"bitte lassen sie bitte mich bitte nicht so allein"

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Trotz aller Kontaktmöglichkeiten via Medien und Internet sind Isolation und Einsamkeit weit verbreitete Phänomene. Besonders betroffen sind Menschen in jungen Jahren und im hohen Alter, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Bei Umfragen geben in Österreich zwischen einem Viertel und einem Fünftel der 15- bis 25-Jährigen und ebensoviel der über 70-Jährigen an, sich einsam zu fühlen. Im mittleren Alter sinkt dieser Prozentsatz auf etwa ein Zehntel ab.

Allein zu leben muss nicht unbedingt Einsamkeit bedeuten, wenngleich es Zusammenhänge gibt. Der Einpersonenhaushalt ist unter den gesellschaftlichen Bedingungen mit Wirkung auf das Individuum eine von außen her statistisch fassbare Lebensweise. Über 30 Prozent aller Privathaushalte sind in Österreich Einpersonenhaushalte. 2010 wird das volle Drittel erreicht, die Tendenz wird auch dann weiterhin steigend sein.

Der Anstieg der Einpersonenhaushalte in Österreich im Verlauf der letzten 30 Jahre wurde nicht durch die Älteren verursacht, sondern durch die unter 40-Jährigen. Der Trend zum Alleinleben kam von den Jungen. Die weitere Zunahme an Einpersonenhaushalten wird sich in den nächsten 30 Jahren allerdings durch die Alten beziehungsweise Hochbetagten ergeben. Altersgerechte Kleinwohnungen, Zubringerdienste verschiedener Art, Freizeitangebote und Aktivierungschancen in und durch Gruppenbildung in den Jahrgängen der über 60-Jährigen werden gefragt sein.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann der Begriff des "Singles" Karriere zu machen, oft in der Annahme, dass Singletum mehr Freiheiten gewährt als das Zusammenleben. Single bedeutet "alleinstehend" und meist auch, dass die Person im Einzelhaushalt lebt. Neueste Forschungen in Österreich zeigen, dass Singletum ein Phasenprodukt des Lebenslaufs ist. Man ist nicht das ganze Leben lang ein Single. Und die Freiwilligkeit des Singletums ist je nach Phase des Lebenslaufs sehr verschieden. Sie ist in der Jugend und Jungerwachsenenzeit sehr hoch und im späten Leben sehr gering. Da sind es meist die Witwen oder die nach Scheidungen unverheiratet gebliebenen älteren Frauen, die zu der Gruppe der unfreiwilligen Singles gehören. Trotz allgemeiner Zunahme der Lebenserwartung der über 60-Jährigen, sterben die Partner nicht gleichzeitig, sondern in Österreich die Männer um fast sechs Jahre früher als die Frauen. So kommt es zu unfreiwilligem Alleinsein der Frauen.

Alleinsein-Wollen und Einsamkeit sind psychologisch spannungsgeladene Zustände. Bei vielen einsamen Menschen besteht ein zwiespältiges Verhältnis zur eigenen Einsamkeit. Man will - aus den verschiedensten Gründen, zum Beispiel nach Enttäuschungen im Zusammenleben mit anderen, oder bei zunehmenden Kontaktschwierigkeiten, allein gelassen werden - und will es doch nicht. Der im Vorjahr verstorbene österreichische Dichter Ernst Jandl hat es in einem seiner im Nachlass gefundenen Alters-Gedichte treffend ausgedrückt (siehe nebenstehenden Kasten).

Welche Wertung erfuhren - wenn wir zurückblicken - Alleinsein und Einsamkeit in der europäischen Theologie und Philosophie?

"Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei", heißt es im Schöpfungsbericht der Bibel (Gen 2,18). Nachdem Jahwe-Gott im Selbstgespräch diesen Satz sprach, schuf er die Tiere. Dem lag, wie die Bibel erklärt, die Absicht zugrunde, dem Menschen eine Hilfe zu schaffen, die "ihm entspreche". Und so bildete Jahwe-Gott "aus dem Erdboden alles Getier des Feldes und alle Vögel des Himmels" (Gen 2,19). Die Schaffung des Naturhaften um den Menschen herum und auch im Menschen soll ihn davon befreien, allein zu sein. Die Hinwendung zum Leben als solchem, zum Reichtum des belebten Kosmos, überwindet das Alleinsein. Die Erschaffung des Mit-Menschen Eva durch Gott ist die Vollendung dieses umfassenden, vom Gott der Bibel so in Gang gesetzten Naturprozesses der Überwindung der Einsamkeit.

