Verfällt Europa (wieder) in Melancholie?

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Wird der Europäer der Zukunft ein schwermütiger Mensch sein, antriebsschwach und pessimistisch? Einige Entwicklungen deuten darauf hin.

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Wird der Europäer der Zukunft ein schwermütiger Mensch sein, antriebsschwach und pessimistisch? Einige Entwicklungen deuten darauf hin.

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Österreich und besonders Wien wurde und wird ein starker Hang zur "genußvollen Traurigkeit" nachgesagt, und daher besteht die Gefahr, daß diese aufkommende Tendenz zur Melancholie besonders hier gepflegt wird und Chancen, Europa und die Welt mitzugestalten, verschlafen werden oder im Raunzen über die schwieriger werdende Zeit untergehen.

Der Berliner Soziologe Wolf Lepenies hat darauf hingewiesen, daß die Lebensgrundstimmung der Bevölkerung in Europa bis ins 18. Jahrhundert durch melancholische Züge gekennzeichnet war (Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1998). Die Lebensbejahung des Barock, die mit der Entwicklung der Wissenschaften verbundene Zukunftsgläubigkeit und die Überzeugung von der Gestaltbarkeit der Welt durch die Menschen führten zu einer positiven und hoffnungsvollen Lebenseinstellung in fast allen europäischen Ländern und in allen Bevölkerungsschichten.

In ähnliche Richtung, aber auf einer anderen Basis entwickelt, weisen auch die Überlegungen der Philosophin und Politikwissenschafterin Hannah Arendt über vita contemplativa und vita activa. Vielleicht hat sich in Europa - und in der gesamten abendländisch-rationalistisch gestalteten Welt - ein Machbarkeitsbewußtsein entwickelt, das weltweit viele Erfolge, aber auch gewaltige Gefährdungen mit sich gebracht hat, worauf in jüngerer Zeit - in unterschiedlich dramatischer Form - der Club of Rome und in eher soziologisch-wissenschaftlicher Form Ulrich Beck aufmerksam gemacht haben.

Der Club of Rome forderte ein rechtzeitiges Eingreifen und Gegensteuern angesichts verschiedener Belastungen der Umwelt, einseitiger Ausbeutung von (nicht erneuerbaren) Ressourcen und zukunftsfeindlicher Lebenshaltungen. Ulrich Beck wies auf die neuen Risiken hin, die insbesondere durch die Entwicklung der Atomkraft, der Gentechnologie und von bewußtseinsverändernden Stoffen verursacht werden (können).

Die Entwicklung von Gegenkräften gegen diese, lähmende Untätigkeit erzeugende, Melancholie reicht weit zurück. Vom großen Philosophen und Theologen des Mittelalters, Thomas von Aquin, wissen wir, daß er bis zu seinem Tode an einem Compendium Theologiae, aufgebaut auf den drei göttlichen Tugenden, Glaube, Hoffnung und Liebe, gearbeitet und dabei in atypischer Vorgangsweise besonders die Hoffnung betont hat. Damals entwickelte sich eine Sehnsucht nach Gott (wie aus dem gotischen Stil zu ersehen ist), der Wunsch, die Weite, Höhe und das Licht zu suchen, und neue Dimensionen haben sich den Menschen eröffnet, die in Renaissance und Humanismus ihre menschenfreundliche Dimension, abgeleitet aus dem humanistischen Denken der alten Griechen, erhalten hat.

Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit brachte in vielen Bereichen ein langsam sich beschleunigendes, neues kalkulatorisches Denken, das sich - von der Montanindustrie ausgehend - zunächst auf immer mehr Wirtschaftsbereiche, zuletzt in Europa auf die Landwirtschaft, und dann auch auf die verschiedenen Lebensbereiche ausdehnte, auch bis in Bereiche, wo solches kalkulatorisches Denken fehl am Platz ist, wie in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Die Betonung von humanistischem und emanzipatorischem Denken entwickelte sich in Humanismus und Renaissance und dehnte sich von den aufgeklärten Monarchen angefangen auf immer breitere Bevölkerungskreise (in Europa) aus.

