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Wohin mit meiner Wut?

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Fairneß nimmt ab, Brutalität nimmt zu - Lehrer und Jugendrichter geben die Hauptschuld daran mangelnder Verantwortung von Eltern und Medien

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Fairneß nimmt ab, Brutalität nimmt zu - Lehrer und Jugendrichter geben die Hauptschuld daran mangelnder Verantwortung von Eltern und Medien

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Das Thema, mit dem heuer die Christliche Lehrerschaft Wiens im Haus der Industrie ihren Lehrertag beging, lautete „Wohin mit meiner Wut?”. In der Podiumsdiskussion sorgten Familienministerin Maria Bauch-Kallat, die Schul -psychologin Helga Hiller, Kurt Scholz, Präsident des Wiener Stadtschulrates, der Kinder- und Jugend-psychiater Max Friedrich, und der Präsident des Wiener Jugendgerichtshofes, Udo Jesionek, für deutliche Worte. Man war sich einig, daß die Weichen für Gewalt in erster Linie im Elternhaus und durch den Konsum bestimmter Medienprogramme gestellt werden.

Vor allem Scholz nahm die Schule in Schutz, denn die Zeit von Prügelpädagogen sei vorbei: „Wenn Schüler prügeln, dann haben sie es von einem sicher nicht gelernt, vom Lehrer oder von der Lehrerin.” Sorge bereitet ihm, was im Kabelfernsehen allein in den Jugendprogrammen läuft, weshalb er „mit sanfter Hartnäckigkeit” auf eine parlamentarische Enquete zum Thema „Medien und Gewalt” hinarbeitet.

Er gibt sich überzeugt: „Wenn die amerikanische Justizministerin angesichts von 500 Fernsehkanälen in den USA und einer geballten Macht der Medien den Mut hat, die Frage Gewalt in den Medien zu thematisieren bis hin zu der Einführung von Violence Chips bei Fernsehern, was bei uns als flagranter Eingriff in die persönliche Freiheit empfunden würde, dann würde es dem österreichischen Nationalrat gut anstehen, diese Thematik aufzugreifen.”

Die Schule sei „nicht Alleinverur-sacher alles dessen, was einer Gesellschaft nicht paßt”, betont Scholz. Seine Ideale seien auch Langmut, Liebe und Gerechtigkeit, aber manchmal verstehe er „auch den heiligen Zorn der Lehrer, genährt auch aus einer Hilflosigkeit der Gesellschaft gegenüber, die nicht nur die Schule nicht sonderlich liebt, die den Lehrern ambivalent gegenübersteht, die aber - und das ist eigentlich das Schlimmste — in Summe die Kinder nicht sonderlich liebt”. verlust der werte

Helga Hiller sieht ein kontinuierliches Zunehmen von Verhaltensproblemen bei Kindern, insbesondere eine steigende Gruppenunfähigkeit bei Schulneulingen. Sie legt den Lehrern nahe, nicht nur auf laute Aggressivität, sondern auch „auf die stille, unauffällige, nach innen gerichtete und meist sogar gefährlichere Form der Aggression zu achten”.

Als Hauptursachen nennt sie „Beziehungsstörungen von Kindern im

Elternhaus, mangelnde soziale Kompetenz und Vereinsamung, Leistungsprobleme und Frustration von überforderten und überförderten Kindern, Nachahmung beziehungsweise Angleichung an die soziale Umwelt, Abwehr- und Schutztendenzen im Zuge von Pubertäts- und Adoleszenzkrisen und Verlust der positiven Leitbilder und Werte”.

Die Nachahmung der sozialen Umwelt, das Kind als Spiegelbild der Eltern und der Gesellschaft, nannte Max Friedrich, Vorstand der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters, als erste Quelle von Aggression: „Wenn wir schon die Flut der Brutalität und der Gewalt, die alltäglich auf uns eindringt, schwer bewältigen können, wie denn jene, die erst im Aufbau sind?” Zweitens spiele die Gruppendynamik, derzufolge „der Stärkere leicht den Schwächeren verführt”, eine große Rolle. In jeder Volksschulklasse herrsche eine Rangordnung: „Wer ist der Stärkste, wer ist der Zweitstärkste, wer ist der Bandenführer, wer ist der Stellvertreter - ich habe einen solchen zu Haus.”