Etwa zwei Jahrhunderte nach der Redaktion dieses Textes im babylonischen Exil durch gelehrte Juden schrieb im 4. Jahrhundert v. Chr. ein Zeitgenosse Alexanders des Großen, der Philosoph Aristoteles, in seiner Politik: "Die Natur ordnet es, dass die Menschen in sich den Ansturm auf wechselseitige Teilnahme und Gemeinsamkeit haben" (I, 1253a, 29).

Neues Selbstgefühl

Es gibt bis heute allerdings in verschiedenen Weltkulturen und Religionen auch den positiven, gewählten Rückzug ins Alleinsein zur Meditation und zur höheren Bereitschaft für das Göttliche. Auch kreative Prozesse in Kunst, Wissenschaft und Publizistik erfordern temporäres Alleinsein.

Den Begriff "einsam" erfand Martin Luther, um den Ausdruck des Alleinseins zu verschärfen. Im 18. Jahrhundert wurde Einsamkeit teilweise positiv gewendet: Die romantische Dichtung erklärte Einsamkeit zur angestrebten Voraussetzung für ein neues Selbstgefühl. Nur in der Zurückgezogenheit könne man sich der Natur erschließen und sich mit ihren Erscheinungen, zum Beispiel der Sternennacht vereinen.

Wie zur Bestätigung der in der Bibel ausgedrückten Sorge für den Menschen finden wir in heutigen Forschungen einen starken Zusammenhang zwischen Alleinleben und Einsamkeitsgefühl. Diejenigen Menschen zwischen 60 und 75 Jahren, die mit anderen zusammenleben, haben weniger Einsamkeitsgefühle als die alleinlebenden Menschen gleichen Alters. Ein Drittel der Menschen zwischen 60 bis 75 Jahren in Einpersonenhaushalten in Wien gibt an, sich häufig einsam zu fühlen. Bei einem Zusammenleben mit anderen sinkt dieser Anteil auf zirka zehn Prozent. Wer viel krank ist, fühlt sich mehr als doppelt so häufig einsam als die eher gesunden Menschen. Und jene Menschen sind auch häufiger krank, weil sie sich einsam fühlen. Bei seltenen Familienkontakten tritt das Einsamkeitsgefühl doppelt so häufig auf wie bei zahlreichen Familienkontakten. Mit dem Alter nimmt aus mehreren Gründen das Einsamkeitsgefühl generell zu. Bei den Frauen ist es stärker ausgeprägt als bei den Männern. Es setzt - wegen der höheren Krankheitsanfälligkeit und der gegenüber den Männern früheren Verwitwungen - früher im Leben ein als bei Männern.

Ein Beispiel für die wechselseitige Steigerung von Beeinträchtigungen, für "kumulative Benachteiligung", liefern die Telefonkontakte. Die gesunden Älteren werden häufiger angerufen als die kranken. Teils sind sie über ihren schlechten Gesundheitszustand so deprimiert, dass ihnen Anrufe und Anrufer gleichgültig sind, sodass sie nicht abheben. Teils werden sie deswegen so selten angerufen, weil sie die Anrufer sogleich mit Klagen über ihre schlechte Gesundheit überschütten. Es gibt das merkwürdige "Ritual" in den Familien, dass die älteren Menschen, wenn es ihnen schlecht geht und sie angerufen werden, sich zuerst darüber beschweren, schon so lange nicht angerufen worden zu sein.

Ein Teufelskreis

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu bezeichnet derartige Verhaltenssyndrome als "Habitus". Er meint damit, dass Menschen in einem meist langfristig von ihnen aufgebauten bestimmten Verhalten so gefangen sind, dass sie sich daraus nur schwer zu befreien vermögen. In dieser ihrer Gefangenschaft des Vorwurf-Verhaltens zerstören manche einsame alte Menschen auch noch jene Kontaktangebote, die sie aus Einsamkeit und depressiver Grundstimmung befreien könnten. So entsteht eine Art Teufelskreis. Durchbrechen lässt sich dieser durch Interessenahme an der Welt. Durch diese Interessenahme kann eine Brücke zur Kultur geschlagen werden.

Zur Kultur gewinnen allerdings jene Menschen eher Zugang, die mehr Schulbildung genossen haben. Sie sind auch sozial weniger isoliert. Wer mehr Schulbildung hat, dadurch auch einen qualifizierten Beruf ausübte, der gewinnt im späten Leben einen viel breiteren Zugang zur Kultur: zu Ausstellungen, Literatur, Theater und Konzerten, wie man zahlenmäßig belegen kann. Der Anteil der Älteren, die nur Pflichtschulausbildung erhielten, geht bei den neuen Generationen der Alten allerdings stark zurück. Auch am Einkommen lässt sich zeigen: je geringer die finanziellen Ressourcen, desto eher fühlen sich die Menschen einsam. Bei Einkommen unter 12.000 Schilling fühlen sich in Wien die 60- bis 75-Jährigen zu einem Drittel einsam, bei den obersten Einkommensgruppen nur zu etwa zehn Prozent.

