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Büffet bei den Nibelungen

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In welcher Form würde der Untergang der Nibelungen in unseren Tagen vor sich gehen? Fritz Habeck schildert den Vorgang am Beispiel einer großbürgerlichen Unternehmerfamilie in Österreich. Der Roman „Wind von Südost“ des 1916 geborenen bedeutenden österreichischen Epikers wird in diesem Herbst im Paul Zsolnay-Verlag erscheinen. Mit einem ersten Vorabdruck führt die FURCHE in die Porträt-Galerie dieses Werkes ein, das ohne Zweifel zu den bedeutendsten Arbeiten der kommenden literarischen Saison gezählt werden muß.

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In welcher Form würde der Untergang der Nibelungen in unseren Tagen vor sich gehen? Fritz Habeck schildert den Vorgang am Beispiel einer großbürgerlichen Unternehmerfamilie in Österreich. Der Roman „Wind von Südost“ des 1916 geborenen bedeutenden österreichischen Epikers wird in diesem Herbst im Paul Zsolnay-Verlag erscheinen. Mit einem ersten Vorabdruck führt die FURCHE in die Porträt-Galerie dieses Werkes ein, das ohne Zweifel zu den bedeutendsten Arbeiten der kommenden literarischen Saison gezählt werden muß.

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Unten sind in der Halle, im Empfangsraum, Speisezimmer, Salon alle Türen offen, im Speisezimmer stehen drei aneinandergerückte Tische mit dem kalten Büfett, für“ den Anlaß gemietete Mädchen tragen Tabletts von Gruppe zu Gruppe und bieten Getränke an, und alle sind sie da, die Nibelungen, um den Tod Königin Utes zu beklagen: die Brüder Gunther, Gernot und der zum Gerhard verstümmelte Giselher; Schwester Kriemhild mit ihrem Siegfried; Brunhild, für die niemand mit Sprung, Speer- und Steinwurf kämpfen mußte; und rund um sie die Freunde, die Burgunder, oder sind es Feinde, sind es Hunnen, ist das gar nicht der Thronsaal zu Worms, ist es die Etzelsburg in Gran? Wenn aber Etzelsburg, wo bleibt das Eisen, zu dem Hagen geraten hat, und wenn wir diesen Namen nennen, wo ist Hagen selbst, die einäugige Treue? Lassen wir den Süden, er hat verspielt, hören wir Wagner, die sächsische Version der Götterdämmerung, oder bücken wir gleich voll Vertrauen weiter nach Norden.

Dort versammeln sich Buddenbrooks und Forsytes schon im ersten Kapitel ihrer Chronik, geben sich nicht etwa adelig überheblich, sondern bürgerlich gemütlich, sehen selbstgefällig in den Spiegel der Literatur, werden schamhaft als liebenswert schrullige Käuze ironisiert und sind doch Geier im Bratenrock, die nicht einen Gedanken an das Elend des sogenannten Volks verschwenden, dem sie - wie seinerzeit der Adel — ihren Reichtum verdanken; was aber nützt ihnen die Maske der Bon-homie, hundert Jahre später ist die immer schneller werdende Zeit über sie hinweggegangen. Was auf Rop-pendorff das kalte Büffet umlagert, sind keine Adler im Kettenhemd, auch keine Geier im Bratenrock, es sind bloß Spatzen mit Vorfahrtsrecht.

