Da beschloß ich, Früh-Pensionist zu werden

19451960198020002020

Der massive Drang der Österreicher in die Früh-Pension ist für viele unerklärlich. Ein 56-jähriger Lehrer in Linz schildert seine Beweggründe zu diesem Entschluß.

19451960198020002020

Der massive Drang der Österreicher in die Früh-Pension ist für viele unerklärlich. Ein 56-jähriger Lehrer in Linz schildert seine Beweggründe zu diesem Entschluß.

Werbung
Werbung
Werbung

Im Anfang war das Wort. Nämlich das Wort "tinnitus". Jeder, der den erprobten "Stowasser", das lateinisch-deutsche Schulwörterbuch, aufschlägt, kann dort lesen: tinnitus meint Geklirr, Klang. Der übertragenen Bedeutung "hohles Wortgeklingel" bedarf ich nicht; es geht zunächst nur um meine Ohren. Schon vor Jahren also hat mir der HNO-Spezialist gesagt: "Herr Doktor, es kann Ihnen passieren: Sie werden wohl h ö- r e n, aber nicht v e r s t e h e n." Ich habe ihn sowohl gehört als auch verstanden - und nehme daher Tabletten. Tinnitus ist bekanntlich eine fallweise recht unangenehme Art Ohrensausen; ein bisweilen hoher, sirrender Klang, der einen parallel zum eigenen Sprechen als auch Hören begleitet. Und auch sonst ...

Am 26.April, man wurde durch Postwurf informiert, hat im neuen Linzer Rathaus eine großangelegte Information über diesen Quälgeist stattgefunden, dessen sich die Volksgesundheit nun annehmen zu müssen glaubt. Gesprochen haben allerdings hauptsächlich Ärzte.

Knapp nach Schulbeginn 1999/2000 beantrage ich aufgrund des ärztlichen Gutachtens die Herabsetzung der Unterrichtsstunden um die Hälfte. Das Ansuchen wird verhältnismäßig rasch bewilligt ("positive Erledigung"); ich unterrichte also seit dem Oktober des abgelaufenen Jahrtausends statt an vier Abenden nur an zwei. Dabei stehen mir drei Viertel des Gehalts zu, und zwar zwei Jahre lang, wenn die gesundheitliche Beeinträchtigung etwa gleich bleibt. Dann muß ich mich, als Lehrer für Deutsch und Philosophie am Abendgymnasium für Berufstätige, entscheiden: Entweder wie der "voll" - oder in Pension. Früh-Pension. Ich bin 56.

Lehrer-Dämmerung Der Unterricht an nur zwei Abenden ist eine Wohltat. Die zwei Abende, an denen ich nicht zu unterrichten brauche, auch. - Ich hab' mich schon entschieden. Ich werde, mitsamt meinem Empfinden, eine Art "Starkstromleitung" im Kopf zu haben, nicht mehr "voll" unterrichten. Seit 30 Jahren habe ich das getan, an diversen Anstalten: Gymnasien, Tages- und Abendschule, BFI, Pädagogische Akademie, Übungshauptschule, Theologische Hochschule. Manchmal komme ich mir, vor lauter Anstalten, schon etwas veran- als auch verunstaltet vor. Ich werde keine Anstalten mehr treffen, weiterhin "voll" zu unterrichten. Ich will nicht mehr "voll" pädagogisch tätig sein, sondern, einem zentralen Anliegen der Mystiker entsprechend, leer werden. Leer von Schule zumindest. Leer, um Neues, Anderes aufzunehmen. Zwar habe ich um einen Werkvertrag für die Dauer von zwei Jahren angesucht: Ich würde gern, noch einige wenige Wochenstunden unterrichtend, auf diese Art mein Berufs-Dasein beenden. Aber von mehreren Seiten wird mir bedeutet: Mach' Dir da keine Hoffnungen. Der Staat ist froh, daß er wieder einen Alten loshat, und es dürfte ihm egal sein, wieviel Wissen und Können bei wem und wie lange brachliegen, ohne vielleicht sinnvolle Verwendung sein mag.

Dass ich nun, angesichts des demnächst hinaufgesetzten Pensionsalters, noch zwei Jahre "voll" gehe, um mich dann in der finanziell beinahe gleichen Lage wie jetzt zu befinden - das tu ich mir nicht an. Die Kollegenschaft, als bekannt wird, daß ich um "Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand" angesucht habe, verhält sich weitgehend still. Einer feixt mehrmals mit dem Jesus-Zitat: "Nur eine kleine Weile noch bin ich bei euch."

Einige wenige beneiden mich und zwar auf die angenehme Art, nämlich indem sie mich wissen lassen, sie würden auch gern gehen, können aber noch nicht. Zu jung, das heißt in diesem Fall: Wenige Jahre jünger als ich. Wenn man ehrlich sei, meint einer, müsse man sagen, angesichts von Publikum und Unterrichts-Atmosphäre sei diese Schule am Rand des Erträglichen angelangt; sie sollte eigentlich schon seit Jahren geschlossen sein. Interessant: Genau das gleiche hat, sinngemäß, vor ca. 12 Jahren ein inzwischen seliger Oberstudienrat bei seinem Abschied gesagt. Ich höre ihn noch. Ich hab' ihn auch verstanden, damals. Jetzt denk' ich auch so. Aber ich behalt' es für mich.

