bis nach dem ersten Weltkrieg zu —, sondern vielmehr der zu geringe Nachwuchs unserer bäuerlichen B e v ö 1 k -rung, ihre beängstigend stark nachlassende Geburtenfreudigkeit, wie sie durch die fortschreitende Verstädterung unseres Bauernstandes ausgelöst worden sind. Und diese Verstädterung ist um so stärker wirksam, je näher sich das Bauernland im Ausstrahlungsbereich der Großstadt Wien und der übrigen großen Städte unseres Vaterlandes befindet. Der Bauer ist im Begriffe, ein anderer zu werden. Diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten. Dort aber, wo für das Leben der Gemeinschaft Abträgliches sich herauszubilden droht, muß von den verschiedenen verantwortlichen und berufenen Stellen und Körperschaften innerhalb der Gesellschaft und des Staates regulierend eingegriffen werden.

Beobachtungen, die mich in verschiedenen Gebieten der engeren Heimat auf die wahre Ursache des Landarbeitermangels hinwiesen, veranlaßten mich, zur Bestätigung meiner Einsicht Untersuchungen anzustellen.

In einer vorbedadnlos gewählten Landgemeinde im Kremser Becken, die aus zwei Dörfern besteht und deren Bevölkerung sich, mit Ausnahme des Pfarrers, der Lehrer-, Handwerker- (Tischler-, Binder-, Schmied-, Schuhmacher-, Kaufmanns-) und einigen wenigen Arbeiterfamilien, nur aus bäuerlicher Bevölkerung zusammensetzt, entstammen 113 Ehegemeinschaften, beziehungsweise Frauen, nur 251 Kinder; davon entfallen auf:

3 Ehegemeinschaften 0 Kinder

34 Ehegcmeinsdiaften,

bezw. Frauen mit je 1 Kind = 34 Kinder 39 Ehegemeinschaften,

bezw. Frauen mit je 2 Kindern = 78 Kinder 21 Ehegemeinschaften,

bezw. Frauen mit je 3 Kindern = 63 Kinder 10 Ehegemeinschaften,

bezw. Frauen mit je 4 Kindern = 40 Kinder 3 Ehegemeinschaften,

bezw. Frauen mit je 5 Kindern = 15 Kinder 1 Ehegemeinschaft,

bezw. Frau mit 6 Kindern = 6 Kinder 1 Ehegemeinschaft,

bezw. Frau mit 7 Kindern = 7 Kinder 1 Ehegemeinschaft,

bezw. Frau mit 8 Kindern = 8 Kinder Zusammen 113 Ehegemeinschaften, bezw. Frauen mit zusammen 251 Kindern.

Dies ergibt einen Durchschnitt von nur 2 Kindern (genauer 2,2 Kindern) für eine Ehegemeinschaft. Da bei Berücksichtigung der Todesfälle (frühzeitiger Tod durch Krankheit, Unglücksfälle, Kriege und anderer Faktoren) 3 Kinder je Familie für den bloßen Fortbestand einer Gemeinschaft notwendig sind, erscheint, rein theoretisch betrachtet, bei der augenblicklichen geringen Geburten- und Nachwuchsfreudigkeit nicht einmal der Nachwuchs für die Führung der einzelnen bäuerlichen Wirtschaften gesichert. Noch weniger kann bei einem derartigen Geburtenstande infolge der natürlichen Abwanderung der überzähligen Kinder aus kinderreichen Bauernfamilien in ein Handwerk, in städtische Berufe, zum Studium oder durch Verheiratung der Mädchen mit einem natürlichen Nachwuchs von Landarbeitern gerechnet werden.

Wie gefährlich sich eine derartige Bevölkerungsbewegung — von ihrer rein bevölkerungspolitischen Gefahr für die gesamte Staatsgemeinschaft abgesehen — für den Nachwuchs an ländlichen Arbeitskräften bereits heute geltend macht und später sich noch unheilvoller auswirken muß, weil sie die Landwirtschaft trotz ihrer zunehmenden Technisierung vor unüberwindliche Schwierigkeiten in der Beschaffung der nötigen Arbeitshände zu stellen droht, wird erst richtig offenbar, wenn wir die geringe Geburten- und Kinderfreudigkeit der bäuerlichen Ehegemeinschaften der gegenwärtigen Generation mit der Fruchtbarkeit der bäuerlichen Ehen in der unmittelbar vorangehenden Generation, also jener der Väter und Mütter der ersteren vergleichen.

