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Schule der geduldigen Hoffnung

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Es ist fünf Minuten vor acht Uhr morgens. Karli*) geht mit eiligen Schritten zu seinem Arbeitsplatz, wo er — ein fünfzehnjähriger, etwa eineinhalb Meter großer mon-goloider Junge - seit ein paar Tagen alte Strumpfhosen zerschneidet. Die erste Stunde in der Sonderschule für Schwerbehinderte „Kienmayergasse 41“ im 14. Wiener Gemeindebezirk wird gleich beginnen.

Putzige Stoffmäuse, deren Fülle der Junge eben vorbereitet, entstehen hier in familiärer Atmosphäre. Gemeinsam geht eine Klasse ans Werk, wobei die Arbeit nach den Fähigkeiten der Kinder aufgeteilt wird.

An diesem Montag, dem 5. Dezember, prasselt der Regen unaufhörlich auf die Dächer und umgibt die Schule mit einer unfreundlichen Stimmung. Die Außenwände des Schulgebäudes sind bunt bemalt, und auch im Inneren setzt sich der bunte Reigen der Bilder fort. Zeichnungen und Bastelsien schmücken die Gänge und das Stiegenhaus.

Hinter dem Eingangstor der Schule steht ein kleiner Junge, der bitterlich weint. Wenig später sitzt er in Karlis Klasse und hat sich schon wieder beruhigt, ehe seine Mutter kommt und ihn mit herbem Ton zurechtweist, als er die Tasche fallen läßt: „Bist Du schon zum Tragen der Tasche zu blöd?“

Editha Sokoloff. stellvertretende Direktorin der Schule, spricht aus ihrer zehnjährigen Erfahrung von einer „schönen Arbeit mit den Kindern“, aber von Schwierigkeiten mit den Eltern. Die meisten kümmerten sich wie Gluckhennen um ihre Sprößlinge, andere wiederum überhaupt nicht, weil sie es als Schande empfänden, ein schwachsinniges Kind zu haben. Nur wenige haben zu vernünftigen Erziehungsmethoden gefunden. Sie organisieren sich im Elternverein, der ein eigenes Budget zur Verfügung hat und mit seinen Aktivitäten — etwa dem Verkauf der kleinen Handwerksarbeiten — die Schule weitgehend unterstützt.

Die enge freundschaftliche Zusammenarbeit der Eltern mit dem Lehrkörper ermöglicht Hilfe auch in persönlichen Krisen. Im Geiste der Freundschaft und Nächstenliebe fände man leichter wieder zu sich, meinen die Eltern. Lehrer und Eltern lernen voneinander den richtigen Umgang mit der Behinderung.

Editha Sokoloff trägt die Begegnung mit den Kindern mit Fassung. Warum sie diesen Beruf ausübt? Sie sieht so viel „Dank und Liebe“ bei ihren Schülern, wie sie kaum bei gesunden Kindern zum Ausdruck kämen. „Die Kleinen brauchen Streicheleinheiten“, sagt Editha Sokoloff. Ein Mädchen lehnt sich mit dem Kopf an die Lehrerin an, als wolle sie deren Meinung bestätigen.

Einer der wichtigsten Bereiche des Unterrichts in der Sonderschule betrifft die Vorbereitungen auf den Lebensalltag. Sie werden durch den Rahmenlehrplan garantiert: Er sieht „die Schulung in einem breiten Angebot von Arbeitstechniken“ und die „Erziehung zur Bereitschaft, längerdauernde Arbeitsaufgaben zu übernehmen“, vor. Deshalb fahren die Lehrer auch hin und wieder mit den Kindern in der Straßenbahn. Editha Sokoloff berichtet von beschämenden Erlebnissen. Da wurde unter älteren Menschen der Ruf nach Adolf Hitler laut. „Unterm Hitler hätt's das nicht gegeben“, lamentierte einer. Betroffene Mütter wie Frau Müller erkennen in ähnlichen Fällen das Mißtrauen der Gesellschaft gegenüber dem Behinderten und meinen, es fehle an der notwendigen Aufklärung.

Inzwischen hat der Junge einige Strumpfhosen zerschnitten. Rudi kommt ins Klassenzimmer. Er gebärdet sich wie ein Schattenboxer und wirft sich völlig außer Kontrolle auf den Boden. Das Lehrpersonal sieht dem Schauspiel geduldig zu und wartet, bis sich das Kind wieder beruhigt hat. Ihn zu berühren wäre sinnlos, er würde sich mit Händen und Füßen wehren, während die Kinder auf ihren Plätzen sitzen und sich um ihn überhaupt nicht kümmern.

Dann kommt zufällig ein Junge vorbei, den alle „Hochadel“ nennen. Als Sohn fürstlicher Eltern wurde er wegen seines Zwergwuchses von ihnen verstoßen. Heute ist er vierzehn Jahre alt und etwa einen Meter groß. Er kann nicht sprechen und auch nicht selbständig seine Notdurft verrichten. Viele Kinder müssen aufs Klo geführt werden oder haben Windeln. Den meisten Kindern mußte hier erst das Zähneputzen beigebracht werden.

Ein Herzstück der Schule ist die Küche. Hier bereiten die Kinder mit eigens zusammengestellten Rezepten, in denen es nicht um Maße, sondern ums Messen mit Bechern geht, vielerlei Köstlichkeiten zu. Hier wie dort erntet man beim Lob ihrer Arbeit ein selig zufriedenes Lächeln.

Die Sonderschule Kienmayergasse ist ein Ort der Zufriedenheit. Traurigkeit ist fehl am Platz, denn das Leben ist für Behinderte schwer genug. Der auf eine Außenwand mit Sprechblase gemalte Junge meint bestätigend mit verschmitztem Grinsen: „Wir lernen für das Leben.“

*) Namen der Kinder und Eltern von der Redaktion geändert.

Spenden sind erbeten an den Elternverein, Konto-Nr. 355-58008 der Ersten österreichischen Spar-Casse.

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