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Familie: nicht überflüssig

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Die Strukturkommission der Schulreformkommission, die gewissermaßen deren Hauptabschluß darstellt, befaßte sich kürzlich, präsidiert in Vertretung des verhinderten Unterrichtsministers durch den Abgeordneten Josef Gruber, mit dem Fragenkreis ganztägiger Schuleinrichtungen. Damit sind erstmals Erörterungen über diesen nur anscheinend peripheren Teilaspekt des Schulwesens im vorab zuständigen Gremium aufgenommen worden; es zeigte sich bei den Beratungen sofort, daß hier überhaupt Kernfragen der Weiterentwicklung unseres Schulwesens berührt werden, beziehungsweise daß schulorganisatorische wie pädagogische und didaktische Grundfragen in diesen Problemkreis einfließen und somit zwangsweise nun zur Sprache gebracht werden müssen. Man denke dabei vor allem an den weiten, noch ungelösten Problemkreis einer durchgreifenden Lehrplanreform im Sinne einer Stoffentlastung und Straffung durch Neuordnungen und Zusammenordnungen.

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Die Strukturkommission der Schulreformkommission, die gewissermaßen deren Hauptabschluß darstellt, befaßte sich kürzlich, präsidiert in Vertretung des verhinderten Unterrichtsministers durch den Abgeordneten Josef Gruber, mit dem Fragenkreis ganztägiger Schuleinrichtungen. Damit sind erstmals Erörterungen über diesen nur anscheinend peripheren Teilaspekt des Schulwesens im vorab zuständigen Gremium aufgenommen worden; es zeigte sich bei den Beratungen sofort, daß hier überhaupt Kernfragen der Weiterentwicklung unseres Schulwesens berührt werden, beziehungsweise daß schulorganisatorische wie pädagogische und didaktische Grundfragen in diesen Problemkreis einfließen und somit zwangsweise nun zur Sprache gebracht werden müssen. Man denke dabei vor allem an den weiten, noch ungelösten Problemkreis einer durchgreifenden Lehrplanreform im Sinne einer Stoffentlastung und Straffung durch Neuordnungen und Zusammenordnungen.

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Mit anderen Worten, und das ist nur ein Aspekt: Die Frage der Einführung oder des Anbietens solcher Schiulformen, bei denen die Kinder und Jugendlichen den ganzen Tag über in der Schule bleiben, gibt den allgemein-konzeptionellen wie speziellen Überlegungen der Schulreform, die in den letzten Monaten eher stagnierten — wobei wir die letzten sind, die hier nur Betrieb um des Betriebes und des Arbeitsnachweises willen verlangen, sondern sehr wohl dafür eintreten, daß die Dinge sich überlegt und daher auch langsam entwickeln — neuen Impuls.

Vor allem ist aber, was damit das gegenständliche Anliegen betrifft, dieses aus dem Stadium erster ver-

einzelter Versuche und algemeiner Erörterungen sowohl in Fachzeitschriften wie auch, was sehr angenehm berührt, in der Tagespresse herausgetreten. Das zunächst zuständige Gremium, eben die parlamentarische Schulreformkommission, hat nun seine umfassenden Überlegungen anzustellen. Die Befassung erfolgt nunmehr in einer Frühphase der Versuche der Ganztagsschulen und Tagesheimschulen. Andere Un-terkommissionen der Schulreformkommission, besonders jene für Lehrerbildungsfragen, werden sich in nächster Zeit der Sache auf Grund der kürzlichen Beratungen zu widmen haben. Die bisherigen Schulversuche (im wesentlichen auf Wien beschränkt und vom Stadtschulrat für Wien angeregt) beanspruchen denn auch nicht, schon jetzt Aussagen über eine mögliche neue Organisationsform der Schule zu geben; sie könnten dies auf Grund der bisherigen kurzen Versuchsdauer nicht, wie denn auch die Versuchs-basis noch nicht breit genug ist, um von der wissenschaftlichen Aufbereitung her Aussagen machen zu können. Das grundlegende Rundschreiben des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst zur Einrichtung von Schulversuchen „Ganztagsschule“ und „Tagesheimschule“

trägt ein junges Datum, ein solches aus dem Februar vorigen Jahres.

Doch nun zur eigentlichen Sache: Worum geht es hier? Um es gleich vorwegzunehmen: Es liegt hier ein sehr komplexer und sehr differenzierter, daher auch in der Betrachtung sehr differenziert wie auch umfassend anzugehender Bereich vor, bei dem pädagogische oder außer-pädagogische Überlegungen anzustellen und in gegenseitige Gewichtung zu bringen sind. Dabei sei ausdrücklich gesagt, gerade auch vom wissenschaftlichen Pädagogen her, daß die außerpädagogischen, allgemeinen, einfach aus den Lebensumständen und Bedingungen unserer Epoche erfließenden Gesichtspunkte

mit ihrem legitimen Anspruch auf Berücksichtigung haben. Das bedeutet jedoch nicht ein einfach hinzunehmendes Ausliefern der Schule an allgemeine Erwägungen welcher Art immer. Das rein Pädagogische bleibt im Vordergrund, die Interessen des Kindes (und auch etwa rein arbeitsmäßige Belastungen, kurz: überhaupt neben den pädagogischen auch schulmedizinische Gesichtspunkte) sind in den Vordergrund zu stellen.

