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Kulturelle Aspekte der Automation

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Wer die kulturellen Aspekte der Automation sehen lernen will, muß beachten: die Welt der Technik läßt sich in ihrer Bedeutung für die Menschheit des 20. Jahrhunderts nicht verstehen mit jenem wohlbekannten Register von Schimpfworten und Lobpreisungen, die ihr von Seiten vieler berühmter, aber unzuständiger Kritiker im Laufe eines Jahrhunderts zuteil geworden sind. Einer der ehrwürdigsten Pioniere technischer Forschung, Friedrich Dessauer, der Mitarbeiter Röntgens, dessen Körper heute nur noch aus Operationsnarben zu bestehen scheint, dessen Geist aber mit der Frische ewiger Jugend wach in unsere Zeit blickt, hat soeben eindrucksvoll dargestellt, wie sehr, zu unser aller Schaden, die technische Welt gerade auch noch in diesen letzten 50 Jahren von Männern der Kultur und Wissenschaft, der Kunst, Philosophie und Theologie, vor allem aber der Kulturkritik, denunziert worden ist (,,Dcr Streit um die Technik“, Frankfurt am Main 1956). „Rein materialistisch“, „an sich uninteressant“, „niedrig“, „ohne höheren Sinn“, „ungeistig“, „geistfeindlich“, „menschenfeindlich“, „mechanistisch“, „böse“, „dämonisch“, eine „Erscheinung der Dekadenz“, des „Unterganges des Abendlandes“ usw.: es gibt kaum ein abwertendes Attribut, das der technischen Welt da nicht von Seiten namhaftester Kulturkritiker, Philosophen und auch Theologen zugedacht wurde. — Auf der anderen Seite — derselben Medaille — stehen jene enthusiastischen Preisungen, die der Technik die Funktion der Erlösung, der Schaffung eines Paradieses zuweisen. — Jenseits dieser affektbetonten Schildereien kann der Versuch einer Würdigung der technischen Welt beginnen. Ohne ihn läßt sich nämlich der große Problemkreis der Automation, gerade ihrer kulturellen Aspekte, gar nicht anvisieren, weil alles im Dunstkreis sehr individueller Aengste und vielleicht auch Hoffnungen, also auf jeden Fall im Bann von Schlagworten verhangen bleibt.

Die moderne Technik ist, mit den ihr zugewandten Naturwissenschaften und Grundlagenforschungen, das schwerwiegendste Phänomen der heutigen Menschheit. Keine Philosophie, keine Ideologie kann sich auch nur vergleichsweise mit ihr messen; die technische Welt stellt Ideologien in ihren Dienst, sie setzt sich gerade auch dort durch, wo man meint, sie leichthin überspielen zu können; wohl scheint es, auf Wegstrecken, totalitären Machthabern zu gelingen, sie ganz in ihre Dienste zu zwingen. Einer der klügsten amerikanischen Soziologen, Peter F. Drucker, ein geborener Wiener, hat aber bereits vor Jahren darauf hingewiesen, daß der technisierte Großbetrieb überall auf der Welt seine Eigengesetzlichkeit durchsetzt und dergestalt in der UdSSR genau so wie in den USA Strukturen schafft, die sich gleichen. — Die technische Welt i?t mit der durch sie geformten Weltwirtschaft, ihren Großbetrieben und Wirtschaftskombinaten, jene erstrangige Weltmacht, die uns alle einbezieht, ob wir wollen oder nicht, ob wir es wissen oder nicht. Es gibt keinen Menschen in Europa, weitesten Teilen Asiens, beider Amerika und Afrika, der nicht Konsument von Gütern der Industrie ist. Einem Maximum technischer Wirksamkeit und Leistung in der Welt von heute steht immer noch ein Minimum geistiger Aufarbeitung,, seelischer Meisterung, spiritueller Bewältigung und Verantwortung der technischen Welt gegenüber. Es ist sinnlos, darüber zu klagen, daß unsere modernen „Massen“ wie „Barbaren“ sich hochkomplizierter technischer Getäte und Maschinen bedienen, so, als wäre das ganz selbstverständlich, und mit einigen Handgriffen sie „schalten“; sinnvoller wäre es schon, darüber zu klagen, daß die verantwortlichen Politiker, Erzieher, die maßgebenden Kreise des geistigen Lebens, die Führungskräfte der Schulen und Hochschulen allzuwenig tun, um uns und unsere Mitmenschen auf das Leben in der volltechnisierten Welt, in der Welt der Automation, vorzubereiten. Die Abstinenz der „Geistigen“ wirkt so unheilvoll zusammen mit dem rüden Griff der Macht- und Erwerbsgierigen, die es nicht erwarten können, in den Genuß der durch die Automation geschaffenen Möglichkeiten zu kommen.

