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Fahrende Jugend

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Im Rahmen einer niederösterreichischen Volkshochschule sprach unlängst — nach einem mir vorliegenden Bericht — die Leiterin der Wiener schulpsychologischen Beratungsstelle über das Thema „Schwierige Jugend“. Die Referentin sah die Hauptursache aller Erziehungsschwierigkeiten im Zerfall der Familie. — W. Middendorf hat in einer Untersuchung über „Wachsende Jugendkriminalität“ festgehalten: „Im Mittelpunkt aller Erörterungen über die Ursachen der Jugendkriminalität steht die Familie. Nationale und internationale Untersuchungen der letzten Jahre haben immer und immer wieder gezeigt, daß zwei Drittel bis neun Zehntel aller verurteilten Jugendlichen aus unvollständigen oder gestörten Familien kamen ... Die Erziehungskraft oder der Erziehungswille der Eltern scheint

in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen zu sein. Es sind aber nicht nur die Eltern, sondern allgemein entspricht das Verhalten der Erwachsenen gegenüber den Jugendlichen nicht ihren Verpflichtungen. Daß so ausschlaggebende gute Beispiel der Erwachsenen fehlt weithin. Theoretische Belehrungen haben bei der Skepsis der Jugend ihre Kraft eingebüßt“ („Wort und Wahrheit“ 1955, 600 f.; vgl. dazu vom gleichen Verfasser „Bekämpfung der Jugendkriminalität“, Freiburg 1953).— Das stimmt ungefähr zu dem, was nach einem Bericht der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ vom 14. September d. J. der amerikanische Nobelpreisträger William Faulkner über die alarmierende Jugendkriminalität im prosperierenden Amerika zu berichten weiß: „Die Eltern sind schuld. Sie kümmern sich nicht genug um die Kinder. Sie sind entweder zu sehr damit beschäftigt, zu arbeiten und Geld zu verdienen, oder darauf aus, sich zu vergnügen ... Ihre Kinder hungern nach Liebe und wollen irgendwo hingehören. Da sie in ihren leeren Elternhäusern keinen Anschluß finden, gehen sie auf die Straße und bilden Banden. Sie stehlen und morden — aber nicht, weil sie töten wollen, sondern weil sie damit das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe erwerben, etwas, das sie zu Hause nicht finden.“

Wir können allerdings diese amerikanische Feststellung nicht ohne weiteres als für unsere Verhältnisse gültig nennen, anderseits dürfen wir aus Middendorfs Feststellungen keine falschen Schlüsse ziehen. Aus Feststellungen des letzteren, soweit sie in der Familie die Ursachen der Jugendkriminalität suchen, folgt nur, daß das Versagen der Jugend und deren Elternhaus in einem Zusammenhäng steht, aber nicht, daß der Erziehungswille, die Erziehungskraft „der“ Familie zurückgegangen ist.

Es scheint notwendig zu sein, darauf hinzuweisen, daß heute verschiedene Umstände mitwirken, um die Erziehungseinflüsse der Familie zu paralysieren, sie durch andere Erziehungskräfte zu ersetzen. Es kommt der „Zerfall“ der Familie nicht nur von innen, sondern auch von außen, d. h. von der gesellschaftlichen Umwelt und ihren familienfeindlichen T e n-d e n z e n. Und hier können wir Middendorf sehr beipflichten, wenn er auch dem Verhalten der Erwachsenen gegenüber den Jugendlichen

sehr viel Schuld beimißt. Vielleicht müssen wir bei der durch die Erwachsenen gebildeten Umwelt mehr als bei der Familie ansetzen, um eine „schwierige Jugend“ zu verstehen. Das Milieu der Erwachsenen kann die Familie geradezu „entmachten“ und sie zwingen, zuzusehen, wie von dorther stammende feindliche Kräfte Seele und Geist des Kindes verbilden und dauernd schädigen.

