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Die Hälfte des Jahres schulfrei?

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Nützt die "Fünftagewoche" dem Kind, der Familie, der Schule?

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Nützt die "Fünftagewoche" dem Kind, der Familie, der Schule?

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Der schulfreie Samstag wird wieder diskutiert. Den Anstoß gab die immer mehr um sich greifende Fünftagewoche unter der erwerbstätigen Bevölkerung und die fortschreitende Automation im Wirtschaftsleben, die dem Menschen der Zukunft immer mehr Freizeit sichern wird. Über kurz oder lang, so sagt man, wird die Rationalisierung die Fünftagewoche für alle Kreise zu einer Selbstverständlichkeit machen und dann auch vor den Toren der Schule nicht haltmachen.

Nun liegen aber derzeit noch keineswegs genaue Ziffern darüber vor, welcher Prozentsatz der Bevölkerung bereits in den Genuß eines arbeitsfreien zweitägigen Wochenendes gekommen ist. Einstweilen ist es selbst in den Städten noch eine Minderheit und wird auch auf längere Zeit noch eine solche bleiben. Auf dem Lande gibt es schon einen schulfreien Wochentag, dafür muß man aber dort den Nachmittagsunterricht in Kauf nehmen. Dann taucht hier die andere Frage auf: Selbst wenn die Fünftagewoche im öffentlichen Leben durchgeführt werden könnte, wie viele könnten auch in ihrem Privatleben wirklich davon Gebrauch machen? Es ist sicher, daß die Befürworter dieser Neueinführung von der besten Absicht geleitet sind. Sie wollen dem Kind, der Familie, der Schule, der Lehrerschaft dienen, wollen günstigere Voraussetzungen für unser Erziehungswesen schaffen. Aber das alles müßte erst erprobt werden.

Was würde die Fünftageschulwoche für das Kind bedeuten, das wir ja vor allem berücksichtigen müssen? Das heutige Kind ist körperlich meistens überentwickelt, geistig aber unterentwickelt. Es ist zerfahren, es kann sich nicht sammeln, es ist ein vibrierendes Nervenbündel, es ist sehr leicht ermüdbar. Man könnte sich nun tatsächlich denken, daß gerade deswegen ein verlängertes Ausschwingen am Wochenende günstig wäre und der Beruhigung und Kraftsammlung dienen könnte.

Wird dies aber wirklich der Fall sein? Wohl nur für die Kinder, die die freien Tage irgendwo in der Natur, fern vom städtischen Getriebe, verbringen könnten, und wohl auch da nur, wenn dieser Aufenthalt außerhalb der Stadt wirklich eine seelische und körperliche Erholung bedeuten würden. Die Erfahrung lehrt aber, daß schon bisher die Kinder gerade am Montag am müdesten und am wenigsten aufnahmefähig sind. Es ist ferner zu bedenken, daß die erweiterte Freizeit am Wochenende durch eine um so gesteigerte Anspannung an den fünf verbleibenden Schultagen erkauft werden müßte, soll der Bildungsstand nicht sinken.

Das würde also zu einer Ballung der Anspannung und einer Ballung der Entspannung führen, wenn man so sagen kann. Aber beides ist weder für den körperlichen noch für den seelischen Organismus im allgemeinen sonderlich günstig, für den sich entwickelnden, zarten, kindlichen Organismus schon gar nicht. Fällt der sechste Schultag weg, so muß an den verbleibenden fünf Schultagen mehr geleistet werden. Dies kann wohl ohne Streckung des Schulaufenthalts nicht erreicht werden. Anstatt fünf oder sechs Stunden müßten die Kinder dann eben sieben und acht Stunden täglich im Bereich der Schule bleiben. Das Ergebnis ist eine um so größere Ermüdung am Ende jedes Schultages und jeder Schulwoche. Die Kinder würden also mit noch größerer Gereiztheit ans Wochenende kommen, was keine günstige Voraussetzung für eine gründliche Erholung ist. Je abgespannter man ist, desto schwerer entspannt man sich.

Aber: Kann man denn auf die Bildungsarbeit nicht auch die Rationalisierung anwenden, kann man nicht den Stoff kürzen, Zeit einsparen? Sicher gibt es in gewissem Sinne zweckmäßigere und unzweckmäßigere Arbeitsverfahren; aber im allgemeinen widersetzt sich die geistige Tätigkeit der Rationalisierung. Das geistige Wachstum, die geistige Entwicklung verlangen Ruhe, planmäßige Erfassung und Verarbeitung des Ganzen. Nichts schadet so wahrer Bildungsarbeit wie Überhastung und Gehetztwerden.

