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Die fahrenden Schuler vom Bahngeleis

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Die Darlegungen in dem Aufsatz „F a h-rendejugend“ von Bischof-Koadjutor Doktor Franz König, St. Pölten, in der Jubiläumsnummer der „Furche“ haben mich außerordentlich beeindruckt. Alle die traurigen Tatsachen der rand- und bandlosen Aufführung der „fahrenden Schuljugend“ in Bahn und Autobus, die manchmal zuchtlosen, ja zotigen Anpöbelungen durch Schlurfs und forsche Erwachsene und die allgemeine Gleichgültigkeit der übrigen Menschen sind mir wohlbekannt und tägliche Pein.

Der Autor des Aufsatzes spricht von Möglichkeiten der Abhilfe. Es ist richtig und wichtig, es muß von allen S e i t'e n versucht werden, diesem besonderen Seuchenherd an den Leib zu rücken. Vielleicht darf ich einen Weg weisen, der der praktischen Abhilfe gewidmet ist.

Mein Arbeitsgebiet als Schulaufsichtsorgan liegt an einer Nebenstrecke der Bundesbahn. Der nahe Bahnknotenpunkt einer größeren Stadt zeigt in vergrößertem Maßstab, was für alle Sehenden auch auf der Nebenstrecke sichtbar geworden ist. Die Direktoren der Haupt- und Mittelschule kennen seit Jahren das destruktive Gefahrenmoment der Fahrschüler.

Die Mehrzahl der Schüler der großen Hauptschule kommt aus der näheren und ferneren Umgebung. Viele fahren mit Bahn und Autobus. Anfangs, als die Unzukömmlichkeiten noch nicht offenbar waren, war man überrascht, beim Autobus oder im Wagen drinnen wüste Drängereien zu entdecken. Als sich diese Erscheinungen häuften, schritt man beherzt zur Abhilfe.

Die Autobus- und Bahnfahrer wurden in der Klasse von ihren Klassenvorständen angesprochen. Sie wurden aus atlen Klassen herausgerufen und anläßlich eines Elterntages in Anwesenheit ihrer Eltern vom Direktor und Inspektor gemahnt und aufgeklärt. Gründe der Sicherheit und des Anstandes wurden in den Vordergrund gestellt, und zwar to, daß Eltern und Schüler die Lage verstehen mußten.

Wer glaubt, daß damit das Auslangen gefunden wurde, kennt nicht die Wirklichkeit. Der Direktor der Hauptschule organisierte in der Schule einen Aufsicht!- und Aufgabendienst. Die Fahrschüler haben Gelegenheit, in einer geheizten Klasse ihre Aufgaben zu machen, zu lesen, sich zu beschäftigen. Die Lehrer wechseln ab, sprechen mit den Kindern, helfen ihnen mit Rat und Tat.

Damit sind die Schüler dem stundenlangen Herumlungern entzogen, sind viele Stunden in bester Behütimg und die Zeit wird nutzbringend verwendet. Die Eltern verstehen diese Maßnahme sehr gut, sind dankbar und zahlen die 10 S monatlich für den zusätzlichen Aufsichtsund Aufgabendienst der Lehrer sehr gern. Sie bekommen, wohlverstanden, mehr als sie geben.

Nun sollte man meinen, es sei damit alles in beste Ordnung gebracht. Weit gefehlt! Alle Mahnungen und guten Worte in der Schule sind zu schwach. Sie sind nicht in der Lage, ein einwandfreies Verhalten der Fahrschüler zu gewährleisten. Wir haben auch dafür einen Auflichts- oder Fürsorgedienst eingerichtet. Beim Autobus, auf dem Bahnhof stehen Kollegen, die den Betrieb beobachten. Sie haben Gelegenheit, gutes Verhalten zu loben, schlechtes zu rügen. Das Bewußtsein, wir sind nicht allein, beeinflußt das Verhalten dei Schüler in wohltuendem Sinn.

