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Digital In Arbeit

Der „sechste Tag“

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Es war sicher ein großes Versäumnis, daß man im vorigen Jahrhundert die Folgen der Industrialisierung nicht annähernd vorausgesehen ujid in die weitere Entwicklung einkalkuliert h?t. Erst ein langer und schmerzlicher Ausgleich der schwersten Spannungen hat die Industrialisierung zu einer positiven Errungenschaft gemacht. Soll sich ähnliches bei der „Zweiten industriellen Revolution“ — der Automation — wiederholen oder müssen nicht alle Möglichkeiten schon jetzt durchdacht und geprüft werden?

Dem Erzieher drängt sich angesichts dessen, was die.Automation an Verkürzung der Arbeitszeit und an Minderbedarf menschlicher Arbeitskraft bringen wird, der weittragende Gedanke auf, daß von hier aus dem größten pädagogischen Notstand unserer Zeit zu steuern wäre, nämlich dem Aufwachsen großer Massen von Kindern ohne die mütterliche Erziehung. Darüber war erst kürzlich in der „Furche“ im Zusammenhang mit Bedenken gegen die berufstätige Frau und Mutter die Rede.

Andere wichtige pädagogische Gesichtspunkte betreffen den Freizeitgewinn, der auf der ganzen Linie eintreten wird. Schon sprechen ja die Soziologen von einer „Freizeitgesellschaft“! Die Diskussion um die Fünftagewoche ist ein Vorbote dazu, wobei wir hier zunächst nicht an die Schule, sondern an die bereits ge-

gebene Fünftagewoche der Großindustrie und eines Teiles der Gewerbe denken. Die Auswirkung ?uf den Menschen ist schon heute eine sehr verschiedene, wurde aber bisher nicht ausreichend beachtet und studiert. Teilweise wird der nun arbeitsfreie sechste Wochentag für zusätzliche Erwerbsarbeit verwendet, es entsteht also eine geteilte Sechstagewoche. (Das „Pfuscherwesen“ dieser Art wird infolge der Wirtschaftskonjunktur von der Gewerbebehörde und den Innungen wahrscheinlich wenig beachtet.)

Im ganzen zeigen sich deutlich zwei Gruppen von „Fünftagearbeitern“, für die der neue Rhythmus der Woche ganz verschiedene Auswirkungen hat. Beispielsweise ist der Schrebergärtner einer der glücklichsten Gewinner der neuen Einteilung; er weiß mit dem freien Samstag etwas Vernünftiges anzufangen, ja er erhält durch ihn den sonst für die Gartenarbeit beanspruchten Sonntag als Ruhetag zurück. Aehnlich günstig sieht es bei den Bastlern, Sammlern, aktiven Sportlern und Lernbeflissenen aus.

Unerfreuliche Wirkungen der Fünftagewoche zeigen sich aber bei jenen vielen einfachen Menschen, die am Samstag keine zusätzliche Arbeit übernehmen, aber auch kein Steckenpferd oder „Hobby“ besitzen. Für sie alle ist dieser freie Tag ein Danaer-

gesehen k. Alkohol und Vergnügungsindustrie füllen das entstandene Vakuum zum Nachteil des Menschen aus, Man muß' mit,..en Arbeiterfrauen, der Wiener Randbezirke sprechen, um zu erfahren, Haß die meisten von innen ilSer den arbeitsfreien Samstag der Männer unglücklich sind, und man muß wissen, daß Freitag und Samstag für die Gaststätten dieser Gebiete viel „stärkere“ Tage sind als der Sonntag.

Das alles ist für den Volkserzieher beachtlich, denn die kommende Automation wird auf jeden Fall — ob sie sich nun mehr im Sinne der Fünftage- oder der „gleitenden“ Arbeitswoche auswirkt — eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit und damit einen gewaltigen Anfall freier Stunden für die große Masse der Industriegesellschaft bringen. Natürlich erwachsen dadurch allen Einrichtungen der Volksbildung bedeutende Aufgaben. Sie werden die unbeschäftigten Menschen „aufzufangen“ haben, wenn andeVs nicht die gewonnene Freizeit demoralisierend wirken soll.

