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Ganztags zur Schule?

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Es erscheint paradox: auf der einen Seite Diskussionen um weitere Arbeitszeitverkürzung, auf der anderen der Wunsch der Sozialisten, möglichst vielen Schulkindern die 50 (oder mehrj-Stunden-Woche, nämlich die „Ganztagsschule“ (die übrigens mit der damit oft verwechselten integrierten Gesamtschule nichts zu tun hat), anzubieten. Es ist aber nicht paradox, denn beides dient dem gleichen Ziel: der Vollbeschäftigung. Auch unsere Kinder sollen vollbeschäftigt sein.

Unterrichtsminister Fred Sinowatz hat zwar erst zum Wochenende wieder versichert, daß niemand seine Kinder in eine ganztägige Schulform werde schicken müssen, aber er will solche Schulformen anbieten, wobei zwischen den einzelnen Modellen Wahlfreiheit herrschen soll.

Das ÖVP-Gegenmodell „Tagesheimschule“ enthält als wesentlichen Vorteil die permanente Wahlfreiheit. Hier steht es den Eltern täglich aufs neue frei, ihr Kind am Nachmittag in der Schule betreuen zu lassen oder selbst daheim zu beaufsichtigen. Da bei der Ganztagsschule Pflichtstunden alternierend mit Freifächern und Freizeit über den ganzen Tag verteilt sind, fallt dort diese Wahlfreiheit und jede Möglichkeit außerschulischer Freizeitgestaltung (in Jugendverbänden, Musikstunden, Sportvereinen und dergleichen) weg. Aufgaben würden bei ganztägiger Betreuung natürlich in der Schule gemacht werden.

Grundsätzliche Vorbehalte gibt es gegenüber allen ganztägigen Schulformen. Das haben vorige Woche sowohl die österreichischen Bischöfe wie auch der Präsident des Hauptverbandes katholischer Eltemverei- ne, Herbert Emberger, zum Ausdruck gebracht. Denn die Rolle der Eltern als' erste Erziehungsinstanz, wie sie auch Sinowatz vertritt (FURCHE Nr. 38/1979), ist hier auf jeden Fall gefährdet.

Emberger hat richtigerweise darauf hingewiesen, daß es nicht nur Elternrechte gibt, in die durch solche Schulformen eingegriffen würde, sondern auch Elternpflichten. Daß sich Eltern dieser Pflichten entledigen, indem sie die Erziehungsarbeit immer mehr an die Schulen delegieren, sollte der Staat nicht unbedingt fördern.

Der Vorwurf der SPÖ, daß die katholischen Privatschulen ja selbst in diesem Sinne „familienfeindliche“ Halb- und Vollinternate führen, läßt sich - trotz der freien Entscheidung der Eltern, ihre Kinder in diese Schulen zu schicken - nicht einfach vom Tisch fegen. Zweifellos sollten manche Eltern vor ihrem Gewissen ernsthaft prüfen, ob sie gewichtigere Gründe dafür haben, ihren Kinder diese Schulformen zuzumuten, als die eigene Bequemlichkeit.

Anderseits besteht zweifellos ein Bedarf an ganztägigen Schulformen, auch aus völlig lauteren Motiven. Alleinstehende Mütter (oder Väter) und

Familien, die auf ein zweites Einkommen angewiesen sind, brauchen sie. Auch der ehrliche Wunsch, den Kindern eine möglichst gute Erziehung (jedenfalls eine bessere, als sie daheim möglich ist) angedeihen zu lassen, verdient Verständnis. Wie groß ist aber dieser Bedarf wirklich?

Vor der von Sinowatz angeregten und von Emberger begrüßten Bedarfserhebung gibt es zwei grundverschiedene Anhaltspunkte. An Österreichs katholischen Privatschulen besuchen rund 23% der Schüler ein Halbinternat oder den Schulversuch Tagesheimschule, wobei auffällt, daß der Bedarf mit dem Alter der Schüler deutlich abnimmt. Nach einer Meinungsumfrage wollen aber 37% der Österreicher die Volksschule, 51% die Schule der 10- bis 14jähri- gen und sogar 59% die Schule der über 14jährigen ganztägig angeboten sehen. Ein Fall von Praxis kontra Theorie.

Theoretisch liegt es nahe, den umfangreicheren Lehrstoff für ältere Schüler auf den ganzen Tag zu verteilen, in der Praxis wollen aber gerade diese sich nicht ganztägig hinter Schulmauem verbannen lassen. Trotz der Freizeitstunden dazwischen werden viele Kinder das Gefühl haben, 5aß sie nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen.

Um den heißen Brei der Kosten wird bisher überhaupt nur herumgeredet. Die theoretische Freiheit, die Schulform zu wählen, ist schön und gut, aber in der Praxis ist ein Nebeneinander von mehreren Schulformen (etwa konventionelle Halbtagsschule, Tagesheimschule und Ganztagsschule) in allen Gegenden finanziell und organisatorisch unmöglich.

Im allgemeinen wird die Halbtagsschule ausreichen, im übrigen kann die Tagesheimschule durchaus den Wünschen nach ganztägiger Betreuung mit dem Vorteil der möglichen Abmeldung vom Nachmittagsprogramm Rechnung tragen. Was nicht heißen soll, daß man nicht dort, wo das Interesse groß genug ist, eine Ganztagsschule führen kann.

Neben der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit der Frau spielt ein zweites gravierendes Problem hier hinein: die Finanzierung von Leistungen, die nicht allen zugute kommen. Ein Beispiel: Wie kommt ein Alleinverdiener, der sein Kind nur vormittags in der Schule haben will, dazu, mit seinen Steuern die ganztägige Schulbetreuung der Kinder von zwei erwerbstätigen Eltern mitzubezahlen? (Wobei nach Angaben des Katholischen Familienverbandes die Tagesheimschule um 25%, die Ganztagsschule aber sogar um 100% mehr kostet als die konventionelle Schule.)

Der generelle Nulltarif (vom Mittagessen abgesehen) für ganztägige Schulformen dürfte aus dieser Sicht unsozialer als die Einhebung eines Schulgeldes sein. Berechtigt ist dagegen eine soziale Staffelung solcher Beiträge (wie es sie an katholischen Schulen bereits gibt) und (nur für den Fall des Nulltarifs) der Wunsch Em- bergers nach einer finanziellen Gleichstellung aller Schulen, die ganztägige Schulformen anbieten - also öffentlicher wie privater.

Wenn man schon die ganztägige Schulbetreuung abgelten will, soll man eben die Kinderbeihilfen entsprechend erhöhen. Dann hätten die Eltern wieder die Wahlfreiheit, dieses Geld in ganztägige Schulbetreuung oder etwas anderes zu stecken.

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