Zur begrifflichen Klärung ist zu sagen und gerade dies muß unternommen werden, da allenthalben in der Öffentlichkeit und vor allem in der letztlich als Sachwalter des Kindes mitentscheidenden Elternschaft sehr große Unbestimmtheiten und Ungewißheiten anzutreffen sind: Zwei Modelle stehen zur Überlegung an: Die „Ganztagsschule“, im Programm der SPÖ verlangt, und die „Tagesheimschule“, von der ÖVP propagiert. Dabei ist gleich zu sagen, daß Zwischenformen denkbar sind, wie auch bemerkt werden soll daß keineswegs starre politische Fronten hier bereits entstanden sind, wie auch die Beratungen sehr sorgsam geführt werden.

• Bei der Ganztagsschule handelt es sich um eine Schulorganisation, bei der vormittags und nachmittags pflichtmäßig zu besuchender Unterricht erteilt wird, der durch Sport,

Spiel und weitere Freizeitgestaltungen aufgelockert wird. Das Mittagessen wird in der Schule eingenommen. Dort werden auch die Hausaufgaben, die somit in den Unterricht integriert werden, gemacht. Die Schüler kommen am mittleren Nach-mittag heim.

• Die i Tagesheimschule ist ihrer Konzeption nach eine Schule mit einem vormittägigen Unterrichtsund nachmittägigen Betreuungsteil. Da der Unterrichtsteil wie eine Halbtagsschule zu gestalten ist, erwächst den Schülern keine Notwendigkeit, am Betreuungsteil teilzunehmen, das heißt: nur jene Schüler, deren Eltern sie dazu anmelden, besuchen freiwillig am Nachmittag diese Einrichtung und erhalten dort ihre Betreuung wie Beaufsichtigung, auch der Hausaufgaben.

Bei beiden Formen handelt es sich, das sei betont, um ein Angebot einer Kombination von Schule im engeren Sinn und einer Kinder- und Jugendtagesheimstätte. Darin liegen die gesellschaftspolitischen wie pädagogischen Substanzen dieser Modelle, die einem durch die vielfache Berufstätigkeit beider Elteinteile gegebenen zweifellos sehr weit verbreiteten sozialem Erfordernis Rechnung tragen.

Pädagogische, didaktische, lernpsychologische Argumente sprechen für wie auch gegen die Ganztagsschule; abgemildert erscheint das „Gegen“ bei der Tagesheimschule.

Das bildungs- und gesellschaftspolitische Postulat der Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit, dieses „Grundaxiom“ unserer Bildungspolitik, ist in all diesen Zusammenhängen und nach allen Richtungen — sozusagen nach „oben“ wie nach „unten“ — in Rechnung zu stellen. Des weiteren spielen sozialpädagogische Überlegungen gleichfalls eine Rolle wie auch ganz allgemeine, die einfach aus der Ordnung und dem Rhythmus des alltäglichen Lebens in unseren Tagen entspringen. (So ist etwa nicht zu übersehen, daß die Wirtschaft heute weitgehend die Fünf-Tage-Arbeitswoche hat.)

Auf die vielfachen Fragestellungen kann im einzelnen hier nicht eingegangen werden. Jedenfalls zeigt sich eine große Ambivalenz im gesamten Fragenkreis. Er reicht schließlich hinein in die Auffassungen über die Rolle der Schule angesichts der geistigen, moralischen und gesellschaftlichen Situation der Zeit wie des Staates in Erziehungsangelegenheiten, angesichts auch des allenthalben anzutreffenden Erziehungsdefizits manches Elternhauses. Eines sei allerdings dabei deutlich gesagt: Eine weitere Entfunktionali-sierung des Elternhauses darf durch neue Schulformen nicht erfolgen. Den geplanten Neueinrichtungen kommt eine — in sicherlich sehr

vielen Fällen zufallende — subsidiäre Funktion zu. So sei denn auch vermerkt, daß bei jener eingangs erwähnten Sitzung Abgeordneter Hermann Schnell, ausdrücklich als Schulsprecher der SPÖ, betonte, daß an eine generelle Einführung der Ganztagsschule nicht gedacht sei.

Doch wie immer auch die politischen Verhandlungen laufen mögen, im ganzen stehen hier überlegens-werte Vorschläge an. Wegen ihrer Auswirkung bis in das Familienleben hinein können und sollten sie breites Interesse beanspruchen und nach sich ziehen.

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