Den Geiern äußerlich am nächsten kommt noch Onkel Gustl, der Mann Tante Elsas, seine Lider stülpen sich manchmal ganz langsam über die gelben Augäpfel, sein Kopf ist kahl, faltig ragt der lange Hals aus dem Kragen, und die Hände erinnern an Fänge. Wie er dort am Kamin lehnt, könnte er auch James heißen, aber er könnte bloß, er kann nicht, in Wahrheit fehlt ihm die Selbstsicherheit der Viktorianischen oder franziskojose-finischen Ära; dem langhaarigen, in blauem Drillich eingenieteten Gerhard begegnet er nicht etwa mit besorgter Verwunderung, sondern mit Haß, und die Musik der Jungen reizt ihn zu Zornausbrüchen, die er nur unterdrückt, weil er stets um Blutdruck und Leber bangt. Sein Realitätenbüro wollten weder Sohn noch Schwiegersohn übernehmen. Vor vier Jahren, als er siebzig wurde, hat er es verkauft, das Geld in Grundstücken und Pfandbriefen angelegt, deren Wert er nur dann nicht verfolgt, wenn er entweder an seine Sammlungen denkt (Briefmarken, Goldmünzen, Zinn) oder mit einem von ihm selbst konstruierten Gerät Erdstrahlen festzustellen versucht. Im Augenblick beschäftigt ihn wahrscheinlich Valeries schon von ihrem Vater begonnene Markensammlung, in der man doch österreichische und deutsche Prunkstücke aus der Frühzeit finden müßte, vielleicht sogar die Zinnober-Merkur oder die schwarze Einkreuzer-Zeitungsmarke für Lombardei und Venetien; leider ist soviel von dieser Sammlung geredet worden, daß sich eine amtliche Schätzung kaum wird vermeiden lassen, was der ganzen Geschichte natürlich den Reiz nimmt, es sei denn, man -

Tante Elsa ist das richtige Pendant, passend wie in einem Schwarzer-Pe-ter-Spiel der Jahrhundertwende mit den Darstellungen der Nationen: Franzose in roten Hosen, Französin als Marketenderin, Engländer und Engländerin grau kariert mit Schmetterlingsnetzen. Sie ist fast ebenso groß, ebenso hager, bloß nicht kahl, sondern mit gefärbtem schwarzem Haar, das sie in der Mitte scheitelt, um einer italienischen Madonna zu gleichen, mit der sie freilich soviel gemein hat wie eine Tarantel mit einem Weberknecht, und wenn Gustl den ganzen Tag an Besitz denkt, dann kommt bei ihr noch die Nacht dazu. Niemand weiß, von wem sie die grünen Augen geerbt haben könnte, denn alle Rabener haben blaue Augen, aber ziemlich sicher sind es diese Augen, die Gustl dazu verführt haben, statt einer billigen Haushälterin und einer wöchentlich einmal benutzbaren Prostituierten eine Ehefrau zu nehmen, und Elsa mußte es sein, weil sie Gustl jene Wonnen bereitete, die ihm Grundstücke, Pfandbriefe, Marken, Münzen und Zinn nicht bieten können.

Elsa versteht alles besser, und jeder Fachmann tut gut daran, einem Gespräch mit ihr auszuweichen, weil er sonst Ratschläge auf seinem Gebiet anhören müßte, die ihm zwar idiotisch erscheinen mögen, die aber doch zweifelsfrei beweisen sollen, daß seine ganze bisherige Tätigkeit schon im Ansatz falsch gewesen sei. Tante Elsa ist jener Typ Frau, die

Bach den richtigen Stil auf der Orgel, Goya die wahre Bildwirksamkeit, Shakespeare die echte Dramatik und Einstein praktische Mathematik beigebracht hätte, wenn sie nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen wäre.

Kommerzialrat Gustav Leinwater und seine kongeniale Frau Elsa sind die ältesten, nun käme der zweiund-sechzigjährige Oswald Schwarzrock, bevor er aber gewürdigt werden kann, ist ein kurzer Abriß der Gene-rationenreihung notwendig, den jeder vernünftige Mensch für die Berechnung der Erbschaftsquoten braucht, und um Erbschaft geht es doch offenbar, nach einem solchen Begräbnis: darin unterscheiden sich die Spatzen mit Vorfahrtsrecht von ihren Ahnen nur insoweit, als sie nicht zum Schwert greifen, sondern den Anwalt verständigen, wenn sie sich bei der Verteilung der Beute zurückgesetzt fühlen.