18 bäuerliche Ehepaare des einen Dorfes aus der gewählten Landgemeinde, bei denen kein nennenswerter Zuwachs mehr zu erwarten ist, besitzen bei einer Anzahl von 1 bis 7 Kindern je Ehegemeinschaft zusammen nur 46 Kinder, während die Anzahl der Kinder in der früheren Generation, bei den Eltern dieser Ehepaare, bei 1 bis 11 Kindern je Familie in der mütterlichen Linie noch 81, in der väterlichen gar 96 Kinder betrug.

Von durchschnittlich 4 bis 5 Kindern je bäuerliches Ehepaar in der vorausgehenden Bauerngeneration sank die Kinderzahl in der heutigen für die Fortpflanzung in Betracht kommenden Generation auf durchschnittlich nur 2 Kinder je Ehepaar.

Ist das nicht eine bedenkliche und die Aufmerksamkeit aller erheischende Entwicklung?

Wie wirkte sie sich allein für die genannten 18 Höfe aus?

Vermocht bei der vorausgehenden Generation mit kinderreicher Fami-Kengrundlage auf zehn Höfen die landwirtschaftliche Arbeit, von nur gelegentlicher Aufnahme von Taglöhnern für dringende Erntearbeiten da und dort abgesehen, allein mit Hilfe der Familienmitglieder bewältigt werden, so hätten heute dieselben zehn Höfe trotz moderner, menschensparender landwirtschaftlicher Maschinen infolge des zu geringen eigenen Nachwuchses einen ständigen Mindestbedarf von 22 Knechten und Mägden; aber nur sechs Landarbeiter vermochten sie tatsächlich zu gewinnen, so daß 16Landarbeiter allein fürdiese zehn Höfe fehlen. Der elfte Hof, der für die Familien seiner Landarbeiter Wohnungen und teilweise sogar Pachtgründe für eigene kleine Wirtschaften zur Verfügung stellen kann, verfügt allein über die Landarbeiter, die für die Durchführung der Landarbeiten notwendig sind. Die übrigen sieben landwirtschaftlichen Betriebe vermögen nur infolge ihrer geringen Bodenfläche oder der nötigen Anzahl mitarbeitender Familienmitglieder die Arbeit ohne fremde Hilfe zu bewältigen.

Das auffallende Nachlassen der Geburtenfreudigkeit in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten innerhalb unserer bäuerlichen Bevölkerung, die die letzte Bastion in der aktiven Bevölkerungsbewegung gebildet hat, und der dadurch bedingte Rückgang des bäuerlichen jugendlichen Nachwuchses erklären neben anderen zweitrangigen Faktoren (geringere landwirtschaftlich Stärke, bisweilen zu große Entfernung vom Schulort, vielfach auch geringere Aufgeschlossenheit gegenüber der Schule und ihren Bildungsgüter), warum unsere bäuerliche Bevölkerung einen verhältnismäßig o bescheidenen Hundertsatz unter den Studierenden an den österreichischen Mittel-und Hochschulen stellt (nach Untersuchungen an der Grazer Universität 7,1 Prozent, an den Kremser Mittelchulen 7,4 Prozent der Studierenden männlichen und weiblichen Geschlechtes, gegenüber 28,1 Prozent, beziehungsweise 27,5 Prozent der Studierenden, die beispielsweise aus den Familien der Arbeiter und diesen wirtschaftlich ziemlich nahestehenden kleinen Staats- und Gemeindebeamten ohne Mittelschulvorbildung stammen); denn nur kinderreiche Bauernfamilien können es sich heute im allgemeinen leisten, ohne den landwirtschaftlichen Betrieb schädigen zu wollen, ein Kind oder gar mehrere studieren zu lassen und sie einem Intelligenzberuf zuzuführen. Untersuchungen in den oberen Klassen der Kremser Mittelschulen (Fünfzehn- bis Neunzehnjährige) bestätigen auch, daß die studierenden Bauernkinder meist aus kinderreicheren Familien (3 bis 9 Kindern) stammen. Aber selbst hier werden die kinderreicheren Familien der gegenwärtigen bäuerlichen Generation durch die noch größere Kinderfreudigkeit der unmittelbar vorangehenden um ein beträchtliches Maß übertroffen. Während die Familien von 22 befragten Obermittelschölern und -Schülerinnen insgesamt 83 Kinder (durchschnittlich nahezu 4 Kinder je Familie) zählen, erreichten die Familien ihrer Großväter und ihrer Großmütter — es wurden bi zu 12 Geschwister genannt — noch 111, beziehungsweise 113 Kinder (also durchschnittlich 5 Kinder je Familie).