Der Mensch kalkuliert Diese Periode des Übergangs war außerdem durch die Bildung von Nationalstaaten auf territorialer Grundlage gekennzeichnet, die mit der Verwirklichung einer Europäischen Union und Globalisierungstendenzen anachronistisch zu werden scheinen, ohne daß sich die mit diesen Nationalstaaten eng verknüpften demokratischen Errungenschaften schon ausreichend in anderen Institutionen etabliert hätten. Außerdem war diese Übergangsperiode eine Zeit der Entdeckungen und Erfindungen, deren utopischer Charakter zunächst langsam und dann immer schneller einer Realisierung wich, bis heute die Realität die Phantasie eingeholt zu haben scheint beziehungsweise manchen Menschen Visionen überholt und daher entbehrlich, zum Teil sogar schädlich erscheinen. Aber Menschen ohne Ziel- und Zukunftsorientierung, ohne Hoffnungen und Visionen laufen Gefahr, melancholisch zu werden, zu resignieren und von sich aus keine Hoffnungen und Wünsche mehr zu entwickeln.

Sowohl viele Einzelmenschen als auch verschiedene gesellschaftliche Gruppen sehen in erster Linie den Genuß des Augenblicks, oft beschränkt auf Essen und Trinken - daher die wachsende Anzahl von Imbißlokalen und Erlebnisweltgeschäften. Andere Menschen, darunter auch viele Jugendliche, finden keine sie wirklich interessierenden und begeisternden beruflichen Tätigkeiten, manche von ihnen überhaupt keine Arbeitsplätze und verlegen ihre Lebensinteressen daher vom Beruf auf die Freizeit.

Kant hat es für wesentlich für die Entwicklung der menschlichen Person und der Gruppierungen von Menschen gehalten, auf die Frage "Was darf ich hoffen?", die er die Frage nach der Religion genannt hat, eine existentielle Antwort zu finden. Diese Frage nach der Religion steht bei Kant gleichberechtigt neben der Frage nach der Metaphysik: "Was kann ich wissen?" und der Frage nach der Moral: "Was soll ich tun?". Die existentielle Antwort jeder Einzelperson und jeder Gruppe - vielleicht auch jeder Gesellschaft und jedes Staates - auf diese drei Fragen "Was kann ich wissen?", "Was soll ich tun?" und "Was darf ich hoffen?" stellt die Antwort auf die umfassende Frage: "Was ist der Mensch?" dar. Ohne Hoffnung ist für Kant ein Mensch ein hoffnungsloses Wesen, das keine Zukunft hat. Diese Fragen von Kant haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, unsere Antworten werden allerdings anders aussehen müssen. Die große Hoffnung Kants: Der ewige Friede, den er als Realutopie vor 200 Jahren gefordert hat, ist auch heute besonders aktuell und vielleicht für uns alle lebenswichtiger als zu Kants Zeiten.

Bei dem großen zeitgenössischen amerikanischen Soziologen Robert King Merton, der eine Theorie der Anomie, der Ordnungs-, Ziel- und Gesetzlosigkeit zu entwickeln begonnen hat und bis heute Weiterentwicklungen auf diesem Gebiet anregt, finden wir die Meinung, daß die Anpassung von Individuen an kulturelle Ziele und gesellschaftliche Mittel so verlaufen kann, daß sie von der Konformität, einem Verhalten, das durch kulturell bejahte - vielleicht selbstverständliche - Ziele und gesellschaftlich akzeptierte Mittel gekennzeichnet ist, zu Ritualismus führt, der sich auf die Mittel konzentriert und die Zieldimension(en) aus den Augen verliert (Das Geld ist für viele Europäer heute bereits kein Mittel mehr, sondern oft zum Selbstzweck geworden).

