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Der „Lehrer Gerber”

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Die Angst der Lehrer vor jedem neuen Schuljahr: Nehmen Aggressionen der Schüler wieder zu? Wie geht man damit um?

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Die Angst der Lehrer vor jedem neuen Schuljahr: Nehmen Aggressionen der Schüler wieder zu? Wie geht man damit um?

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Die junge Deutschprofessorin, sie absolvierte 1994/95 ihr Praxisjahr an einem Wiener Gymnasium, ist mit viel Optimismus in die 3C, die an der Schule als schwierig gilt, hineingegangen. Mit freundlichem Gesicht und neuen Methoden wollte sie den 29 Buben und Mädchen schon beikommen. Die ausgestreckte Hand wurde jedoch nicht ergriffen, das Lächeln als Schwäche ausgelegt, das Diskussionsangebot - einmal in der Woche den Deutschunterricht als eine Art Club 2 themenorientiert zu gestalten - endete in Schreierei, Kas-perliaden und Chaos. Was habe ich falsch gemacht, fragte die junge Lehrerin verzweifelt auch in Aussprachen mit Eltern besonders „verhaltensauffälliger” Kinder. Genügt guter Wille nicht mehr? Ist Schule nur mehr ein Ort, an dem Aggressionen sanktionslos abgebaut werden dürfen? Bin ich als Lehrer völlig hilflos „diesen Wilden” ausgeliefert?

An der Grazer Ellen-Key-Schule, einer Art „Konzentrationsschule” für ziemlich schwierige Kinder, die aus der ganzen Steiermark kommen, kam, nachdem von drei Hauptschülern eine siebenjährige Volksschülerin niedergeschlagen wurde, eine für die Medien und die Öffentlichkeit erschreckende Tatsache ans Licht: Bei Durchsuchungen der Schultaschen und Rucksäcke der 30 extrem schwierigen Kinder, wurden Waffen - Revolver, Messer - entdeckt. Rohe Gewalt, die von Schülern achselzuckend hingenommen wird, kennzeichnete diese Schule. So stellte es auch der 14jährige Schläger Markus vor Gericht dar - und brachte den Richter damit zur Weißglut. Ohne Rührung bekannte Markus, daß „das Schlagen bei uns üblich ist”; er selbst hatte mitten in der Stunde einen Zwölfjährigen geschlagen, „weil ich den net leiden kann”, und ihn durch die Klasse gezerrt.

Politiker forderten im Zusammenhang mit diesen grausamen Ausschreitungen die sofortige Schließung der Schule. Die Direktorin meinte, zusperren wäre verkehrt, man könne auch ein Krankenhaus zusperren, aber die Kranken würden dennoch nicht verschwinden.

Gewalt und „seelische Grausamkeiten” an unseren Schulen nehmen offenbar zu. Statistiken, Untersuchungen zeigen dies. Es ist nicht nur rohe Gewalt, die sich immer deutlicher äußert, auch die sogenannte subtile Gewalt, von denen oft jene betroffen sind, die als Lehrer mit viel Idealismus an die Sache herangehen (siehe Seite 14: Was ist Verhaltensstörung?), schleicht durch unsere Klassenzimmer. Es scheint, daß nicht mehr dem „Schüler Gerber” (jener Figur Friedrich Torbergs, die vom Mathematikprofessor, „Gott Kupfer”, systematisch fertiggemacht und in den Tod getrieben wird) unsere Sorge und Zuwendung gelten muß, sondern dem „Lehrer Gerber”, der in der zunehmend brutalen Atmosphäre einer Gymnasial- oder Hauptschulklasse der neunziger Jahre vor einem ausweglos scheinenden Dilemma steht: Kopf einziehen und durchdienen, um als pragmatisierter Beamter die Gratifikation eines höheren Einkommens am Schluß zu erreichen (siehe Seite 15) und dafür alle psychosomatischen Beschwerden - resultierend aus der konkreten Schülersituation und einer oft tiefen Enttäuschtheit über die Unmöglichkeit, auszusteigen - in Kauf zu nehmen.