Einige Beispiele sollen das näher veranschaulichen: In der niederösterreichischen Stadt Krems befinden sich neun verschiedene Mittelschulen und drei Hauptschulen, welche im heurigen Herbst von 28 87 Jugendlichen im Alter von etwa 10 bis 18 Jahren besucht werden. Von diesen Schülern und Schülerinnen sind 970, über ein Drittel, „Fahrschüler“; d. h. sie kommen mit Bahn oder Autobus zur Schule und benützen am Abend die gleichen Verkehrsmittel zur Heimfahrt. Nimmt man dazu die Zahl der bereits berufstätigen Jugendlichen, so ergibt sich noch eine beachtliche Steigerung der Zahl dieser fahrenden Jugend. In der Stadt Sankt Pölten kommen täglich 1104 Schüler in zwölf verschiedene' Mittel- und Hauptschulen. Die Zahl der Berufsschüler, die hier nicht mitgerechnet ist, dürfte die Zahl der Fahrschüler in dieser Stadt nahe an zweitausend bringen. In allen Hauptschulen der Kleinstädte und Märkte ist die Zahl der fahrenden Jugend kleiner. Dafür kommt hier der Umstand hinzu, daß die „Auswärtigen“ oft stundenlang nach der Schule warten müssen, um am Abend mit Autobus oder Bahn in den Heimatort zurückbefördert zu werden. Infolge der Konzentrierung der Mittelschulen in größere Städte ist das Einzugsgebiet dieser Fahrschüler entsprechend größer. Ein nicht kleiner Teil der fahrenden Jugend verbringt fast ebenso viele Stunden täglich in der Bahn (mit Wartezeit auf den Bahnhöfen) wie in der Schule.

Diese vielen Tausende fahrender Jugend landauf landab, die täglich zwischen Elternhaus und Schule pendeln, sind in dieser Zeit einer gesellschaftlichen Umwelt ausgesetzt, die sie seelisch gefährdet. Innerhalb der Schule besteht die Tendenz, die Fahrschüler in eigene Gruppen zusammenzufassen und so ihre milieubedingte Zusammengehörigkeit noch mehr zu betonen. Bei der Erstellung des Stundenplanes, beim Schulbeginn und beim Unterrichtsschluß muß auf sie Rücksicht genommen werden; die Fahrschüler haben ihre eigenen Ausreden und Entschuldigungen (Zugsverspätung, Frühaufstehen usw.), so daß es nicht zu verwundern ist, wenn gewisse* Pauschalurteile 'der Lehrerschaft dieser Gruppe ihrer Schüler gegenüber eine feststehende Geltung erlangen.

Es scheint mir an der Zeit, dem Milieu, dem unsere fahrende Jugend täglich ausgesetzt ist, ein besonderes Augenmerk zuzuwenden. Viele Eltern und Erzieher, nicht wenige verantwortungsbewußte Menschen sind angesichts dessen, was sie in dieser Hinsicht sehen und hören oder was andere ihnen erzählen, aufs äußerste besorgt. Sie glauben aber, diesen Dingen machtlos und hilflos gegenüberstehen zu müssen.

In einer Handelsschule wurden vom Religionslehrer in mehreren Klassen Befragungen der Schüler durchgeführt, um das tägliche Milieu ihrer fahrenden Jugend näher kennenzulernen und die Beurteilung der Zustände durch die Jugend selber zu erfahren. Die Antworten wurden ohne Namensnennung gegeben. Ich will aus

den mir vorgelegten Antworten, im Original belassen, einige bezeichnete Stellen auswählen:

..Wir fahren nun drei Jahre mit der Bahn und dabei erlebt man und sieht man sehr viel. In der Frühe, da kann man ja noch in Frieden in den Zug steigen und drinnen sitzen. Da sind diese lndividien (gemeint sind sogenannte Schlurfe. Anmerkung d. Verf.) viel zu faul, um den Mund aufzumachen. Dafür sind sie zu Mittag und am Abend lebendig und frech... Viele Schaffner sind so freundlich und vertreiben diese Gestalten ...“

In einer anderen Antwort lesen wir (es handelt sich um ein Mädchen):

„Die Erwachsenen sind auch nicht immer die besten. Wenn man neben so einem sitzt, so hört man Worte, daß man am liebsten aufstehen und weggehen möchte. Das hören aber auch die kleineren Kinder, die in die Hauptschule fahren und die nicht älter als 10 bis 12 Jahre sind. Die Schaffner geben aber auch nicht immer ein gutes Beispiel...“ — „Viele herumlungernde, herabgekommene Burschen strolchen auf dem Bahnhof umher und man muß sich anpöbeln lassen. Viele Mädchen fallen auf sie herein und gehen dann mit ihnen in ein Abteil, wo es oft so zugeht, daß der Schaffner eingreifen muß ... Die Leute schütteln die Köpfe und sagen, ,das ist die heutige Jugend'. Die meisten Mädel gehen noch in die Hauptschule und sind noch zu dumm, um zu begreifen, wie sie sich selber herabsetzen. Oefters gibt es eine Rauferei, wo es so toll zugeht, daß die Polizei eingreifen muß.“

