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Gefühlsleben verloren

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Vielfältig sind die Störungen, die die Menschen unserer Zeit aufweisen: Unzufriedenheit und Frustration, Verlust des seelischen Gleichgewichtes, geringe Belastbarkeit, Flucht in Alkohol und Drogen, Hektik, Streß … Der bekannte deutsche Psychiater DDr. Affemann setzte sich im Rahmen eines Vortrags vor der Katholischen Aktion mit den Wurzeln dieser Erscheinungen auseinander.

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Vielfältig sind die Störungen, die die Menschen unserer Zeit aufweisen: Unzufriedenheit und Frustration, Verlust des seelischen Gleichgewichtes, geringe Belastbarkeit, Flucht in Alkohol und Drogen, Hektik, Streß … Der bekannte deutsche Psychiater DDr. Affemann setzte sich im Rahmen eines Vortrags vor der Katholischen Aktion mit den Wurzeln dieser Erscheinungen auseinander.

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Unser Leben gerät zunehmend in eine oberflächliche Extraversion, in einen platten Expansionsdrang. Daß man hierbei sein Gleichgewicht verlieren muß, liegt auf der Hand.

Im Zuge dieser Welle der Aufklärung, welche die Spannweite menschlichen Lebens schrumpfen läßt, tritt ein schwerwiegender Verlust des Emotionalen ein. Der Mensch ist eben nicht nur ein rationales, sondern in gleicher Weise oder gar mehr noch ein emotionales Wesen. Wird diese Schicht von Gemüt, Gefühl, Phantasie, Einfühlung, Instinkt, Antrieb, Erlebnisfähigkeit nicht genügend ernährt, so schrumpft sie eben. Vielfältige Störungen des Innenlebens sind das Resultat.

Weil sich in unseren Familien zu sehr ein Klima des Vernünftigen, Sachlichen, Nützlichen, Praktischen, Zweckmäßigen ausbreitete und weil hierbei die andersgearteten emotionalen Qualitäten in den Hintergrund gedrängt wurden, konnten die emotionalen Grundlagen der kindlichen Persönlichkeit nicht zur Entfaltung gelangen. Entsprechende Schädigungen sind bei den heutigen Erwachsenen festzustellen.

Aber auch in der älteren Generation gingen Gefühls- und Gemütswerte verloren. Wärme, Herzlichkeit, Güte, ja bisweilen sogar Freundlichkeit blieben häufig auf der Strecke. Der Mitmensch wurde oftmals unter dem Aspekt betrachtet: Was bringt mir die Beziehung zu ihm und inwiefern kann er mir schaden.

In Zusammenhang hiermit steht ein schwerwiegender Mangel an Bindungsbereitschaft und Bindungsfähigkeit. Das Leben wird unter der Maxime einer in bestimmter Weise verstandenen Selbstverwirklichung geführt. Selbstverwirklichung meint hierbei möglichst uneingeschränkte Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, möglichst weitgehende Verfügung über das eigene Leben.

Aus diesem Grunde konnte man sich nicht festlegen und sich nicht an andere Menschen binden. Dies hätte den Verzicht auf so manche Wünsche bedeutet, die außerhalb von verbindlichen Beziehungen liegen. Kontakte nahmen den Platz von Kommunikation ein. Wer nicht bereit ist, verbindliche Beziehungen einzugehen, setzt natürlich auch in dem Partner die Neigung herab, sich seinerseits nun festzulegen. Damit entstanden menschliche Verhältnisse von innerer Unverbindlichkeit, die oft nur durch äußere Interessen und Gemeinsamkeiten zusammengehalten werden.

In derartigen Beziehungen, kann sich der Mensch jedoch nicht entwickeln. Nur wenn er des anderen - auch ohne ihn zu besitzen - sicher ist, schenkt er ihm Vertrauen. Vertrauen aber ist die emotional-soziale Grundqualität, aus der alles innerseelische und zwischenmenschliche Leben erwächst.

Zu alledem paßt die Form der Freizeitgestaltung, die sich unter uns einstellte. Sie war überwiegend kon- sumptiv. Dies legt natürlich auch die Gegebenheiten der Konsumgesellschaft nahe. Manche Soziologen verstehen z. B. Familie heute nur noch als eine konsumierende Einheit.