Umso einsamer fühlen sich die Menschen, je weniger Pläne und Zielsetzungen sie haben und je weniger sie die eigene Aktivität als wichtig einschätzen. Einsamkeit ist also nicht nur sozial bedingt - durch mangelnde oder zu geringe Besuche von Anverwandten und Freunden, durch wenig Kontakte - sondern auch durch mangelnde eigene Zielsetzungen. Die Pessimisten, deren persönliche Zukunftserwartung negativ getönt ist, und diejenigen, die sich keine Ziele setzen, sind einsamer als die Hoffnungsvollen und die Zielorientierten. Die Einsamkeit deprimiert. Und man vereinsamt, weil man zu wenig von sich erwartet. Wir haben es mit vielfältigen, vernetzten Wechselwirkungen zu tun. Zur Überwindung des negativen Kreislaufs sind nicht nur kulturelle Angebote, zum Beispiel der Stadtverwaltung oder von ihr geförderter Organisationen nötig, sondern es sind auch gezielte Bemühungen und Animation in und durch Gruppen von Menschen mit besonderen Vorkenntnissen erforderlich, damit Angebote aufgenommen werden können.

Kontaktersatz

Im späten Leben werden Radio und Fernsehen wichtig. Die Durchschnittszeit des Radiohörens beträgt bei Männern zwischen 60 und 80 Jahren eindreiviertel Stunden, bei den Frauen fast drei Stunden täglich. Die Hörer- und Hörerinnen-Frequenz geht zwischen 50 und 80 allerdings schrittweise zurück. Das Radio ist eher als Beleber und Verstärker von Eigeninitiativen und weniger als das TV als "Kompensation" zu interpretieren. Im Unterschied zum Radiohören wächst nach dem ORF Teletest für das Jahr 2000 der vor dem Schirm verbrachte Zeitanteil des Tages mit dem Alter. Bei den 50- bis 60-Jährigen beträgt er als umfangreiche Zeitverbringung etwa drei Stunden, bei den 70- bis 80-Jährigen fast vier Stunden täglich.

Im Unterschied zum Radiohören kann das Fernsehen bei den Älteren eher als Kontaktersatz gedeutet werden. Fernsehen ermöglicht eine "parasoziale Interaktion". Wo sich Sprecher, Talkmaster oder Moderatoren direkt ans Publikum wenden, kommt es bei Teilen der Seherschaft zu subjektiv erlebten Beziehungen zu diesen TV-Personen. Auch im Theater entstehen Beziehungen zu den Helden wie zu den Leidenden. Aber trotz der räumlichen Nähe zwischen Bühne und Zuschauerraum ist das Distanzgefühl auf dem Theater stärker als beim Fernsehen. Die Fernsehgestalten hingegen behalten eine merkwürdig dauerhafte Präsenz als "Bezugspersonen" in der Psyche. Das trifft für diejenigen, die allein leben oder isoliert sind, verständlicherweise mehr zu als auf die Menschen, die sozial integriert sind.

Welche Entwicklungen sind für die Zukunft absehbar? In die Durststrecken des Alleinseins werden TV und zunehmend Angebote des Internet eindringen. Die Internet-Nutzung der Senioren nimmt zur Zeit schon weltweit deutlich zu. Der Zugang zur virtuellen Welt kann eine Teilbefriedigung von Beziehungsbedürfnissen und ein Gefühl von virtuell-interaktivem Kontakt entwickeln. Aber dieser Zugang bietet keinen Ersatz für sinnliche, körperlich erlebbare Elemente zwischenmenschlicher Realität.

In der klassischen griechischen Kultur galten die in Höhlen alleinlebenden Riesen, die Kyklopen, wie sie Homer in der Odyssee beschrieb, als furchterregende einsame Monster. Weil sie ohne Beziehungen als Singles lebten, bedurften sie nur eines Auges. Werden die Menschen und auch die Alten von morgen, obwohl biologisch jeweils zweiäugig, sozial einäugig werden? Denn eines ihrer Augen wird dauernd auf irgendeinen Schirm, sei es des TV oder des Computers gerichtet sein. So bleibt für die real gelebte Sozialität ohnehin nur ein Auge. Vielleicht steht uns verstärkt ein Kyklopen-Dasein in Einpersonen-Höhlen samt Internetanschlüssen bevor. Im Gefolge von Pluralismus und Individualisierung hatten wir uns, beeindruckt von vielen Wahlmöglichkeiten, eine solche "neue Einsamkeit" wohl vorerst nicht träumen lassen.

Der Autor ist em. Professor für Soziologie an der Universität Wien.

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