Ein anderes Mädchen schreibt:

„Es werden oft gemeine Reden geführt, hauptsächlich von den älteren Arbeitern. Es gibt auch eine ganze Menge Schlurfs, die lästig und gemein sind wie Zecken.“

Einige Sätze aus anderen Antworten:

„Sie drehen auch das Licht ab. Sie bieten einem gerne die Schundheftin mit schönen Frauen ohne Gewand an. Sie werden sehr gemein und frech. Auch die Schaffner fragen einem, ob man Liebeskummer hat und ob wir einen Freund haben.“ — ..Die Burschen reden oft so gemein, daß man gezwungen ist, den Waggon zu verlassen, aber im nächsten Waggon wird man wieder angestänkert.“ — „Ja die meisten sind mit Recht besorgt, denn was im Zug oft vorkommt, ist haarsträubend ... Ich glaube kaum, daß man dagegen etwas machen kann; denn was nützt es, wenn man in der Schule und überall Moralpredigten hört.“

Eine andere Antwort beschwert ich über dal

verallgemeinernde Urteil hinsichtlich der Fahrschüler:

„Heute wird aber die Jugend vielfach verallgemeinert und es heißt oft und oft, ja diese Bahnfahrer' ... aber warum werden wir alle unter

einem .Sammelnamen' geführt?“

Diese Antworten wären wohl noch zu ergänzen durch eine Befragung der diensttuenden Schaffner in den betreffenden Zügen. — Aber muß man angesichts solcher Feststellungen nicht doch von einer psychischen Gefährdung unserer fahrenden Jugend sprechen — um von anderen Gefährdungen ganz zu schweigen. Dies gilt vor allem für die etwa 12- bis 15jährigen.

Es muß nicht immer im Versagen des Elternhauses oder im Zerfall der Familie die Ursache zu suchen sein für eine „schwierige Jugend“. Denn es kann nicht jede Familie imstande sein, die Einflüsse eines solchen „Fahrmilieus“ auszugleichen oder die eigenen Kinder dagegen gefeit zu machen. — Die schädigenden Einflüsse treffen nicht nur die fahrenden Schülerinnen, sondern ebenso die fahrenden Schüler. Jeder Reisende kann auf Bahnhöfen und vor Abgang der sogenannten Schulzüge eine Art Rudelbildung der in den Flegeljahren befindlichen

Schüler beobachten. Selbst wenn man für diese Entwicklungsphase sehr viel Verständnis hat, so kann man nur mit Sorge ihre Rücksichtslosigkeit gegenüber älteren und der Rücksichtnahme bedürftigen Personen feststellen. Wenn alte Leute öffentlich und in herausfordernder Weise verspottet, der Schaffner zum besten gehalten, Türen und Fenster in mutwilliger Weise „traktiert“ werden — wenn das alles nicht gelegentliche Ausbrüche eines begreiflichen Uebermutes sind, sondern zum „Ton“ des Rudels gehört, wenn gelegentlich Erwachsene und auch Schaffner resigniert den Kopf schütteln und sich gegenseitig nur vielsagende Blicke zuwerfen: „Das ist die heutige Jugend“, so kann man sich fragen, ob die Einordnung einer solchen Jugend in das gesellschaftliche Zusammenleben, die Unterordnung unter das Gemeinwohl und unter die Gesetze eines demokratischen Staates nicht zu einem beunruhigenden Problem werden kann. Dazu kommen die Schundhefte, die vor allem während der Bahnfahrt von den Jugendlichen unkontrolliert gelesen, getauscht und diskutiert werden.

Ist das nicht eine fahrende Jugend ohne Ideale, ohne Vaterland, ohne Autorität und Glaube, eine fahrende Jugend, die nicht weiß, wohin sie fährt?

Es handelt sich leider nicht mehr um Einzelfälle, sondern bereits um eine festgefügte soziale Erscheinung, die durch eine genauere soziologische Untersuchung näher beschrieben werden könnte. Neben den sogenannten Schlurfs sind es die Erwachsenen selber, die ohne Ehrfurcht vor dem Kinde und den 12-bis 14jährigen sind, die nicht die primitivste Rücksichtnahme kennen und selbst eines elementaren Verantwortungsgefühls entbehren. In vielen internationalen Zügen kann man in drei oder mehr Sprachen lesen, daß es verboten ist. feste Gegenstände während der Fahrt aus dem Fenster zu werfen.

weil man dadurch fremde Personen, die sich zufällig in der Nähe aufhalten, verletzen kann. Es; wäre an der Zeit, daß unser Strafgesetzbuch nicht nur körperliche Schädigungen, sondern, mit wenigstens gleicher Berechtigung und mit Nachdruck, schwere seelische Schädigung von Kindern und Jugendlichen unter Strafe stellt. Was nützen uns schön gebaute und gut geführte Schulen, was nützt eine hochorganisierte Lernschule, wenn man die Erziehungsschule, die immer mehr die Erziehungsaufgabe eines versagenden Elternhauses übernehmen will, durch solche Milieueinflüsse von vornherein für eine ganze Kategorie der Jugend sabotieren oder schwerst gefährden läßt.