Eine große Rolle spielt hierbei der Fernsehkonsum. In der Bundesrepublik Deutschland sehen Erwachsene durchschnittlich in der Woche 17 Stunden fern. Schulkinder haben einen wöchentlichen Fernsehkonsum von 10 1/2 Stunden. Einige Untersuchungen belegen, daß nach Einführung des Fernsehens der Schweigeanteil in den Familien erheblich zugenommen hat. Man sitzt zwar häufiger zusammen, unternimmt jedoch weniger etwas miteinander im Kreise der Familie. Es mangelt an den gemeinsamen Aktivitäten, die Menschen miteinander verbinden und aus denen Anregungen für ihr persönliches Wachstum hervorgehen.

In den Familien wird zu wenig miteinander gespielt, gesungen, gebastelt, gewandert, im Garten gearbeitet, Sport betrieben usw. Aus diesem gemeinsamen Handeln erwächst jedoch unmerklich das Gespräch. Es ist also nur konsequent, wenn heute viele Menschen nicht mehr miteinander reden können, nicht mehr aufeinander zu hören imstande sind, sich nicht mehr verstehen, sich nicht mehr einfühlen können. Einsamkeit greift um sich.

Als letzte Ursache für innerseeli- sche und zwischenmenschliche Störungen möchte ich eine bestimmte Art der Unterforderung nennen. Die Konsumgesellschaft verleitete uns dazu, möglichst rasch und möglichst umfassend Bedürfnisse zu befriedigen.

Was das Heranwachsen der Kinder anlangt, kam hier noch eine besondere Komponente hinzu, Grundgedanken der antiautoritären Erziehung nämlich. Es wurde geglaubt, wenn man die Wünsche des Kindes möglichst weitgehend erfüllte, wenn man es selbst über das bestimmen ließe, was es will und was es nicht will, so würde es konfliktfrei, glücklich zu einer ichstarken Persönlichkeit heranwachsen.

Unterfordert wurde bei Erwachsenen und Kindern die Fähigkeit mit Bedürfnisspannungen zu leben, auf Erfüllung von Wünschen zu warten und auf manches zu verzichten. Daß auf diese Weise keine Affekt- und Frustrationstoleranz ausgebildet werden konnte, ist leicht verständlich. - Jene Grundeinstellung der emotionalen Unterforderung wirkte sich jedoch nočh in anderer Weise nachteilig auf die Verwirklichung seelischer Möglichkeiten aus. Sollen seelische Anlagen heranreifen, so ist hierzu seelische Spannung nötig.

Es ist wohl ein Lebensgesetz, daß ohne Spannung keine Veränderung geschieht. Weil aber zu oft Bedürfnisspannungen durch Konsumvorgänge in Lust umgesetzt wurden, wurden die Spannungspotentiale nicht aufgebaut, die nötig sind, wenn die menschliche Entwicklung vorangetrieben werden soll. Resultat: Infantilität aller Spielarten.

Was kann und muß nun angesichts dieser Sachlage geschehen? Die Störungen der Innenwelt sind Ausdruck davon, daß einiges mit unserem Menschsein, in unserem Leben nicht stimmt. Wohl mit aus diesem diffusen Unbehagen, bedingt durch den Leidensdruck, der von jenen Störungen ausgeht, wird seit einigen Jahren zunehmend mehr nach einem anderen Leben gefragt. Wie soll dieses andere Leben aussehen? Es soll einfacher sein. Genügt das aber, um den Störungen im Untergrund abzuhelfen, wenn wir ein materiell weniger aufwendige# Leben führen?

Meines Erachtens trifft die Formel vom einfachen oder vom einfacheren Leben nicht den Kern dessen, was wir suchen. Unser Leben sollte vielmehr wesentlich sein. Wir sollten wesentlicher werden. Geschieht dies, so kann auch unsere Lebensführung 11 einfacherígestaltet wérden.

(Über Affemanns Vorstellungen, wie erfülltes Leben zu gestalten sei, wird DIE FURCHE in einem weiteren Beitrag berichten.)

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