Es ist kaum denkbar, daß man für die Aneignung des zur heutigen Bildung nötigen Stoffes mit weniger Zeit als mit der nach den jetzigen Lehrplänen zur Verfügung stehenden auskommen kann. Wenn man nun allenfalls, um den lästigen Nachmittagsunterricht zu umgehen, die Lehrzeit auf den Vormittag beschränken würde, so müßte der Stoff noch mehr zusammengepreßt und in einem Eiltempo durchgepeitscht werden. Aus allem geht hervor, daß dem Kind und seinem geistigen Werden mit der Fünftageschulwoche kein guter Dienst erwiesen wird.

Was ist mit der Familie? Die Vertiefung der häuslichen Gemeinschaft ist ja einer der treibenden Gründe für die Einführung der Fünftageschulwoche. Das Kind sollte zumindest auf zwei Tage ganz am häuslichen Herd wieder heimisch werden können. Voraussetzung wäre natürlich, daß die Eltern für die Kinder wirklich frei sind. Das ist zur Zeit für die meisten Eltern nicht möglich. Bei der jetzigen Lage würde der freie Samstagmorgen der Kinder für die Eltern eher eine Belastung bedeuten. Geradezu eine Arbeitshinderung wären die Schüler und Schülerinnen für die meisten jener Eltern, die ein Geschäft haben oder einer sonstigen regelmäßigen Tätigkeit obliegen.

Das dritte, das in diesem Zusammenhang erwogen werden muß, ist die Schule. Wir alle wissen um die Bedeutung der Schule im Werdegang des neuzeitlichen Erdenbürgers. Je mehr die Familie versagte, um so mehr mußte sich die Schule ihrer Verantwortung und ihrer erzieherischen Macht bewußt werden.

Der erste und der letzte Wochentag sind die unergiebigsten

Gott sei Dank gehört trotz allem, vor allem auch trotz der fortschreitenden Entchristlichung, die Schule zu den wenigen Einrichtungen in unserem Gesellschafts- und Kulturleben, die sich noch wirklich ernst nehmen und im allgemeinen noch ernst genommen werden. Die Schule ist es vor allem, die auch das Kind noch wirklich ernst nimmt. Es ist sicher erbaulich und erfreulich, mit welch liebender Sorge sich die meisten Lehrer und Lehrerinnen um jeden ihrer Pflegebefohlenen annehmen, mit welcher Anteilnahme und Gewissenhaftigkeit die Unterrichtsbehörden über das Wohl der Jugend wachen.

Es gibt allerdings heute vieles, was der Schule ihre Arbeit erschwert und sie durchkreuzt. Am meisten schadet, was dem Kind seine hohe Meinung von der Schule nehmen und es dazu verleiten könnte, sie nicht mehr ernst zu nehmen. Dazu würde wohl auch die Einführung der Fünftageschulwoche beitragen. Was bleibt denn eigentlich von der Schulwoche und somit von der Schule selber noch übrig? Wird damit nicht die ganze Schulangelegenheit bagatellisiert? Es wurde schon im Vorausgehenden festgestellt, daß das verlängerte freie Wochenende die körperliche und seelische Schulbereitschaft nicht steigern, sondern mindern wind.

Schon heute sind der erste und der letzte Wochentag die schwierigsten und unergiebigsten Unterrichtstage. Bei der Fünftageschulwoche wird man noch mehr als bisher den Montag weithin zum Einschwingen in den Schulrhythmus brauchen; auf den Freitag aber wird das lange sorgenlose Wochenende seine auflockernde Wirkung ausüben. Man muß ja die Jugend kennen. Es bleiben also, wenn es gut geht, drei richtige Arbeitstage übrig. Es hat schon jetzt sehr nachteiligen Einfluß auf das Arbeitsethos unseres jungen Schulvolkes gehabt, daß sie in ihrer Bequemlichkeit vielfach einen gewissen behördlichen Schutz gegen vermeintliche Lehrertyrannei erfahren hat. Was wird erst werden, wenn nun Samstag und Sonntag kein Buch und kein Heft mehr angeschaut werden darf?

Aus all dem geht hervor, daß sich die Fünftagewoche im Schulleben heute kaum zum Wohle des Kindes oder der Familie auswirken, daß sie anderseits das Schulwesen und seine Autorität noch mehr aushöhlen würde.

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