Auch werde Selbsterlittenes, im Elternhaus, in der Gruppe und in der Schule, weitergegeben, „an die Schwächeren, und wenn es dort nicht geht, an die Katze oder an den Hund, und wenn das nicht mehr geht, dann an die Parkbank oder an die Telefonzelle”. Bremsmechanismen gingen verloren oder wurden nicht erworben. Heute, wo genug Freizeit da wäre, um sich Kindern zu widmen, beklagt Friedrich, „da verabschieden sich die Eltern in Konsum und nicht in Erziehung”.

Daß vielleicht nicht die Quantität, sicher aber die Intensität von Gewalt zugenommen hat, steht für Udo Jesionek außer Zweifel. Gerauft wurde immer, aber heute trage ein Großteil der Schüler bereits Waffen, mit der Begründung „Ich muß mich ja wehren”, und viele Kinder haben schon Erfahrung im Überfallen-Werden.

Fairneß sei für viele kein Wert mehr: „Symptomatisch für die rechten Jugendbanden ist, daß sie nur angreifen, wenn sie von vornherein wissen, sie sind in der Mehrheit.” Angriffe mehrerer Jugendlicher auf einzelne schwache Kinder, etwa von drei Siebzehnjährigen auf einen Zwölfjährigen, nehmen zu: „Noch entsetzlicher ist: Wenn der am Boden liegt und out ist, dann treten sie auf ihn hin, mit dem Fuß ins Gesicht. Wir haben schwerste Verletzungen.” Jesionek vermerkt: „Wir haben diese brutale Art von Gewalt erst seit drei, vier Jahren.” Zielgruppen seien besonders Ausländer, Gymnasiasten, Studenten. Unter Applaus betont der Jugendrichter: „Ich beziehe absolut Position in dem ewigen Streit. Ich behaupte striktest und aufgrund meiner Erfahrung, daß die Medienwelt einen ganz, ganz wesentlichen Teil dazu beiträgt.”

67 prozent unkritisch

Für Maria Rauch-Kallat gilt es, Wut in positive Energie umzusetzen und nicht gegen sich selbst oder andere zu richten. Auch sie nimmt die Medien aufs Korn: „Ein durchschnittlicher Amerikaner hat mit 16 Jahren rund 200.000 Gewaltakte, davon 33.000 Morde, konsumiert.” In einem Alter, wo Eltern annehmen, daß Kinder das noch nicht mitbekommen, werden sie auf den Topf vor dem TV-Gerät gesetzt. Sie erleben Ermordet-Werden als so „natürliche” Todesursache, daß viele, wenn Opa und Oma sterben, annehmen, diese seien ermordet worden.

Rauch-Kallat wies auch auf die zunehmende Sprachlosigkeit in unserer Gesellschaft hin. Man sollte Kinder von Anfang an ernstnehmen mit ihren Bedürfnissen, ihnen aber auch Grenzen und echte Autorität zeigen, ihnen Fairneß und Respekt beibringen und eine Entwicklung zu kritischen, mündigen Bürgern ermöglichen.

Sorgenvoll konstatiert die Familienministerin, daß die traditionellen Jugendorganisationen an Bedeutung verlieren, während radikale Grup-pen,wie Skinheads, wachsen. Zwar neigen laut Studien nur fünf Prozent der Jugendlichen zum Radikalismus, aber 67 Prozent der Jugendlichen seien völlig unkritisch: „Das ist die wirkliche Gefahr, daß diese 67 Prozent den fünf Prozent auf den Leim gehen könnten.” Wichtig sei es, das Selbstwertgefühl zu stärken und Konfliktbewältigung zu lernen.

In der Publikumsdiskussion folgten weitere Vorwürfe in die Richtung der Eltern - gerade jene verhaltensauffälliger Kinder seien oft nicht ansprechbar - und der Medien. Kinder erlebten oft zu Hause ganz andere Regeln als in der Schule, es sei aber oft das Kind, das darunter leide, wenn man Mißhandlungen durch die Eltern anzeige.

Während Friedrich am Ende einen brandaktuell wirkenden 2400 Jahre alten Platon-Text zitierte, strich Jesionek nochmals das Selbstwertgefühl als besonders wichtig heraus und gab Lehrern und Eltern einen Rat mit, indem er einen Poster in seinem Büro schilderte, der ein weinendes Kind und folgenden Text zeigt: „Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdiene, weil dann brauche ich es am meisten.”

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