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Gegen die Schlüsselkinder

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Als letzthin die sozialistischen „Kinderfreunde" die Ganztagsschule auf ihre Fahnen schrieben und Unterrichtsminister Sinowatz dieses Begehren postwendend als eines der nächsten Ziele seiner Schulpolitik postulierte, fanden sich auch sofort Warner, die verschreckt eine „Verstaatlichung des Kindes" und eingefleischten Klassenkampf witterten.

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Als letzthin die sozialistischen „Kinderfreunde" die Ganztagsschule auf ihre Fahnen schrieben und Unterrichtsminister Sinowatz dieses Begehren postwendend als eines der nächsten Ziele seiner Schulpolitik postulierte, fanden sich auch sofort Warner, die verschreckt eine „Verstaatlichung des Kindes" und eingefleischten Klassenkampf witterten.

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Schon im übernächsten Schuljahr soll, so heißt es in den Vorstellungen des Burgenländers am Wiener Mino-ritenplatz, die Ganztagsschule im großen Ausmaß erprobt und im Gefolge eingeführt werden. Einerseits dränge die Entwicklung auf dem pädagogischen Sektor in diese Richtung, anderseits mache auch die Änderung der Berufsstruktur und die Zunahme der Zahl berufstätiger Frauen das Problem dringlich.

In der Tat: Das Problem der Schlüsselkinder, die auf sich selbst angewiesen sind, weil die Eltern tagsüber ihrer Arbeit nachgehen, ist bis heute ungelöst. Großeltern, Onkeln und Tanten müssen herhalten, damit der Zustand etwas gemildert wird. Das ist aber freilich auch nur ein Provisorium, das niemanden zufriedenstellt. Dieses Problem trifft auch alle gleich hart: Die bäuerliche Bevölkerung, die jahraus, jahrein keine 40-Stunden-Woche kennt, die kleinen Gewerbetreibenden, die im Familienbetrieb bis dn die späten Abendstunden zu arbeiten haben, und die Arbeiter und Angestellten, die nach Arbeits- und Büroschluß erst an ein Familienleben denken können. Müde und abgespannt heißt es dann, sich um die Kinder zu kümmern: Aufgaben werden (vielleicht) kontrolliert, eventuell sogar gemacht, und wenn noch Zeit und Wille vorhanden sind, kann auch noch gemeinsam gelernt werden.

Es paßt nur heute noch nicht in unsere Vorstellungen, daß die Schule gerade diese Dinge, die ein Familienleben am Abend erschweren — wenn nicht gar unmöglich machen — übernimmt. Die Schule wird aber auch ihren Charakter ändern müssen: weg von der reinen Lehrstoffvermittlung, die nachher durch Hausaufgaben und Lernen verarbeitet werden muß, und hin zur Lehrstoffverarbeitung.

Ein derartiger Schulbetrieb ist in vielen anderen westlichen Staaten bereits eine Selbstverständlichkeit. Aber auch in Österreich — nämlich in Oberösterreich — hat man damit schon gute Erfahrungen gemacht. Und gesellschaftspolitische Barrieren, die jetzt scheinbar errichtet werden sollen, gibt es eigentlich nicht. Denn das, was Sinowatz nach sozialistischen Überlegungen vorgeschlagen hat, deckt sich mit den Vorstellungen der Volkspartei, die etwa im „Modell Steiermark" — wenn auch noch „schamhaft" — in die Zielgerade der Ganztagsschule einbiegt: „Wenn das Bildungsziel ohne Uberforderung der Kinder erreicht werden kann, treten wir für die Einführung der Fünf-Tage-Woche ein. In einem solchen Zusammenhang steht fest: Der Vormittagsunterricht reicht nicht mehr aus."

Mehr Familienleben in den Abendstunden, mehr Familienleben durch ein verlängertes Wochenende kann also dem Argument der Entfremdung, wie es gegen die Ganztagsschule gebraucht wird, entgegentreten. Es ist nur Aufgabe der Pädagogen, bei der Gestaltung der Ganztagsschule auf die Belastbarkeit der Kinder Rücksicht zu nehmen.

Die Schulverwaltung hingegen wird noch ein anderes Problem lösen müssen — und da scheint der Optimismus des Unterrichtsministers, ähnlich wie bei der Schulbuchaktion, die Situation zu verkennen: Ein ganztägiger Schulbetrieb erfordert zusätzlich auch Schulen mit Schulküchen, Speisesälen und Aufenthaltsräumen. Angesichts der Tatsache, daß heute der Schul- und Klassenraum an allen Ecken und Enden zu knapp ist und der Nachholbedarf die finanziellen Möglichkeiten übersteigt, wird die Ganztagsschule eher noch mehr Zukunftsmusik denn Realität. Auch ist es pädagogischer Unsinn, überfüllte Klassen, wie sie heute schon den Unterricht belasten, in ein System der Ganztagsschule einordnen zu wollen.

Sinowatz hat aber nicht nur die räumlichen Gegebenheiten zum Gegner, hart dürften ihm auch die Lehrer zusetzen. Zwar verlautet aus der Lehrergewerkschaft, man habe sich konkret mit der Ganztagsschule, was die Besoldungsfrage anlangt, „noch nicht beschäftigt", im Unterton klingt aber durch, daß die „Ganztagsbeschäftigung" der Lehrer den Staat teuer zu stehen kommen wird. Es ist ja ein offenes Geheimnis, daß trotz Vorbereitung und Hefteverbes-sern sowie aller administrativer Schularbeit viele Lehrer neben dem Schulbetrieb nebenberuflich tätig sind: Das reicht von Nachhilfestunden bis zur Arbeit als Buchhalter. Damit wäre es vorbei, sollte der Lehrberuf auch „Full-time-job" werden, wie jeder andere auch, bei dem keine Zeit für Nebenverdienste bleibt. Eines ist damit heute schon sicher: Unter diesen Umständen schwimmen die Lehrer gegen den Strom der öffentlichen Meinung. Es darf und soll aber ein echter pädagogischer Fortschritt nicht an solchen Dingen scheitern — zum Nachteil der Eltern und Schüler.

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