Welche Gründe wirkten nun in unserem Bauernstand zu dieser empfindlichen Geburteneinschränkung zum eigenen Schaden und darüber hinaus zum Schaden der Gesellschaft?

Die Befragung der verschiedenen bäuerlichen Ehepaare führte zur Aufdeckung all der mannigfachen Beweggründe, die in früherer Zeit den Adel verschiedener Herkunft, in späterer Zeit den Bürgerstand und in neuerer Zeit die große Masse der Arbeiter zum Übergang vom Mehrkindersystem zum Ein- und Zweikindersystem veranlaßten: das Bestreben, den bäuerlichen Besitz einmal möglichst ungeteilt, unverschuldet und wirtschaftsfähig an den Erben des Hofes zu übergeben; möglichst gute Versorgung des anderen oder der wenigen anderen Geschwister des Erben oder der Erbin des Hofes durch gute Einheiraten, durch Erlernung eines Handwerks oder vielleicht auch eines gehobenen Berufes; Bequemlichkeitsstandpunkt: viele Kinder schaffen nur erhöhte Sorgen; Angst vor Kriegen, in denen die Kinder nur als Kanonenfutter Verwendung finden; die Pflege und Aufzucht einer größeren Kinderschar stellt bei dem chronischen Landarbeitermangel eine untragbare zusätzliche Belastung für die bereits arbeits-überbürdete Bäuerin dar; die zusätzlichen Kosten, die durch mehr als ein Jahrzehnt und länger durch das Aufziehen einer größeren Kinderschar entstehen, obwohl da und dort die Einsicht vorhanden ist, daß solches Denken im Hinblick auf die helfenden Hände, die dadurch dem Hofe verlorengehen, kurzsichtig ist.

Die durchgeführten Untersuchungen und Befragungen lassen deutlich erkennen, welche tiefgreifende geistig-seelische und soziale Umschichtung lieh innerhalb unseres Bauernstandes vollzieht. Sie zeigen aber auch mit eindringlicher Klarheit, daß die Überwindung unseres Landarbeitermangels nicht nur ein wirtschaftliches und soziologisches, sondern vor allem auch ein zu lösendes geistig-seelisches und geistliches Problem darstellt. Und gerade in den beiden letzten Faktoren liegen auch die größten Schwierigkeiten für die Lösung des Problems begründet, denn unsere bäuerliche Bevölkerung ist im Begriffe, ihrer bislang gesunden und ihrem Tun eigentümlichen Überzeugung untreu TO werden, daß jedes gesunde, starke Leben gemäß der ihm innewohnenden gebieterischen Kräfte gedeiht und sich, allen Hindernissen trotzend, schließlich doch durchringt; sie scheint aber auch vielfach in ihrem religiösen Besitz erschüttert worden zu sein, aus dem sie das Vertrauen empfing, daß, wer, innerlich stark auf Gott vertrauend, stets unbeirrt seine tägliche Pflicht erfüllt, nicht allzu ängstlich um das Morgen und die Zukunft besorgt zu sein braucht.

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