Von Joseph Calasanza, Firmengründer, 1844 bis 1927, kennt man bloß Legenden, weiß aber nichts von Geschwistern, die ja auch rechtlich irrelevant sind. Er hatte fünf Kinder, nämlich Valeries Mann Carl Borro-mäus, eine Tochter Hedwig, die 1899 nach Italien heiratete und wegen ausreichender italienischer Versorgung aus dem Gesichtskreis der Familie entschwand, eine Tpchter Gisela, schon siebenjährig verstorben, einen Sohn Johannes Chrysostomus, im Ersten Weltkrieg gefallen, und einen Sohn Rudolf, der im selben Krieg von einem Granatsplitter am Kopf getroffen wurde und noch bis 1948 auf Sparflamme lebte, aber in diesen dreißig Jahren nichts mehr hervorbrachte als etwa tausend hübsche Holzschnitte und Aquarelle. Sowohl von Johannes Chrysostomus wie auch von Rudolf gibt es Kinder und Enkel, die freilich schon frühzeitig ausgekauft wurden. Das für die anderen Rabener einigende Band des Besitzes ist bei ihnen zerrissen, als Erben Valeries kommen sie nicht in Betracht, und sie fehlen darum auch beim Leichenschmaus.

In der dritten Generation stehen Valeries fünf Kinder, die man in die Rechnung einbeziehen muß. Da ist Regine, die gegen den Willen des Vaters den wirtschaftlich bedeutungslosen Gymnasialprofessor Doktor Hermann Schroll aus Steyr heiratete; beide sind nicht mehr am Leben, an ihre Stelle tritt ihr Sohn Doktor Florian Schroll, Gymnasialprofessor in Linz und zum Begräbnis, wenn auch ohne Frau und Sohn, angereist, weü ihm auf jeden Fall ein Pflichtteil zusteht. Auf Regine folgt Elsa, auf Elsa

Carl tdiesmal der Große), mit zwei Jahren an einer Lungenentzündung gestorben, dann Andreas und schließlich Rudolf, der im Zweiten Weltkrieg gefallen ist. Er heiratete 1940 die nahezu mittellose Susanne Marie, Tochter eines Obersten a. D., und hatte mit ihr noch schnell eine Tochter Silvia, die folglich als Noterbin anerkannt werden muß. Nach dem Krieg ging Witwe Susi eine zweite Ehe mit Oswald Schwarzrock ein und hat mit ihm einen Sohn Hardy und eine Tochter Cornelia, die aber heute fehlen, weü sie ja zur Erblasserin weder blutsmäßig noch rechtlich in verwandtschaftlichem Verhältnis stehen.

Zur vierten Generation gehören die acht Enkel Valeries, nämlich Florian von Regine; Herbert und Barbara von Elsa; Gunther, Gernot, Gerhard und Kriemhild von Andreas; und Sylvia von Rudolf; zur fünften Generation fünfzehn Urenkel, von Hefmann, dem Sohn Florians, mit siebzehn, bis zu Jadwiga, der jüngeren Tochter Sylvias, mit zwei Jahren. Außer Hermann und Jadwiga sind alle Urenkel zum Begräbnis erschienen.

Tante Susi, die eben beim Büffet auf Hummer verzichtet und sich lieber „Geselchtes“ auf den Teller legen läßt, wirkt fremd in ihrem schwarzen Seidenkleid, das Gernot schon vor seiner Flucht nach Deutschland altbekannt war; abgesehen von Anlässen mit vorgeschriebener Trauer, trägt sie immer Dirndl, daheim und auf Wanderschaft mehr bäuerlich, bei

Einladungen die Salonform. Vor wenigen Tagen hat Valerie den gefallenen Rudolf zitiert, nach dessen Ansicht man mit Susi Pferde stehlen könne, und zu dieser Aufgabe, was immer man darunter versteht, scheint sie auch bestens geeignet. Sie ist klein, schlank, zäh, hat kurzgeschnittenes graues Haar, spricht wenig und lächelt gern, selbst dann, wenn niemand es erwartet. Mund und Augen sind ungeschminkt, Finger- und Zehennägel nicht bemalt, und Gunther schwört darauf, daß Tante Susi noch nie unzüchtige Unterwäsche getragen habe. In etwas vorgerückter Stimmung und in passender Gesellschaft darf man ihr eine Gitarre in die Hand drücken, dann singt sie Lieder aus ihrer Zeit beim Bund Deutscher Mädchen, und man beginnt zu zweifeln, ob Großdeutschland den letzten Krieg wirklich verloren habe. Wenn ja, dann gewiß nicht ihretwegen.