Um dem Erzieherdienst mehr Auftrieb zu geben, habe ich mich als häufiger Bahnfahrer aktiv eingeschaltet. Wer glaubt, daß das Reden, Mahnen, Warnen in der Schule und zu Hause die entsprechenden Früchte zeitigt, täuscht sich gewaltig. Denn was spielt sich heute und täglieh auf dem Bahnhof und im Zug ab? Derselbe Zirkus wie eh und je: die Bahnstation als Fußballplatz, der Wartesaal als Narrenturm erster Klasse, mit Gejohle, schrillen Pfiffen und Raufexzessen, der Zug als Cowboytummelstätte, wo die Fenster und Türen lustig auf- und zufliegen, sich auf der Plattform während der Fahrt die gewagtesten Auseinandersetzungen abspielen, die Buben die Mädel bedrängen, ein toller Wirbel so lange, bis sie ausgestiegen sind, ohne Rücksicht darauf, daß auch Erwachsene da sind, und ohne jede Scheu.

Niemand sagt etwas. Viele aber schütteln den Kopf. Das Urteil drängt sich von selbst auf: Die heutige Jugend. Schade! Wenn jeder einzelne von den Entrüsteten sofort Stellung nähme, die jungen Menschen mahnte, es müßte nicht so trostlos aussehen. Ich nahm meine Arbeit ernst. Ich stellte die Schüler. Im Wiederholungsfall kannte ich keinen Pardon: die Eltern mußten in die Schule kommen. Das wirkte mehr als alles Reden. Die Mutter oder der Herr Vater versäumt Zeit, verfuhr Geld. Ob diese Eltern mehr oder weniger pädagogisch eingriffen, entzieht sich meiner Kenntnis. Die Buben und Mädel aber, früher wild und ausgelassen, wurden zahm wie die Schäfchen. Die erste Zeit blickten sie mich scheu an und wichen aus. Jetzt ist es schon lange anders geworden. Sie grüßen mich freundlich, wir sprechen miteinander, kurz, wir kennen uns bereits besser und haben uns aneinander und an ein gesittetes Verhalten, an normale, nette Formen gewöhnt. Die Zugstrecke, die von unseren Schülern befahren wird, erscheint wie gewandelt und ist ein Eiland im Dschungel der von „fahrenden Schülern“ wenn nicht unsicher, aber sehr ungemütlich und trostlos gemachten Fahrstrecken.

Bischof-Koadjutor Dr. König hat vollkommen recht, wenn er wie von einer epidemischen Erscheinung spricht, wenn er mit allem Ernst auf Abhilfe sinnt, wenn er auf das Verhalten verantwortungsloser Erwachsener hinweist, die dem widerlichen, kitschigen, destruktiven Schund verfallen sind, wo Faust, Messer und Pistole die überzeugendsten Argumente darstellen.

Wir können aus unserer Praxis, die sich sichtlich bewährt hat, gar manchen Vorschlag machen.

Der Verfasser rühmt an dieser Stelle als eines der wichtigsten Hilfsmittel im Kampf gegen Schmutz und Schund ausführlich die schönen Erfolge des „Buchklubs der Jugend“, dessen verdienstvolles Wirken den „Furche“-Lesern nicht vorgestellt zu werden braucht.

Die Redaktion Und die „fahrenden Schüler“? Der Herr Unterrichtsminister berufe einmal die Männer zu sich, mit denen das Schulleben Oesterreichs steht und fällt: die 120 Schulauf sich tsorgane, und er rede mit ihnen von Mensch zu Mensch 1 Alles läßt sich machen, Wunder kann man wirken, wenn man die Seelen der Menschen gewinnt. Der Minister bediene sich der Schulmänner, die in unmittelbarem Kontakt mit den Lehrern stehen. In mündlicher Aussprache lassen sich Mittel und Wege finden, aller Schwierigkeiten Herr zu werden. Wir sind durchaus in der Lage, die schwierigen Probleme nicht bloß zu sehen, zu besprechen, mit ihnen zu ringen, sondern sie in gemeinsamen Anstrengungen zu meistern.

Auch heute wieder, in schwer belasteter Nachkriegszeit, sind Lehrer und Eltern dazu bereit. Werden sie direkt von Mensch zu Mensch angesprochen, dann vollziehen sich Zeichen und Wunder, dann greifen beherzte tätige Menschen ein in die Speichen des Geschicks und schaffen und werken mit am Schicksal der jungen Menschen, zu ihrem Segen und Glücki

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