Da die technische Welt noch nicht voll erkannt, noch nicht erzieherisch durchdacht und auch christlich noch keineswegs bewältigt ist, sehen viele Menschen ihrer Fortbildung in der Automation mit Schrecken entgegen (was soll mit den Massen, die, wie manche glauben,* durch sie arbeitslos werden, geschehen?) und wohl ebenso viele erwarten sich von ihr einen Freifahrschein in ein Leben des Genusses, des Auslebens, nahezu unbeschränkter Möglichkeiten für nahezu jedermann. Die Familie wird für jedes Familienmitglied ein Auto, ja in mittleren Schichten ein Kleinflugzeug haben; Küche, Heizung, Lüftung, Hausbau werden zu billigen Preisen voll automatisiert, rasch herstellbar, rasch austauschbar sein. Häuser baut man eben in wenigen Tagen, die kompletten Einrichtungen werden in wenigen Stunden geliefert. Die neuen Freizeiten — einer Dreißig-, einer Zwanzigstunden-Arbeitswoche der Zukunft — werden, am Mittelmeer und Atlantik, auf der Jagd in Afrika, im Unterwassersport, im Flugsport, im Besuch der Festspielorte der Einen Erde, zwischen Edinburgh, Berlin, Salzburg, Tokio und Neu-Delhi verbracht. Automatisch durch Radargeräte unter der Decke gesteuerte Straßen verhindern das lneinander-fahren der Millionen Fahrzeuge, ein verbessertes Flügsicherungswesen verhindert Zusammenstöße in der Luft; die biochemische Industrie schafft neue Saaten, neue Früchte, neue Ernten in bisher ungenützten Ländern und Böden. Neue Heilmittel überwinden den Krebs und die. Kulturkrankheiten unserer Zeit. Die Menschheit wächst von 2,6 Milliarden auf 3 bis 4 Milliarden ...

So erscheint vielen Menschen — bereits heute, wie jedermann sich an den Ausfahrtsstraßen unserer Städte zum Wochenende überzeugen kann — die technische Welt als eine Einladung zur Enthemmung. Sie bietet früher ungeahnte Freiheiten. Vergessen wir dies nie: Jahrtausende hindurch mußte die überwiegende Mehrheit der Menschen den allergrößten Zeitraum ihres Lebens mit Arbeiten verbringen, die wenig zu ihrer menschlichen Reifung beitrugen. Die glanzvollen Kulturen der Antike sind auf einem Gölgotha des Menschen errichtet: auf der Schädelstätte der Sklaven, der ihnen wenig höher gestellten „Banausen“, der Handwerker also. „Arbeit“, synonym mit Mühsal, schiinpfJicher, dem freien Manne unwerter Beschäftigung, war Dienst des Knechtes, des Unfreien, des Minderfreien. Diese Erniedrigung breitester Schichten galt auch für das neuere Europa: seine Klöster, Burgen, Schlösser, Stadthäuser sind nicht nur im Frankreich Ludwigs XIV., im Spanien des 19. Jahrhunderts, in den Großstädten am Beginn unseres Jahrhunderts in Frondiensten, später mit Hilfe von „Hungerlöhnen“ erbaut worden. Da eröffnet nun die volltechnisierte Welt, die Automation, bisher ungeahnte Aspekte: erstmalige Freiheit für die Massen diese/ Erde! Ein menschenwürdiges Leben — denn ein Leben ist nicht menschenwürdig, das seine besten Kräfte, seine besten Zeiten verzehren muß in Anstrengungen und Tätigkeiten, die nichts beitragen zur leibseelischen Reifung und Ausfaltung der dem Menschen eingegebenen Kräfte.