Wer will unsere fahrende Jugend verurteilen? Sie müßte vielmehr selber Anklage erheben gegen die Erwachsenen, wie es in den angeführten Befragungen andeutungsweise geschieht. Entmutigend ist die passive Haltung der öffentlichen Meinung und die Teilnahmslosigkeit der Mitreisenden der Fahrschüler. „Ich finde, daß auch Schaffner und Erwachsene eingreifen könn ten“, heißt es in der Antwort einer Handels Schülerin.

Ich hoffe, daß es nicht bloß die Sorge um eine künftig die Rente bezahlende Generation ist. die hier nach Abhilfe Ausschau halten läßt.

Es wird einmal auch Aufgabe eines katholischen Familienverbandes sein, der fahrenden Jugend, di? zu Zehntäusenden in Oesterreich zwischen Schule und Elternhaus einen Teil ihrer Kinder- und Jugendzeit „auf Fahrt“ verbringt, im Interesse der Eltern besondere Beachtung zu schenken. Es wird nicht nur das Interesse der katholischen, sondern aller Eltern sein, ihren Kindern, wenigstens in der Vorpubertätszeit, jenen p s y c h o h y g i e n i-sehen Schutz in Bahn und Autobus an-gedeihen zu lassen, wie es elterliche Obsorge einigermaßen erwarten kann. Es wird Aufgabe der Katholischen Jugendführung, besonders der Arbeiterjugend, sein, hier Aufgaben in Angriff zu nehmen, die sie mit ihrem Elan auch bewältigen wird. — Es wird dann auch Aufgabe der Erzieher und Schulen sein, sich mit den für den öffentlichen Verkehr verantwortlichen Stellen zu einer Aussprache zusammenzufinden, um nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, wie man die ärgsten Mißbräuche abstellen kann. Erfahrene und verantwortungsbewußte Schaffner könnten wohl manches dazu sagen.

Von Polizeimethoden dürfen wir uns allerdings nicht viel erwarten. Das W i c h t i g s t e wird es sein, die entsprechenden Abwehrkräfte in der „fahrenden Jugend“ selbst zu wecken.' Ich wüßte nicht, was hierzu geeigneter wäre, als eine gute religiös -lebenskundliche F ü h r“ u n'g “und U n t e fw e i s u n g. Ich weiß nicht; welches Vorbild einen segensreicheren Einfluß auf* eine nach großen Zielen Aus-

schau haltende Jugend ausüben könnte als die Person unseres Herrn Jesus Christus und das Beispiel derer, die Ihm nachfolgten. — Ist es nicht eine Ironie, daß der Staat den Religionsunterricht in verschiedenen Berufsschulen verbietet oder behindert oder daß ausgerechnet Vierzehnjährige bereits darüber entscheiden können, ob sie den Religionsunterricht besuchen wollen oder nicht?

Nur eine Reform der Gesinnung wird eine Reform der Zustände herbeiführen. Das gewiß nicht sehr kirchenfreundliche Reichsvolksschulgesetz sieht in der religiös-sittlichen Erziehung die Voraussetzung für die Lebenstüchtigkeit des Menschen. — Denn „die Lebensprobleme überfallen diese jungen Menschen noch früher als die anderen, und wenn Religion überhaupt etwas taugt, müßte sie hier in besonderer Weise zur Stelle sein. Sie von jungen Menschen fernhalten, ist ungute Absicht. Hätte der Staat einen Schaden davon zu erwarten, wenn junge Leute zu religiösen und gewissenhaften Menschen erzogen würden! (Weißbuch der österreichischen Bischöfe, S. 56). Das gilt vor allem auch von der fahrenden Jugend.

Wird nicht eine fahrende Jugend ohne Ideale, ohne Autorität-und Glaube au ch zu einer fahrenden Jugend ohne V a t e r 1 a n d, zu einer fahrenden Jugend, die nicht weiß, wohin sie fährt?

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