Ihren zweiten Mann hat sie gut gewählt. Obwohl über sechzig, sieht er immer noch aus wie ein vielleicht etwas verwitterter Sküehrer, und auch seinetwegen ist Großdeutschland nicht unterlegen. Er war an allen Fronten und wurde als einer der letzten Offiziere von Stalingrad ausgeflogen, was seinen Sohn Hardy - freilich nicht in Gegenwart des Vaters -zu dem Ausspruch verleitet hat, in Großdeutschland sei damals das größte Flugzeug aller Zeiten gebaut worden, nämlich jener riesige Apparat, der rund zwanzigtausend schwer verwundete Oberleutnants gleichzeitig und knapp vor der Ubergabe von der Wolga in die Heimat befördert habe: so viele müßten es ja gewesen sein, wenn alle Erzählungen der Väter richtig seien, was natürlich nicht bezweifelt werden dürfe. Oswald Schwarzrock, jetzt Prokurist einer Speditionsfirma, ist immer noch topfit, steht als Oberstleutnant der Reserve beim österreichischen Bundesheer, nützt jede Pause zur Erhaltung seiner körperlichen Höchstform, zum Beispiel durch Kniebeugen vor einer Wohnungstür, die nach seinem Läuten erst eine Minute später geöffnet wird, verbringt jeden Urlaub gemeinsam mit seiner Frau in den Bergen, war nicht nur in den Alpen, sondern auch auf dem Kilimandscharo, in den Anden und im Himalayagebiet, führt nachher interessierten Gästen stundenlang seine dort gedrehten Filme vor und kennt neben den Problemen des Speditionsgeschäfts nur drei Themen: seine Pensionierung, die Möglichkeit einer Ertüchtigung unserer schlapp gewordenen Jugend und höhere Gipfel mit Arbeit in Fels und Eis.

Willy und Kriemhild stehen mit Tante Elsa unter der Artemis im Stiegenhaus, nippen an ihren Gläsern und, sprechen über die Bestückung der österreichischen Dreadnoughts mit vier Drillingstürmen zu je drei 30,5 cm-Geschützen; Willy erklärt die Motive für diese Bewaffnung, und Elsa hält ihm entgegen, daß Raketen schon im Mittelalter bekannt gewesen wären und man darum die Schiffe vernünftigerweise damit hätte versehen können, wenn die Führung nicht so kurzsichtig gewesen wäre, was sie doch offenkundig war, das zeige sich schon an dem Beispiel, daß man die Auswertung der österreichischen Erfindung des Tanks lieber den Engländern überlassen habe.

Nicht weit von ihnen, in einem Winkel des Eingangs zur ehemaligen Kapelle, lehnt ein ungemein großer magerer Mann mit schütterem Haar, dicker schwarzer Hornbrille und auffallend schlechter Körperhaltung, der .einzige Gast, der keine schwarze Krawatte umgebunden hat, sondern einen weißen Rollkragenpullover trägt: das ist Florian Schroll, Lehrer für Mathematik, Physik und Chemie an einem Linzer Gymnasium. Er hat Hummer gewählt, sehr reichlich gewählt, hält den leeren Teller nun etwas verlegen in der Hand, und nur Gernot weiß, daß er heimlich Gedichte schreibt und einmal Staatsmeister im Tischtennis gewesen ist. Irgendwann wird sich eines der angeheuerten Mädchen seiner erbarmen und ihm den Teller abnehmen, irgendwann wird auch Hausfrau Hertha vorbeikommen, die hier und dort begrüßt und plaudert, aber lang wird sie sich ihm kaum widmen, da sie ja gewiß längst weiß, daß er keine Firmenanteile zu vergeben hat.

Die drei Bürgermeister entsprechen der gesellschaftlichen Schichtung ihrer Gemeinden: ein Weinhauer, ein gelernter Tischler, aber seit langem Parteifunktionär, und ein Apotheker; die Industriellen vertreten Kalk, Ziegel, Holz, Lack und Plastik. Zu ihnen kommen noch der Bezirkshauptmann, ein Oberst der Garnison, Arzt, Anwalt, Steuerberater und fünf Freunde des Hauses mit ihren Frauen, im Ganzen an die fünfzig Personen, die Jüngsten im ersten Stockwerk nicht mitgerechnet.

Das sind die Deinen. Das ist die Welt, aus der du geflohen bist.

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