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Mehr Mut zum Experiment fur die Familie Personlicher Einsatz ist besser als Geld

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Ist die Familie heute überhaupt noch wert, erhalten zu werden? Bundespräsident Kirchschläger sagte ja, denn sie ist die Basis für die Entfaltung des Menschen und damit auch für den Staat. Der Katholische Familienverband wollte die Stellung der Familie in der sich wandelnden Industriegesellschaft untersuchen und lud daher Fachleute zu einem Symposion nach Baden.

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Ist die Familie heute überhaupt noch wert, erhalten zu werden? Bundespräsident Kirchschläger sagte ja, denn sie ist die Basis für die Entfaltung des Menschen und damit auch für den Staat. Der Katholische Familienverband wollte die Stellung der Familie in der sich wandelnden Industriegesellschaft untersuchen und lud daher Fachleute zu einem Symposion nach Baden.

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Die moderne Kleinfamilie ermöglicht dem Kind zu wenig Möglichkeiten der Bildung dauerhafter personaler Beziehungen, welche die mehrere Generationen umfassende Familie der vorindustriellen Zeit durchaus geboten hat. Dieser die Persönlichkeitsentwicklung störende Mangel kann durch Kindergärten, Horte und Ganztagsschulen nicht behoben werden, weil sie nur Bezugsmöglichkeiten zu Gleichaltrigen eröffnen, nicht aber zu Menschen verschiedener Altersstufen.

Die Forschergruppe Fuchs, Gaspari und Millendorfer hat untersucht, ob bestimmie Familienstrukturen mit bestimmten Verhaltensweisen der europäischen Bevölkerung zusamr menhängen. Sie arbeiteten mit der Methode des internationalen Vergleichs von Daten, die über 28 europäische Staaten bei den UN, der UNESCO und der WHO vorhanden sind. Für einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten wurden 80 Variable ausgewählt, welche zunächst die Familie unmittelbar betreffen, wie Heiratsalter, Geburtenverhalten und Scheidung, dann aber auch angrenzende Erscheinungen, wie Haushaltsgröße, Berufstätigkeit der Frau, schließlich eindeutig statistisch erfaßbare, negative Sozialindikatoren wie Mord, Selbstmord und Gesamtkriminalität.

Die Entwicklung in Europa ist allgemein gekennzeichnet durch ein Absinken des Heiratsalters und der Geburtenzahl, sowie ein Ansteigen der Scheidungen und der negativen Sozialindikatoren. Österreich ist im Spitzenfeld dieser Entwicklung zu finden. Bei der mathematischen Aufarbeitung des Datenmaterials zeichneten sich jedoch mit überraschender Eindeutigkeit zwei Grundgruppen von Verhaltensweisen ab.

• Für die Gruppe I ist die Klein- M familie typisch: frühe Heirat, frühe & Zeugung von ein bis zwei Kindern, häufig uneheliche Geburten, häufige Scheidung in den ersten drei Ehejahren, große Zahl berufstätiger Frauen. Erstaunlicherweise finden sich hier die gesamten negativen Sozialindikatoren vor.

• Im Gegensatz dazu steht die Gruppe II mit kinderreichen Familien und Haushalten mit fünf und mehr Personen, spätere Heiraten und spätere Geburten, auch noch nach dem 35. Lebensjahr der Mutter, mit Scheidungen — wenn überhaupt — so nach langer Ehedauer, also wenn die Kinder in der Regel außer negativen Sozialindikatoren als typisches Merkmal.

Die weitere Untersuchung ergab, daß sich den beiden Gruppen auch bestimmte Länder zuordnen lassen. Für die Gruppe I scheint, unabhängig vom politischen System, die Industrialisierung eine wichtige Rolle zu spielen. Eine Rangreihenanalyse für die Jahre 1963 und 1968 ergab ziemlich übereinstimmende Ränge, wobei ein niedriger Rang in der Reihung bedeutet, daß die Charakteristika der Gruppe stärker ausgeprägt sind als bei höherer Rangordnung. Für 1968 ergaben sich die zehn niedrigsten Ränge und damit eine Zuordnung zur Gruppe I für Bulgarien, Ungarn, CSSR, Westberlin, Österreich, Schweden, DDR, Dänemark, Finnland, BRD. Die sechs höchsten Ränge und die Zuordnung zur Gruppe II erzielten Italien, Nordirland, Portugal, Malta, Irland, Spanien; zwölf weitere Länder lagen im Mittelfeld dieser Gruppierung. Die Reihung Nordirlands in die Länder mit niedrigsten negativen Sozialindikatoren erklärt sich aus dem Zeitpunkt der Erhebung — 1968 —, also vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs. Interessant ist ferner, daß Rumänien von Rang 2 (1963) auf Rang 17 (1968) gestiegen ist; Grund dafür ist eine Verschärfung der Bestimmungen über Scheidung und Abtreibung, die, zumindest vorübergehend, eine drastische Situationsänderung bewirkten.

Die Studie schließt .aus dieser “Rangordnung, “daß die hohe ' Industrialisierung sowohl in den Ostblockstaaten wie in Nordwesteuropa die Familie auf die isolierte Kernfamilie schrumpfen läßt, während in den minder industrialisierten südosteuropäischen Ländern noch die Großfamilie mit mehreren Kindern und unverheirateten Anverwandten im Familienverband in großer Zahl anzutreffen ist.

