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Mustafas Heimkehr nach Wien

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Zwiespalt, Unsicherheit, Vorurteile - der lange Weg zur Integration ausländischer Kinder

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Zwiespalt, Unsicherheit, Vorurteile - der lange Weg zur Integration ausländischer Kinder

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Auf die Frage der Erzieherin in einem Wiener Hort, wie denn die Ferien in Istanbul gewesen wären, antwortete Mustafa wie aus der Pistole geschossen: „Lauter Türken." Deutlicher läßt sich die kulturelle Distanz zu den eigenen Wurzeln gar nicht ausdrücken. Im Hort ununterbrochen als Türke identifiziert, erlebte sich Mustafa

während des von den Eltern geplanten Heimaturlaubs als Ausländer, der nur einen Wunsch hatte: Heimkehr nach Wien.

In diesem Zwiespalt wachsen die meisten Kinder auf, die Ausländer als Eltern haben. Als Regel gilt: Je größer die Distanz zwischen den von den Eltern tradierten kulturellen Vorstellungen und den gültigen Normen des Gastlandes, umso größer die Probleme. Daher sind die Schulschwierigkeiten mit Kindern jugoslawischer Eltern zwar besorgniserregend, doch verglichen mit den Integrationsschwierigkeiten türkischer Kinder nehmen sich deren Probleme geradezu harmlos aus.

Ein großes Problem ist die tradierte Wertvorstellung, daß Alter stets vor der Jugend kommt und der Mann immer mehr „wert" ist als die Frau. Was zu der für mitteleuropäisches Verständnis grotesken Situation führen kann, daß der älteste Sohn zum Familienoberhaupt wird, wenn der Vater stirbt oder

längere Zeit abwesend ist. Mütter, häufig Analphabeten, haben Entschuldigungen für ihre Söhne auszustellen oder im Mitteilungsheft zu unterschreiben. Sie sind auf die Hilfe des Kindes angewiesen, das durch den höheren Rang weisungsberechtigt ist. Das bedeutet, ein Lehrer, der dringend Unterstützung durch das Elternhaus benötigt, hat keine Ansprechperson mehr.

Die Väter, oft aus ärmlichen Verhältnissen Anatoliens stammend, sind in der kulturell fremden Gegend völlig ratlos. Da sie täglich erleben, wie sehr sie im Gastland unter dem gesellschaftlichen Druck zu leiden haben, suchen sie Rat, wo es keine Verständigungsprobleme gibt. Das ist in den Moscheen der Fall. Der Einfluß islamischer Geistlichkeit ist daher enorm.

So mancher Wiener Lehrer-hat mit den Erziehungsmethoden der türkischen Begleitlehrer und insbesondere mit den Religionslehrern seine Not. Ohrfeigen gelten in der Türkei als zulässiges Erziehungsmittel. Schüler, die am Vormittag nicht in den Islamunterricht gehen wollen, werden mit Gewalt diszipliniert. Was umgehend für schadenfrohes Spottverhalten bei den österreichischen Kindern sorgt. Dazu kommt noch, daß der Unterricht in Türkisch, türkischer Geschichte und Religion häufig nicht mit den anderen Unterrichtsfächern koordiniert ist. Während die österreichischen Kinder Mathematik haben, gehen die sprachlich benachteiligten türkischen Kinder aus der Klasse. Ein Lehrer, der sich um die

Integration bemüht, läuft Gefahr, die heimischen Kinder zu langweilen, die den Lehrstoff schon verstanden haben.

Anlaß für Hänseleien ist auch die Vorschrift, den Religionsunterricht mit gewaschenen Füßen besuchen zu müssen. Da für muselmanische Reinigungsvorschriften jede bauliche Voraussetzung in den heimischen Schulen fehlt, gehen die Gläubigen auf die Toiletten, waschen die Füße und eilen barfuß über den Gang zu ihrem Unterricht.

Aus Schwein wird Huhn

Auch die Bekleidungsvorschriften für Mädchen werden von den heimischen Kindern meistens nicht großzügig übersehen. Unmöglich ist auch der Besuch des Schwimmunterrichts für Mädchen, da sie ihren Körper nicht derartig entblößt zeigen dürfen. Der in Volksschulen gemischt durchgeführte Turnunterricht wird von türkischen Eltern heftig bekämpft, selbst in frühester Jugend sind bestimmte Bekleidungsvorschriften zu beachten.

Gravierend ebenso die kulturellen Unterschiede bei der Ernährung: Nicht nur, daß kein Schweinefleisch gegessen werden darf, müssen alle Speisen rituell rein, also halal, sein. In keiner öffentlichen Schule werden aber reine Speisen angeboten. Manche Horterzieher haben versucht, das Problem dadurch zu lösen, daß sie Schweinefleisch als Huhn deklariert haben. Die Eltern stellten am Verdauungsgeruch fest, daß Schweinefleisch verzehrt wurde und haben die Kinder angewiesen, im Hort überhaupt nichts mehr zu essen. In manchen Horten essen die Kinder mehrmals wöchentlich Milchreis, weil alle anderen Speisen für sie nicht in Frage kommen.

Während der islamischen Fastenzeit (Ramadan) sind die Kinder merklich unkonzentriert, behauptet mancher Lehrer. Die Kinder dürfen zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang nichts essen und nehmen an den üppigen Mahlzeiten während der Nachtstunden teil.

Verschärft werden die kulturellen Unterschiede außerdem durch zwei weitere Gegebenheiten:

Erstens sind die Kinder in den öffentlichen Horten und Schulen häufig aus sozial benachteiligten Familien. Dort ist der Widerstand gegen alles Fremde stärker als in der mittelständischen Bevölkerung. Die Unsicherheit beider Seiten verhindert oft eine intensive Kontakt-nahme.

Zweitens: In den benachteiligten Familien wird zwischen Arabern, Türken und Kurden nicht so genau unterschieden. Im Verlauf des Golfkriegs konnte es schon vorkommen, daß ein Wiener Kind zu einem Fremden sagt: „Schleich di ham zu dein Hussein."

Solche Bemerkungen geben einer Hortleiterin recht, die fordert: „Man muß zuerst einmal die Wiener integrieren, bevor man die Probleme lösen kann."

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