Obwohl die Zieldimension verloren gegangen ist oder bezweifelt wird, wird im ritualistischem Verhalten weiterhin so gehandelt wie bisher. Familienriten bei Feiern und Festtagen zum Beispiel werden beibehalten, obwohl ihre innere Kraft und Sinnhaftigkeit in der Zwischenzeit verloren gegangen sind. Kirchliche und staatliche Zeremonien werden leer, erscheinen nicht mehr zeitgemäß und laden die Bevölkerung oft eher aus als ein.

In der Folge werden manche Handlungen nicht mehr gesetzt und Handlungszweifel, Handlungsscheu beziehungsweise Handlungsschwäche treten auf. Fallweise kann es auch zu sinnlosen Aktivismen, Vandalismus oder anderen ziellosen Kraftakten kommen, bis manchmal dann das Verhalten zu Untätigkeit und zu Rückzug (retreatism) führt , zu dem Resignation, Selbstaufgabe und Apathie gehören. Bisher war diese Entwicklung: Von der Konformität über den Ritualismus zur Apathie eher selten, wie Merton darlegte, aber in Zukunft könnte eine solche resignierende Inaktivität häufiger und damit gesellschaftsgefährend werden.

Ziellose Kraftakte Menschen, die ihre eigene Situation - aus welchen Gründen immer - für nicht zukunftsreich, für verfahren, für nicht (positiv) gestaltbar halten, verfallen leicht einer lamentierenden Haltung, resignieren und neigen der Melancholie zu, sehen alles düster, dunkel und schwarz. Es gab immer Menschen, die sich vor Entscheidungen gefürchtet haben, weil sie "schwarz" und für sich keine klaren und zukunftsweisenden Möglichkeiten gesehen haben. Heute nehmen diese Angstsyndrome zu, ist ein pessimistisches Lebensgefühl deutlich häufiger anzutreffen als noch vor 10 bis 15 Jahren.

In den sogenannten entwickelten Ländern und insbesondere im alten Europa hat es zunehmend den Anschein, als würden klare, ziel- und sinnorientierte Handlungen eher die Ausnahme sein und düstere Befürchtungen, schwer kalkulierbare Risiken und zweifelhafte Entscheidungsträger eher die Regel werden. Durch Prinzipientreue oder durch einen Rekurs auf ein Prinzip Hoffnung allein wird bei anhaltender Umsetzungsangst oder vorsichtigem Abwarten die Lebenssituation nicht verbessert werden können.

Wenn dies auch überzeichnet erscheint, werden von vielen die Zukunftschancen immer häufiger darin gesehen, daß die Lebenssituation nicht schlechter werden möge. Zugleich macht sich bei einer zunehmenden Anzahl von Menschen der Eindruck breit, daß sie zur Zukunftsgestaltung selbst tatsächlich kaum etwas, um nicht zu sagen nichts, beitragen können und aus der seinerzeitigen active society (Amitai Etzioni) wird eine Zuschauer- oder Lehnstuhlgesellschaft (Andreas Khol), wobei immer weniger klar ist, wem eigentlich zugeschaut wird.

Dieser lähmenden Situation melancholischer Daseinsgestaltung, die viele Bereiche, insbesondere auch die Schulen und Universitäten erfaßt hat, oder zu erfassen droht, kann nur durch eine entschlossene, aktive und lebensbejahende Haltung begegnet werden. Begegnungen auf allen Ebenen, mit sich selbst, den anderen und mit Gott sind notwendig. Solche Begegnungen können zur Selbständigkeit führen, Mut zum aufrechten Gang (Erhard Busek) vermitteln und stellen die Basis für ein aktives Leben dar.

Jeder Einzelne, jede kleine Gruppe kann und soll diesen Begegnungsbeitrag immer wieder leisten.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Johannes Kepler Universität Linz.

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