Ein Freund, ebenfalls im pädagogischen Umfeld tätig, sagt, er sei erschreckt durch meinen Entschluss. Warum? Weil er daran erinnert werde, dass auch er in einigen Jahren "gehen" müsse.

Die Realität der Abendgymnasien und -Realgymnasium für Berufstätige, früher unter der Bezeichnung "Arbeitermittelschule" bekannt, hat sich gewandelt. Man weiß das "draußen" zum Großteil immer noch nicht. Der Gesprächspartner sagt "Ja - an der AMS unterrichten Sie? Da können Sie froh sein; da wissen die Schüler wenigstens, was sie wollen!"

Mitnichten. Damit nämlich der Schultyp nicht eingeht, wird aus allen Windrichtungen die Klientel zusammengekratzt. Das "alte", oft sehr lernwillige und belastungsfähige Publikum existiert längst nicht mehr. Inzwischen hat man's zum guten Teil mit müden Pflänzchen zu tun, denen abends langweilig ist, die Kontakt suchen (die Abendschule beweist, daß sowas auch ohne Annonce möglich ist), die Cola zuzelnd und Joghurt schlürfend durch die Gänge schleichen (gottseidank: wenigstens Rauchverbot!) und gar nicht immer damit einverstanden sind, dass in diesen Hallen Stoffwiederholungen, Tests, ja sogar Schularbeiten (meistgehasst: Mathematik) ausbrechen.

Langjährigen Klagen nach "oben" über die enormen Schwierigkeiten, hier sogenannte Bildung zu vermitteln, ebenso Spannungen und Querelen zwischen Leitung und Belegschaft begegnet die Behörde mit alterprobtem beredten Schweigen. Man ist mit sich alleingelassen, kann im eigenen Saft weiterschmoren. Wer fragt noch nach dem echten Wissen-Wollen seitens der Schüler, wenn's insgesamt nur mehr darum geht, die Schüler- beziehungsweise Klassenzahl zu "halten"? So kommt es etwa, daß am Beginn des ersten Semesters, Mitte September, 35 bis 40 Menschen, darunter oft mehr als die Hälfte Ausländer, des Deutschen nur spärlich mächtig, in einer Klasse sitzen; Ende Jänner sind's allerdings nur mehr fünf oder sieben. Die Klasse kann so nicht mehr weitergeführt werden; sie wird mit einem parallelen Überbleibsel zusammengelegt. Dann sind's zehn; am Ende des zweiten Semesters aber sechs.

So zieht sich das zu den weiteren Semestern (insgesamt 9) hinauf. Eine gewisse quantitative Auffettung ergibt sich zwar durch ausgeschiedene Tagesschüler, die in höhere Semester eintreten - was aber keineswegs heißt, dass das Niveau deswegen höher wird.

Beredtes Schweigen Wenige Klassen ausgenommen, ist die Kontinuität des Unterrichtens, Lernens, Beisammenseins von Lehrern und Schülern oft nicht mehr gewährleistet. Die Resignation seitens der älteren Kollegen ist hochgradig. - Hermann Hesse hat schon Bescheid gewusst, wenn er sagt: "Wir töten, indem wir aus Bequemlichkeit abgestorbenen Einrichtungen in Gesellschaft, Staat, Schule, Religion gelassen zusehen und Billigung heucheln, statt ihnen entschlossen den Rücken zu kehren."

Das Argument, das zahlreiche Ältere trotz beträchtlicher Ernüchterung zum Weiterbleiben veranlasst, heißt: Geld. Warum auch soll gerade der Lehrerstand gänzlich unbeeinflusst von dem bleiben, was sich, als Ersatz früherer Welt-Anschauung, mit Geld-Anschauung benennen ließe? So idealistisch sind wir auch wieder nicht. Man hat einen Vertrag mit dem, was sich "Staat" nennt, geschlossen - und diesem Staat, der einem ohnedies so viel an Steuern und anderen gekünstelten Abgaben aus dem Säckel reißt, wird man nicht noch was übriglassen, indem man sich früher verabschiedet. Also bleibt man - kopfschüttelnd über das "Schülermaterial" (ein gängiges Wort in Lehrerkreisen), das einem vorgesetzt wird, und harrt des Endes, das - wir sind in Österreich - wenn überhaupt, nur langsam sich heranschleicht. Lehrer-Dämmerung.

Ich für mich drehe das Argument um: Der Staat lässt mir, wenn ich früher gehe, immer noch genug Geld - und ich erfahre eine luxuriöse Fülle an persönlicher, unverwechselbarer Zeit und Identität. Voraussetzung, allerdings: Man weiß damit was anzufangen; nicht ganz so selbstverständlich in der verwalteten Gesellschaft. Es soll kein Geheimnis sein: Der Preis dafür, dass ich vier Jahre früher gehe, liegt bei zirka 4.000 Schilling pro Monat. Damit kann ich leben. Andere mögen das nicht und bleiben daher länger.