In den USA gibt es schon eine Re-akion auf die ausufernde Gewaltbereitschaft von Schülern. Das Washingtoner Erziehungsministerium hat dieser Tage eine Statistik veröffentlicht, wonach an Schulen in 26 Bundesstaaten die Prügelstrafe wieder praktiziert wird. Hunderte Strafverfahren gegen prügelnde Lehrer sind mittlerweile vor US-Gerichten anhängig. Den prügelnden Lehrern an die Seite getreten, ist der Gouverneur von Alabama, der nicht will, daß Lehrer „zu weich” werden. Alabama hat ein Gesetz verabschiedet, das eine grundsätzliche Straffreiheit für prügelnde Lehrer vorsieht.

Das wird es in Österreich, Gott sei Dank, nicht mehr geben; welche Möglichkeiten der Diagnose und Therapie es für verhaltensgestörte und gewalttätige Kinder gibt, wird auf den folgenden Seiten behandelt.

Zunächst ein Zustandsbericht: Der Wiener Psychologe Christian Klicpe-ra, Dozent an der Abteilung für angewandte und klinische Psychologie an der Universität Wien, hat im heurigen Frühjahr die Ergebnisse einer in Wien und Niederösterreich durchgeführten Befragung von etwa 1.600 Schülern der 8. Schulstufen (AHS und Hauptschule), von 550 Lehren und 80 Direktoren zum Thema „Aggression in den Schulen” vorgelegt. Zirka 50 Prozent der Befragten - Schüler, Leh -rer und Direktoren - vermittelten den Eindruck, daß Aggressionen im Schulbereich tatsächlich zugenommen haben.

Konfliktlösung geschieht häufig mit den Fäusten, an den Hauptschulen kommt es etwa doppelt so oft zu Baufereien als in Gymnasien. Die Belastung von Lehrern durch aggressives Verhalten von Schülern sei „erheblich”, konstatierte Klicpera; in „nicht erwarteter Häufigkeit” sei er auch auf Provokationen und Beschimpfungen von Lehrkräften sowie auf Vandalismus gestoßen.

Der Unterschied zwischen Schulen im Ballungszentrum Wien und dem ländlichen Niederösterreich, was aggressives Verhalten betrifft, ist nach dieser Studie gering, viele Probleme stellen sich sogar auf dem Land gravierender dar als in der Stadt. Keine erhöhte Gewaltbereitschaft konnte der Wissenschaftler in Klassen mit erhöhtem Ausländeranteil feststellen. Deutliche Unterschiede gebe es hingegen zwischen Hauptschule und AHS-Unterstufe: 27 Prozent der Hauptschüler berichteten von wöchentlichen Baufereien, aber nur 13 Prozent der Gymnasiasten.

Was sind die Ursachen für tätliche Auseinandersetzungen an unseren Schulen? Klicpera hat herausgefunden, daß aggressive Schüler häufig AI -kohol konsumieren und teilweise auch schon Drogenerfahrung hatten. Aber die eigentliche Ursache steht dahinter: Es geht um Verständnislosig-keit in der eigenen Familie, um Einsamkeit und auch um unkontrollierten Videokonsum (siehe Seite 16).

Klicpera plädiert für die Schaffung eines Klassenzusammenhalts und eines Vertrauensverhältnisses zwischen Lehrern und Schülern. Ein guter Zusammenhalt in der Klasse läßt der Gewalt keine Chance. „Gewalt darf in der Schule keinen Platz haben”, so auch der Wiener Stadtschulratspräsi-dent Kurt Scholz zu dieser Studie. In Wien haben im Schuljahr 1993/94 von den 200.000 Schülern nur 3.250 verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche betreut werden müssen. Was in Wien fehlt, sind Schulpsychologen. Momentan kommt ein Psychologe auf 10.000 Schüler.

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