Die Voraussetzungen für einen positiven Freizeitgewinn werden daher im Zeitalter der Automation Familie und Schule zu legen haben, und zwar dadurch, daß getrachtet wird, jeden jungen Menschen bewußt und frühzeitig an eine Lieblingsbeschäftigung heranzuführen und zu binden, wobei zum Beispiel die entwicklungsmäßig an der Schwelle der Kindheit fast allgemein auftretende Sammelfreude der jungen Menschen einen ausgezeichneten Ansatzpunkt bietet. Erst eine schöne „Liebhaberei“ macht den Menschen zum Genuß der Freizeit fähig und schützt ihn vor der Versklavung durch die Vergnügungsindustrie.

Es wird sich allerdings nicht darum handeln können, einen neuen Unterrichtsgegenstand, „Freizeitgestaltung“, einzuführen, wie manche sehr wohlmeinende Beobachter dieser Entwicklung empfehlen. Das „Anbieten“ aller Möglichkeiten freier Eigenbeschäftigung — von denen übrigens so viele sich noch gar nicht an das Schulkind wenden können — ist zweifellos eine ureigenste Aufgabe der Volksbildung, nicht aber der Schule. Doch wird diese das Problem selbst bereits aufzugreifen haben und bei allen Gelegenheiten die Ausblicke eröffnen müssen, die sich von so vielen Unterrichtsgegenständen her auf die freie Betätigung ergeben. Ergänzungen der Lehrpläne unserer Schulen in diesem Sinn dürften sich bald als notwendig erweisen. Auch die stärkere Begrenzung der Pflichtfächer zugunsten der Wahl von Freifächern könnte in diese Richtung weisen und einen neuen Sinngehalt bekommen.

Der neuen Situation, dem geänderten Verhältnis des Menschen zur Arbeit, wird aber auch

zu dienen sein durch die stärkere Pflege aller Formen der Hand- und W e r k a r b e i t. Und dies ebensowohl darum, weil von der manuellen Tätigkeit viele Wege zu wertvollen Liebhabereien führen — man denke zum Beispiel an den Flug- und Schiffsmodellbau —, aber auch wegen der Notwendigkeit, trotz der automatisierten Maschinenarbeit der Produktion, jeden jungen Menschen zum Erlebnis der manu eilen Arbeit mit ihren erzieherischen Funktionen zu führen, wie dies das Ziel der großen Arbeitsschulbewegung um Georg Ker-schensteiner am Beginn unseres Jahrhunderts gewesen ist.

Wie viel doch auf diesem Gebiete bereits ▼ersäumt wurde, zeigt uns das Auftreten jener Gruppen der Verwahrlosten, die man „Halbstarke“ nennt. Von ihnen gilt häufig wirklich das, was ein Couplet über si.e sagt: „Weil's uns so fad is t.“ Ja, weil sie nichts mit sich und mit ihrer freien Zeit anzufangen wissen, sind viele der Kitsch- und Verbrecherromantik erlegen, die auch für Besseres fähig wären.

Gelingt uns eine gute Freizeiterziehung der

Massen jugendlicher Menschen, dann wird die Automation und die von ihr bewirkte Verkürzung der Arbeitszeit nicht nur mancher Gefahr entkleidet, sondern es können bedeutende menschliche Qualitäten und Energien auf dem Wege über „Hobby“ und „Steckenpferd“ der kulturellen oder der sozialen Hebung nutzbar gemacht werden. Man denke etwa an Landschaftspflege und Heimkultur, an Fremdsprachenstudium, an Hausmusik und Sammlertätigkeit.

Kein bedeutendes Geschehen, das die Struktur der Gesellschaft ändert, bleibt ohne Rückwirkungen auf jenen Auseinandersetzungsprozeß, den wir Erziehung nennen. In solchen Situationen müssen sich daher die Erzieher wachsam fragen, welches nun ihre Aufgabe, ihr Anteil an der Bewältigung und Auswertung der neuen Gegebenheiten sei.

Die Automation dürfte ein für die Menschheit schicksalsgestaltender Vorgang der nächsten Zeit werden; ihn auch unter pädagogischen, unter volkserzieherischen Gesichtspunkten zu sehen, ist daher wohl ein echter Auftrag der Gegenwart.

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