Kuriose Erfahrungen mit der gegenwärtigen Schüler-Generation (die meisten sind zwischen 18 und 25, das Publikum umfasst aber auch etliche 30 bis 50-jährige) gibt es schon. Der Paradigmenwechsel des letzten Vierteljahrhunderts, was gewisse Formen der Selbstdarstellung betrifft, könnte fallweise schon als Paradigmen-Umkehr bezeichnet werden: Da läuft etwa ein Bürschlein von zirka 20 Jahren einem 50-jährigen Kollegen auf dem Gang hinterher und ruft, immer lauter werdend: "He! Sie! Halt!! Stop!!!" Worauf der Lehrer ihm zuruft, er müsse sich schon einer etwas anderen Diktion bedienen, wenn er wolle, dass er stehenbleibe und mit ihm spreche. Im Lehrerzimmer herrschte dann die Meinung, der junge Mann absolviere, bei diesem Wortschatz, wohl gerade die Fahrschule. Oder: Kurdische Mädchen versuchen, so gut es ihr Deutsch eben zulässt, jede Redeübung zu einem Emanzipationsanliegen beziehungsweise einer flammenden Loyalitätserklärung für ihre Heimat umzubiegen. In derselben Klasse sitzen aber auch Türken; passt der Lehrer nicht auf, kann aus der Stunde unversehens ein politisches Tribunal werden. Oder: In einer Klasse sitzt in der ersten Bank ein junger Mann, aus Serbien stammend, jedoch schon lange in Österreich lebend. In der letzten Bank aber ein Kosovo-Albaner, erst seit kurzer Zeit hier. Die Spannung ist spürbar - wenn sie auch nicht thematisiert wird. In einem 7. Semester soll ich 5 (in Worten: fünf) Schüler in Deutsch unterrichten. Einmal sind zwei da, dann drei (und zwar die anderen). Dann aber an einem Abend gar niemand: Die Angst vor der Mathematik-Schularbeit an einem der folgenden Tage war so groß, dass keine(r) gekommen ist. Sie haben vergessen, es mir zu sagen.

Immerhin "warte" ich in gewisser Weise den ganzen Tag auf meinen Beruf; nun kann ich heimgehen, unverrichteter Dinge.

Ausgegebene Texte, Redeübungs-Termine werden vergessen. Die Abschlussprüfungen für die einzelnen Fächer am jeweiligen Semesterende werden oft erst im zweiten, dritten Anlauf geschafft. Eine Reifeprüfung eines Schülers kann sich, wenn er in einzelnen Fächern mehrmals versagt, über mehrere Semester hinziehen. Dazu bedarf es jedesmal einer geschlossenen Lehrer-Kommission; der Vorsitzende muss unerforschlich anmutende Vorschriften, Erlässe, Zusätze, Absätze, Sätze aus dem Reich der Paragraphen auf Menschen anwenden; jedes Halbjahr kommen neue Bestimmungen dazu. Pädagogisch-juridischer Kaugummi, endlos sich ziehend.

Ausgebrannte Schüler Zahlreiche Schüler sind von der inneren Verfassung her sehr unsicher und ratlos, haben alles andere als ein klares Ziel, was die (ohnedies fast kaputtgegangene und derzeit als überflüssig empfundene) Allgemeinbildung betrifft. Die Reifeprüfung absolvieren zirka ein Viertel aller Eingetretenen, viele gehen zuvor selbst wieder weg.

In den Räumen staut sich abends die Temperatur vom ganzen Tag. Dann tiriliert in der Klasse ein Handy, worauf sich der Besitzer, rot anlaufend, erschrocken entschuldigt und die Klasse in gepresstem Gang verlässt, um draußen den Anrufer noch abzufangen. Nix für die Konzentration.

Offenbar nicht sehr viel eigentliche Neugier seitens der Schüler, kaum Interesse am geistigen Leben. Der Lehrer müßte - neben der Wissensvermittlung für diese so jungen, aber oft müde und vorzeitig verbraucht wirkenden Menschen - auch eine Art Therapeut sein, Ratgeber-Onkel, dazu pädagogischer Clown. Aber lernen ist nicht fun, macht gar nicht unbedingt happy. Es bedeutet Mühsal, Herausforderung, Infrage-gestellt-Werden. Damit können sich nicht viele anfreunden.

Da denke ich mir und damit zurück an den Beginn: Ich höre zwar - aber ich verstehe nicht! HNO-Arzt wie Tinnitus haben mir die Entscheidung erleichtert; die Entscheidung für weniger Geld und mehr Zeit. Ich freue mich, ich habe mancherlei vor. Im Ende wohnt schon ein Anfang. Während ich schreibe, sirrt er schon wieder, der Tinnitus. Der erste Totenwurm kann auch im Ohr sein. Ich höre ihn. Und verstehe.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung