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Ein Schritt zur Ganztagsschule

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Die Abstimmung pro und kontra Fünftageschulwoche in Wien ist gelaufen. Das Ergebnis ist bekannt, die Auswirkungen bleiben abzuwarten. Auffallend erscheinen allerdings zwei Faktoren: Dort, wo die gebildeten Schichten Wiens zu Hause sind, haben sich die Eltern vornehmlich für die Sechstagewoche entschieden. Die Eltern der Sonderschulkinder wünschen mehrheitlich die Fünftagewoche

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Die Abstimmung pro und kontra Fünftageschulwoche in Wien ist gelaufen. Das Ergebnis ist bekannt, die Auswirkungen bleiben abzuwarten. Auffallend erscheinen allerdings zwei Faktoren: Dort, wo die gebildeten Schichten Wiens zu Hause sind, haben sich die Eltern vornehmlich für die Sechstagewoche entschieden. Die Eltern der Sonderschulkinder wünschen mehrheitlich die Fünftagewoche

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Offensichtlich mißt man in den „bürgerlichen“ Bezirken der Bildung größere Bedeutung zu und weiß um die Problematik der konzentrierten Belastung. Darüber hinaus könnte dort auch der geringere Anteil an berufstätigen Müttern ausschlaggebend gewesen sein: Wer sein Kind täglich betreuen kann, verzichtet leichter auf den freien Samstagvormittag zugunsten einer breiteren

Verteilung des Unterrichtes. Und wer in Grünbezirken wohnt, hat vielleicht auch ein geringeres Bedürfnis, das Wochenende außerhalb der Stadt zu verbringen.

Daß gerade die Eltern von Sonderschülern die Fünftagewoche gewählt haben, erscheint bemerkenswert. Werden nicht labile, lernschwache Kinder durch die Konzentration des Lehrstoffes auf fünf Tage noch mehr belastet als andere Kinder? Zahlreiche Kinderärzte und -Psychologen vermuten dies zumindest.

Sicher ist jedenfalls eines: Am Modell der Fünftageschulwoche hat sich die Diskussion um die Ganztagsschule neu entzündet.

So heißt es etwa in „Ganztagsschule - Problem und Aufgabe“ (aus der Reihe „Pädagogik der Gegenwart“): „Damit ist nicht gemeint, daß die Fünftageschule eine ursächliche Begründung für die Einführung von Ganztagsschulen darstellt... Es ist nicht ratsam, beide Problemkreise für sich allein zu behandeln, wenn die

Zusammenschau eine Lösung erbringen kann.“

Der Schulversuch „Ganztagsschule“ läuft seit dem Schuljahr 1974/75 und wird von der ersten bis zur achten Schulstufe erprobt. Unterrichtsminister Fred Sinowatz erklärte in einem Gespräch mit der FURCHE, daß diese Unterrichtsform auch künftig nur ein Angebot für jene Eltern darstellen soll, die ihre Kinder bis abends in der Schule untergebracht wissen wollen.

Das Besondere an dem SPÖ-Mo-deU ist die Aufteilung des Unterrichts über den ganzen Tag. Die Schulzeit beginnt in der Regel um 8 Uhr und endet für die Volksschule um 15.30 Uhr, für die Hauptschule um 17.30 Uhr (Freitag um 15.45 Uhr). Unterrichtszeit und geplante Freizeit sind so organisiert, daß auch am Nachmittag unterrichtet“ wird:

Und nochmals aus der Reihe „Pädagogik der Gegenwart - Ganztagsschule“:

„Das Schwergewicht des Unterrichts wird auch in den oberen Schulstufen am Vormittag hegen... Die Verlegung von Unterrichtsstunden wie auch von fachgebundenen und fachungebundenen Ergänzungsstunden auf den Nachmittag hat den Verlauf der physiologischen Leistungskurve insofern zu beachten, als zwischen 15 und 17 Uhr eine erhöhte Leistungsdisposition besteht.“ Damit wäre dann auch das Problem der Lelu Stoffverteilung auf fünf Tage gelöst und die gefürchtete Niveausenkung vermieden.

Dagegen ,bietet das Tagesheimschulmodell der ÖVP weit mehr individuelle Wahlmöglichkeiten, insbesondere was die Freiheit des Kindes betrifft. Der Unterricht wird als Block auf den Vormittag konzentriert, so daß über die Nachmittagsgestaltung frei disponiert werden kann. Verbleibt der Schüler in der Schule, wird er beaufsichtigt, werden ihm Freizeitgestaltungen aller Art apgeboten, ebenso wie Übungs- und Fördermöghchkeiten oder Kindergemeinschaften.

Wollen die Eltern den Nachmittag mit ihrem Kind verbringen oder möchte das Kind zu Hause sein oder Besuche machen, so ist dies möghch. Das Kind erlernt somit das selbständige Einteilen der Frei- und Ubungszeit und damit erste Eigenverantwortung.

Wo liegen da wohl die besseren Voraussetzungen für die Heranbü-dung mündiger Bürger?

Um schließlich auch ökonomische Aspekte zu bedenken: Der finanzielle Mehraufwand für die Ganztagsschule beträgt 102 bis 116 Prozent gegenüber einem höchstens 25prozen-tigen Mehraufwand für die Tagesheimschule.

Im Antrag Nr. 803 der Bezirksorganisation Wien-Brigittenau zum neueh SPÖ-Parteiprogramm fand sich eine bemerkenswerte „Feststellung“ zur Einführung der Ganztagsschule (im beschlossenen Programm scheint sie allerdings nicht auf):

„Je kürzer die Schulzeit eines Tages, einer Woche ist, desto eher ist das Kind den Einflüssen seines Elternhauses ausgesetzt. Diese Beeinflussung durch das Elternhaus bewirkt bei Kindern aus den Mittel- und Oberschichten, daß sie durch den Umgang mit den gebildeten Eltern auch außerhalb der Schule erhebliche Wissenszuwächse erzielen, während Kinder aus 'Unterschichten-Familien beziehungsweise Schlüsselkinder nicht diese zusätzliche Ausbildung im Elternhaus genießen. Es ist daher auch eine gesellschaftspolitische Forderung, möghchst die Ganztagsschule einzuführen.“

Auf Grund der österreichischen Gesetzeslage könnte aber diese Schulform nur mit Zweidrittelmehrheit eingeführt werden. Die Ganztagsschule wird daher in naher Zukunft wohl nur ein Angebot neben anderen Organisationstypen im Rahmen der Schulversüche bleiben.

Eines allerdings muß mit Nachdruck gefordert werden: die annähernd gleiche Anzahl von Tagesheimschulen als Alternative zur Ganztagsschule. Denn nur so kann den Eltern die freie Wahlentscheidung gesichert werden.

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