Die Automation bietet die Möglichkeit einer Humanisierung, einer menschlichen Reifung, einer Weiterentwicklung des gesamten Menschengeschlechts, das dieses befähigen kann, als Statthalter Gottes in diesem Kosmos, mitten in den riesigen, finsteren, leblosen Räumen des Alls und mitten auf dieser Erde heute — und morgen vielleicht bereits in anderen, außer-erdbezogenen Siedelräumen — Gärten einer wachsenden, reifenden Schöpfung zu schaffen. Es ist in unseren deutschsprachigen Kulturräumen üblich, diese Zukunftsaspekte ironisch abzutun, und ihre Vertreter lächerlich zu machen. Man beruft sich da auf eine große Zahl pessimistischer Prognosen erlauchter Persönlichkeiten wie Goethe und Jakob Burck-hardt (die mit der tiefen Fremdheit des Humanisten älteren Schlages dem Aufgang eines ganz Anderen entgegensahen) und eine noch größere Zahl dubioser Marktschreier des Pessi-mimus, zwischen Spengler und der Gegenwart. Ihnen allen darf ein Mann gegenübergestellt werden, der in klassischer Klarheit die neuen Möglichkeiten der Menschheit in der volltechnisierten Welt, der Automation, ersehen hat. Es ist niemand anderer als Adalbert Stifter 1857 in seinem „Nachsommer“. Er erkennt: Wir stehen in der technisch und naturwissenschaftlich in Erschließung und Wandlung begriffenen Welt „erst ganz am Anfang dieses Anfanges“. Weltwirtschaft und Weltverkehr wird die Menschen miteinander verbinden. „Dann wird, um der Allberührung genügen zu können, das; was der Geringste können und wissen muß, um vieles größer sein als jetzt.“ „Die Staaten, die durch Entwicklung des Verstandes und durch Bildung sich dieses Wissen zuerst erwerben, werden an Reichtum, an Macht und Glanz vorausschreiten und die anderen sogar in Frage stellen können.“ Es „wird eine Zeit der Größe kommen, die in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Ich glaube, daß so Stufen nach Stufen in Jahrtausenden erstiegen werden. Wie weit das geht, wie es werden, wie es enden wird, vermag ein irdischer Verstand nicht zu ergründen; nur das scheint mir sicher, andere Zeiten und andere Fassungen des Lebens werden kommen, wie sehr auch das, was dem Geiste und Körper des Menschen als letzter Grund innewohnt, beharren mag.“ Genau mit dieser Schau Stifters stimmt die Schau der künftigen Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen bei Teilhard du Chardin SJ. überein: dieser kühnste Kopf im katholischen Weltraum der Gegenwart, der hochbetagt 1954 in New York am Ostersonntag starb, hatte in seiner sechzigjährigen Forscherarbeit als Paläontologe und Anthropologe in den Wüsten Asiens, in China, in Amerika, Eiigland und Frankreich (er ist Mitentdecker des Homo pekinensis) als Naturforscher und Beter die gewaltigen Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen in der Zukunft erkannt. — Die Automation kann mithelfen, sie zu realisieren. Die ungeheure Schwierigkeit des Problems liegt aber nun — und das hat bereits Stifter in dem von uns ausgezeichneten Satz mit erkannt — darin, daß sie zu ihrer Nützung den neuen Menschen, den sie mitgestalten will, bereits voraussetzt: einen sehr disziplinierten, spirituell disziplinierten Menschen, der, nüchtern, geduldig, enthaltsam, lern- und bildungseifrig, die Welt der Automation nicht als Einladung zur Enthemmung, zu einem zügellosen Verbrauch von Konsumgütern und einem Selbstverschleiß in Genuß und Gier (Fernsehen, Fernreisen und Ferntöten) versteht. Als eine Einladung, immer mehr zu fordern; immer höhere Löhne, da ja die neuen Freizeiten sehr viel Geld kosten; immer längere Freizeiten, da Genuß und Lust nach immer „mehr“ verlangen, und immer mehr Durst und Begehren entzünden. Drogen, Alkoholika, Leib und Seele verbrauchende Betriebsamkeiten der Vergnügungsindustrie erschlaffen den Menschen, der seiner Freizeit und Freiheit nicht gewachsen