Die in der Kleinfamilie gebotene Chance starker gefühlsmäßiger Bindung wird zum Problem, wenn beide Eltern berufstätig sind, aber auch, wenn die Mutter daheim bleibt und eine Isolierung der Mutter auf die Kindkontakte erfolgt, wie das bei den „grünen Witwen“ in den immer mehr um sich greifenden Stadtrandsiedlungen der Fall ist.

Schließlich scheint es, daß ein ständiger Wechsel der Umweltbedingungen dem Menschen nicht zuträglich ist, hingegen eine Stabilität von Rahmenbedingungen positiv erlebt wird. Es ist bekannt, daß Kinder, die mit Spielzeug überschüttet werden, keine dauerhaften Beziehungen dazu entwickeln. Eine die Gesamtbevölkerung Kanadas umfassende Untersuchung ergab, daß die hohe Mobilität in bezug auf Arbeitsplatz, Wohnung und Ehe eine hohe positive Korrelation zu Selbstmord aufweist. Aus der österreichischen Studie fiel auf, daß eine deutliche Beziehung zwischen Scheidung nach kurzer Ehedauer und negativen Sozialindikatoren, also auch zu Selbstmord, besteht.

Alle hier erwähnten Hypothesen weisen auf Entwicklungsstörungen hin, die im mangelnden Vermögen ihren Ausdruck finden, harmonische Beziehungen zum Partner, zum Mitmenschen und zur Umwelt überhaupt zu entwickeln. Wer denkt in diesem Zusammenhang nicht an die häufigen Meldungen über scheinbar unerklärliche Akte der Roheit gegen Menschen und Tiere und boshafte Sachbeschädigungen ?

Ein Vergleich des Datenmaterials aus 16 Ländern ergab ferner, daß hohes Durchschnittseinkommen wie in Schweden mit einer ungünstigen Einstellung zu Kind und Ehe parallel geht. Umgekehrt ist in Ländern mit niedrigem Einkommen, wie Irland oder Italien, eine hohe Familienqualität anzutreffen. In den kommunistischen Diktaturen Osteuropas hingegen ist niedriges Durchschnittseinkommen und geringe Familienqualität häufig; offenbar fehlt es hier an entsprechenden positiven Motivationen.

Die Autoren warnten ausdrücklich vor Verallgemeinerungen und Vereinfachungen. Man dürfe das Heil nicht in einem anachronistischen Ruf nach einer Rückkehr zur Großfamilie suchen und in der Kleinfamilie das „Übel unserer Zeit“ sehen.

Gewisse Schlußfolgerungen sind aber schon jetzt erlaubt. Obwohl auf dem Symposion nicht einmal angedeutet, drängte sich die Gewißheit auf, daß die Familienpolitik der Regierung Kreisky falsch angelegt ist, weil sie bei der Besteuerung und bei der Beihilfenbemessung die Ein-

Kind-Familie auf Kosten der Mehr-Kinder-Familie bevorzugt.

In seinem Schlußwort vermied es der wissenschaftliche Leiter des Symposions, Univ.-Prof. Bruckmann, auf die finanzielle Komponente der Familienpolitik einzugehen. Er betonte nachdrücklich die personale. Das Kind braucht in den ersten Lebensjahren die feste Bindung an die Eltern, mit zunehmendem Alter jedoch die Möglichkeit zu Bindungen und Identifikationen zu Menschen verschiedener Altersstufen, die weder die Kernfamilie noch kollektive Einrichtungen bieten. Es bedarf des Mutes zum Experiment. Ist die Einbeziehung von Großeltern und Verwandten in einen gewissen Lebensbereich der Kernfamilie nicht möglich, dann kann die Heranziehung von „Wahlgroßmüttern“ und „Ruftanten“ Abhilfe schaffen, die nicht verwandt sind, aber womöglich interessemäßig harmonieren, etwa eine musikalische Tante zu musikalischen Kindern. Pfarren könnten Ferienaufenthalte von Familien mit Kindern und familienfremden älteren Erwachsenen, am besten aus dem engeren Wohnbereich, organisieren, so daß gegenseitige Kontakte und Hilfen auch im übrigen Jahr erleichtert sind.

Auf weite Sicht müßte auch die Bauplanung nicht nur auf die gewiß wichtigen materiellen Gesichtspunkte, wie den Wohnkomfort, ausgerichtet sein, sondern auch auf immaterielle Bedürfnisse. So wurden in der Schweiz gute Erfahrungen in einem Baukomplex gemacht, bei dem Wohnungen für kinderreiche Familien mit Gargonnieren für alleinstehende Menschen und entsprechenden Gemeinschaftsräumen kombiniert waren.

Die Familien brauchen nicht so sehr apparative Hilfen wie solche personaler Natur. Der Ruf nach mehr Kindergärten, Horten, Heimen und Ganztagsschulen darf nicht von der Befriedigung des Grundbedürfnisses menschlicher Existenz nach personaler Bindung durch Liebe “ablenken. Diese Erfüllung erfordert weniger Geld als persönlichen Einsatz. Das sollte dem Christen ein besonderes Anliegen sein.

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