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Brutal rempeln und ein bißchen würgen

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In den Schulen nimmt die Zahl verhaltensgestörter Kinder zu, wurde im Rahmen eines Projektes in Graz festgestellt. Aber noch werden beide Augen vor dem Problem „Aggression und Gewalt im Klassenzimmer” zugedrückt.

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In den Schulen nimmt die Zahl verhaltensgestörter Kinder zu, wurde im Rahmen eines Projektes in Graz festgestellt. Aber noch werden beide Augen vor dem Problem „Aggression und Gewalt im Klassenzimmer” zugedrückt.

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Kurz vor Schulschluß kam ein völlig aufgelöster Lehrer zu mir. Er meinte, daß unter den Schülern seiner Klasse, einer fünften Klasse Gymnasium, rechtsradikale Tendenzen aufgetreten seien”, erzählt Regina Senarclens de Grancy vom „Büro für Frieden und Entwicklung” in Graz. Grund der Aufregung war ein Plakat, auf dem die Schüler ihre Ideen für die letzte Schulwoche aufschreiben konnten. Der Lehrer war entsetzt, was er da zu sehen bekam: eine Regierung stürzen, nach Sarajewo fahren, einen Kindergarten sprengen, Terminator II anschauen und anderes dieser Art.

„Ich wurde in die Schule eingeladen und setzte mich mit den Schülern zusammen: es war eine völlig normale Klasse.” Schließlich erfuhr Frau Grancy, daß die Schüler dieses Plakat nach einer zweistündigen Schularbeit geschrieben hatten. Sie wollten „ einfach Dampf ablassen. Das einzige, was sie wollten, war - provozieren.” Am Ende haben die Schüler gesagt: „Sie sind die einzige, die uns versteht.”

Zum Thema „Konfliktbearbeitung” wurde Frau Grancy auch vom Klassen vorstand einer anderen fünften Klasse Gymnasium eingeladen: „Nach der ersten Stunde merkte ich, daß da etwas unter der Decke steckt. Es stellte sich heraus, daß es in der Klasse einen schlimmen Konflikt gegeben hatte.” Die Schüler dieser Klasse hatten einen ausländischen Mitschüler als Rechtsradikalen hingestellt. Es folgte eine Rauferei, die am Heizkörper ihr Ende fand: einer der Schüler erlitt einen Schädelbasisbruch. Über diesen Vorfall, so erzählten die Schüler, habe mit ihnen nur die Polizei gesprochen, aber keiner der Lehrer.

Frau Grancy spielte mit den Schülern den Konflikt in einem Rollenspiel nach und überlegte mit ihnen gemeinsam, welche Möglichkeiten sie gehabt hätten, die Situation auf friedliche Weise zu bewältigen.

Vieles weiß Frau Grancy vom Rüro für Frieden und Entwicklung, das als einzige städtische Institution im ganzen deutschen Sprachraum seit 1988 geführt wird, über „Gewalt in der Schule” zu berichten. Im vergangenen Jahr hiejten auch unterschiedliche Referenten Veranstaltungen, Seminare und Projekte zum Thema frieden und Friedenserziehung ab.

„Wichtig ist die Konfliktfähigkeit”, betont Frau Grancy, „das heißt, die Konflikte zu sehen und in möglichst flexibler und kreativer Art Lösungen zu finden”. Es käme nicht darauf an, immer nachzugeben oder wegzuschauen, sondern Mißstände zu benennen und für beide Seiten adäquate Lösungen zu finden (siehe Dossier Nr. 28/1996). Eine einzige Lösung würde immer nur zum Sieg oder zur Niederlage führen.

Ein jüdisches Sprichwort sagt: Es gibt immer drei Möglichkeiten. In Afrika heißt es: Man sollte solange reden, bis man die richtige Lösung gefunden hat.

Friedfertigkeit heißt nicht, immer nachgeben zu müssen oder einfach wegzuschauen

Vor einigen Jahren erregte ein Grazer Pflichtschullehrer Aufsehen, als er mit folgenden Nachrichten an die Öffentlichkeit trat: Ein Schüler versuchte vom zweiten Stock seines Klassenzimmers eine Radfahrerin mit seinem „Kakao-Packerl” zu bespritzen. Das gelang ihm auch. Die Frau war von oben bis unten mit Kakao bespritzt. Täglich, so sagte dieser Lehrer, würden „kleine Gewalttaten” in der

Schule vorkommen: es werde brutal gerempelt, mit „U-Hakerln” geschossen, es werden absichtlich die Finger eines Mitschülers eingeklemmt oder Schwächere einfach verprügelt und vieles andere mehr.

Während einige Lehrer und Lehrerinnen damals zugaben, daß sie auch mit der Gewalt in der Schule zu kämpfen hätten, war für viele ihrer Kollegen „Gewalt” kein Thema. Einigkeit bestand aber darin, wie aus dem Projekt „Gewalt in der Stadt” des Grazer Büros für Frieden und Entwicklung hervorgeht, daß die Anzahl verhaltensgestörter Kinder in den letzten Jahren zugenommen hat. Lebensgefährliche Handlungen wie AVürgen wären häufiger geworden.

Die Ursachen für diese Entwiclung seien vielfältig: Die Inhalte der Schule gehen oft an den Interessen der Kinder vorbei; hinzu kommt die starke Konsumorientierung beziehungsweise das Ausgleichen von Zeit und Zuwendung durch Geld, beliebige Erfüllung jedes materiellen Wunsches, übermäßiges Video schauen und vorm Fernseher hocken, der stark eingeschränkte Erlebnisraum, wirtschaftlicher Erfolgs- und Leistungsdruck, der schon an die Kinder weitergegeben wird.