ist. Bereits in der älteren Welt der Technik verlangte der Umgang mit ihr ein hohes Maß von Gewissenhaftigkeit, Wahrheit, innerer Disziplin. Ein falscher Griff, eine kleine Verspätung, ein ungenaues Messen und Dosieren, eine nicht ganz richtige Mischung können die verhängnisvollsten Folgen für viele Menschenleben haben. Die Automation verlangt nun die Ausdehnung dieser bisher stark nach außen gerichteten Disziplinierung des Menschen nach innen hinein: sie setzt ein spirituelles, leibseelisches Wachsen des ganzen Menschen voraus, eine schöpferische Entwicklung seiner Vernunft, ein Reifen seines Gefühls, seiner Phantasie, nicht zuletzt seiner Liebeskraft, die sich in der Rücksicht auf viele andere, in der frohen Mitverantwortung für viele andere bezeugen muß. Lauter Reifungen und Wachstumsprozesse, die heute in den allerersten Anfängen stehen.' Der Mensch tritt schrecklich unvorbereitet in die Welt der Automation ein. Ein Hauptgrund ist die tausendjährige mani-chäische und platonistische Durchsäuerung und Zersetzung unseres Christentums, das die „niedere Materie“ und die Handarbeit, aber auch das Schöpfertum des Menschen nicht ernst genug genommen hat. Meiner Lieberzeugung nach dürfte es ohne eine intime Mitarbeit der östlichen Geistes- und Seelenkräfte (Indien, China, Japan), aber auch der afrikanischen Allkommunikation des Menschen nicht möglich sein, die riesenhaften kulturellen Möglichkeiten der Automation zu entfalten. Diese sind ja eben darin gegeben, daß der Mensch eine Freiheit und mit ihr viele Freiheiten erhält, mit denen er gegenwärtig noch nichts Rechtes anzufangen weiß, da seihe inneren Vermögen ungereift, wenn nicht gar verkümmert sind. Diese Verkümmerung der Vernunft (die etwas anderes ist als ein spezialisierter Intellekt), des Gemüts, des Herzens und der Seele bewirkt es ja heute, daß selbst sehr gebildete Menschen und hochspezialisierte Geisteswissenschaftler sich keine Freizeit gönnen, weil sie mit ihr nichts anzufangen wissen, und wenn sie sich eine geben, sie mit infantilen Beschäftigunger vertun. Wie ' aber sollen es da die Massen, die da doch bestimmt sind, eine neue Entwicklungsstufe des Menschengeschlechts mit heraufzugebären, wie sollen sie es lernen, in neuen Spielen, neuen Gemeinschaftsformen, neuen Gesellungen, in der Arbeit an ihrer persönlichen Reifung die neuen Freiheiten und Freizeiten gut, sinnvoll, schöpferisch zu nützen? — Dergestalt nimmt die Automation, an deren Schwelle wir stehen, die Züge eines Gerichtes an: eines Gerichtes über unsere Ideologien, Theologien, Bildungs- und Erziehungssystemc. Nur wer sich, ohne die Flucht zu ergreifen in eine Denunziation (sei es nun der technischen Welt oder eines anderen „bösen Feindes“), diesem Gericht übergibt, darf hoffen, in der Zukunft die Schwelle mit zu überschreiten, die in ein neues Leben führt: ein Leben der Kommunikation des Menschen mit sich selbst, mit den Farben, Formen, Stoffen, Räumen, Zeiten, in der „Allberührung“ (Stifter), im „Communismus der Geister“ (Hölderlin), in der einen pluralistischen Menschheitsgesellschaft, die, durch die A'u t o-mation, ungeheuer viel jedem einzelnen geben kann; und, auf jeden Fall, ungeheuer viel von jedem einzelnen fordert: ein Leben, das täglich gewissenhaft auf die gesamte Umwelt bezogen ist. Da, ohne diese bewußte Rücksichtnahme auf alle anderen, keine Reise, kein Weg zum Berufsort, keine Arbeit, keine Freizeit menschlich bewältigt wird, sich vielmehr als eine Einbahn des Todes, des Mordes (auf der Straße, in der Luft, im Betrieb) und des Selbstmordes (in der Freizeitgestaltung) ausweist. Die Neuzeit liegt vor uns; sie ist eine Zeit großer, vorauszusehender (und schon deshalb zu überwindender) Gefahren,' und ebenso großer Möglichkeiten, unser Leben zu reifen.

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