Die Mitarbeiter dieses Projektes schlugen vor, Arbeitskreise für Lehrer und Lehrerinnen sowie Eltern einzurichten. Lehrer und Lehrerinnen würden mehr Zeit für emotionale Zuwendung haben und mehr Aufmerksamkeit erhalten, wenn sie den Unterricht paarweise, also durch söge nanntes Teamteaching, erteilen wür den. Ein positives Klassenklima redu ziere ebenfalls die Gewaltneigungen Der letzte Vorschlag: „Die Schul bürokratie sollte die Lehrer unter stützen, sich Hilfe von außen zu ho len, also beispielsweise bei dem Versuch, die Eltern für ihre pädagogi sehen Zielsetzungen zu gewinnen.”

Neben Geschossen wie dem „Kakao-Packerl” oder dem „U-Hakerl” sind Pistolen, Gewehre und Panzer der Spielzeugindustrie bei Kindern wieder sehr beliebt. Der Sonntagsbesucher wird heutzutage von den Kindern mit einem zwar fiktiven, aber unmißverständlichen „Bauchschuß” begrüßt. Ganz stolz zeigt das Kind die Raffinessen seines Spielzeugpanzers.

Hat Kriegsspielzeug einen negativen Einfluß auf ein Kind ?

Für Frau Grancy ist das Thema Kriegsspielzeug ein zweischneidiges Schwert: „Ich bin dagegen, wenn die Waffenindustrie die Produktion von Kriegsspielzeugen unterstützt, um einen Gewöhnungseffekt zu erzielen.” Es gehöre aber auch zu einer Entwicklungsstufe des Kindes, wenn es sich bewaffne. Es bedeute nämlich nichts anderes, als daß ein Kind seine eigene Identität unter Beweis stellen möchte. „Schlimm ist hingegen die Aufrüstung des Kinderzimmers”, sagt Frau Grancy. Viel besser wären beispielsweise selbstgebastelte Gewehre, um solche Entwicklungsphasen aufzuarbeiten. Auf jeden Fall müsse aber klar sein, daß Waffen auch dazu da sind, Menschen zu töten. „Wenn ich Kindern AVäffen schenke, muß das auch besprochen werden.”

Ein Blick in einen multikulturellen Kindergarten in Graz: Hier gibt es selbstgebastelte Spielsachen und Spielgeräte in den originellsten Ausführungen. Ein sonniger Tag erlaubt es den Kindern, im Garten zu spielen. Ein kleines Mädchen aus Ghana versucht mit einer Kindersäge, Holzbau-steine zu bearbeiten, was ihm sichtlich Spaß macht. Weiter hinten im Garten springen zwei Buben auf einem alten Bettfederngestell. „Es gibt keine fertigen Spielgeräte, nicht einmal Lego”, erzählt die Leiterin Brigitta Friedrich. Die Hälfte der Kinder kommt aus dem Ausland, die andere Hälfte sind österreichische Kinder. Seit 1992 stammt der Großteil der Kinder aus Flüchtlingsfamilien.

„Pistolenspiel ist verboten”, betont Frau Friedrich. Den Kindern stehen keine gekauften Kriegsspielzeuge zur Verfügung, „dafür bauen sie sich selbst Schwerter, Pfeil und Bogen.” Die Erzieher sprechen auch mit den Kindern über den Krieg, vor allem mit denen, die aus Ex-Jugoslawien kommen und dort ihre zum Teil schrecklichen Erfahrungen gemacht haben. Neben den österreichischen Kindergärtnerinnen gibt es auch jeweils einen Betreuer oder eine Betreuerin aus Bosnien, Serbien und Slowenien, um den Kindern die Möglichkeit zu geben, sich in ihrer eigenen Muttersprache auszudrücken.

Waffen sind dazu da, um Menschen zu töten. Das muß auch den Kindern klargemacht werden.

Seit 1993 ist auch der Kroate Neven-ko Bucan ein Betreuer dieses Kindergartens. Er erzählt, daß die Kinder alles, was sie zu Hause hören, „speichern” und daher auch die Antipathien der ehemaligen Kriegsparteien ExJugoslawiens übernehmen. Ein dreieinhalbjähriger Bosnier bezeichnete im Spiel die Serben als Tschetniks, und wollte, daß auch die anderen Kinder sie so nennen. „Den Eltern klar zu machen, daß er zwischen Kroaten, Serben und Slowenen keine Unterschiede machen sollte, und daß es tolle Leute auf beiden Seiten gibt, war für viele sehr schwierig”, erzählt Herr Bucan. Als der bosnische Vater jedoch die Barriere zu den serbischen Eltern überwunden hatte, hörte auch sein Sohn auf, die anderen Kinder Tschet-niks zu nennen.

Vor allem die Vermittlung zwischen den Betreuern, die aus allen drei ehemaligen Kriegsparteien stammen, war wichtig. „Da wir uns untereinander verstanden, konnten wir auch eine funktionierende Kommunikation zwischen den Eltern und den Kindern herstellen.”

„Wir haben keine spezielle Friedenserziehung. Wir leben einfach mit den Kindern zusammen”, betont Frau Friedrich. „Oft genügt auch schon unsere Anwesenheit,' um den Konflikt zu lösen oder das bloße Berühren, das kennzeichnet: Ich bin da.”

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