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Besondere Betreuung

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Soll man behinderte Kinder jn eigenen Einrichtungen betreuen oder gesondert fördern? Ein umstrittenes Problem. Ein Wiener Kindergarten versucht neue Wege in der Kindererziehung.

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Soll man behinderte Kinder jn eigenen Einrichtungen betreuen oder gesondert fördern? Ein umstrittenes Problem. Ein Wiener Kindergarten versucht neue Wege in der Kindererziehung.

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Auf den ersten Blick ist es hier wie in jedem anderen Kindergarten auch: Umherlaufende, spielende Kinder - ein Mädchen vor einer kleinen Staffelei, mit den Händen Farbe auf Packpapier schmierend, ein anderes in der ,.Puppenecke“ in ein Rollenspiel vertieft, in dem es als Mutter gerade etwas kocht für ihre Kinder.

Auf dem Fußboden zwei Buben, mit Holzklötzen Türme bauend, die immer wieder umfallen; ein anderer, der langsam auf dem Bauch dahinkriecht. Ein Mädchen in der aus Matratzen, Dek-ken und Polstern zusammengebauten „Kuschelecke“, auf den Knien ein Büderbuch.

Der Raum ist hell, mit großen Fenstern, durch die man in einen schönen Garten mit alten Bäumen sieht, auf dem Rasen Sandkiste, Schaukel, ein Kletterturm. Die Einrichtung besteht aus kleinen Tischen und Stühlen, Regalen mit Spielsachen, an den Wänden von den Kindern gemalte BUder.

Wenig später — die Kinder sitzen bei der Jause — werden für mich ihre unterschiedlichen Behinderungen erstmals sichtbar:

So ist zum Beispiel der kleine Bub, der vorhin auf dem Boden gekrochen ist, in seinen motorischen Fähigkeiten so eingeschränkt, daß er nicht stehen oder auch nur frei sitzen kann. Er braucht einen speziellen Stuhl, an dem seine Beine fixiert werden können, und er kippt, wenn er sich nach vorne neigt, immer wieder um.

Oder die Kleine, die vorhin mit den Händen gemalt hat - sie spricht mit niemandem, und ihr Gesichtsausdruck ist irgendwie abwesend. Später erfahre ich von der Kindergärtnerin, daß sie eine leichte autistische Störung hat, das heißt, daß sie manchmal so völlig in sich gekehrt ist, daß sie auf ihre Umwelt nicht oder kaum reagiert. Noch dazu ist sie gelegentlich äußerst aggressiv, schlägt auf andere Kinder ein oder wirft mit irgendwelchen Gegenständen nach ihnen.

Oder der eine der beiden Buben,die vor der Jause mit den Bausteinen gespielt haben: Er hat Hemiplegie, das ist eine Störung des Gehirns, die bewirkt, daß seine linke Körperhälfte zwar nicht völlig gelähmt, jedoch in ihrer Bewegungsfähigkeit stark beeinträchtigt ist.

Er benützt daher den linken Arm, die linke Hand fast überhaupt nicht, hat aber mit Hilfe seiner Bewegungstherapie gelernt, beinahe normal zu gehen. Seine Chancen, ein ganzheitlicheres Gefühl für seinen Körper zu bekommen, sodaß er allmählich auch seinen linken Arm verstärkt gebrauchen wird, sind gut.

Die anderen Kinder in dieser Gruppe des Sonderkindergartens „Schweizer Spende“ im Auer-Welsbach-Park haben Behinderungen unterschiedlichster Art, zum Teü bedingt durch Stoffwechselerkrankungen, Bewegungsstörungen, aber auch geistige beziehungsweise Mehrfachbehinderungen.

Insgesamt besteht der Kindergarten aus sieben Gruppen mit durchschnittlich dreizehn Kindern. Vier davon sind reine Behindertengruppen. In ihnen werden schwerpunktmäßig lern- und leistungsbehinderte, verhaltensauffällige und entwicklungsge-störte(dasheißt,nichtihrem Alter entsprechend fortgeschrittene) Kinder gefördert. Man findet da auch Kinder mit motorischen, geistigen (zum Beispiel Mongo-loide) oder körperlichen (etwa seh- oder hörbehinderte Kinder) Beeinträchtigungen.

Die übrigen drei Gruppen sind sogenannte Integrationsgruppen, in ihnen werden nichtbehinderte gemeinsam mit behinderten Kindern betreut. Von den durchschnittlich 16 Kindern dieser Gruppen sind vier behindert, wobei nicht nur die behinderten durch den Kontakt mit den gesunden, normalen Kindern profitieren. Auch die gesunden lernen viel für ihr soziales Verhalten.

Durch den täglichen unbefangenen Umgang mit Kindern, die „anders“ sind, werden Eigenschaften wie Toleranz, Geduld,Verständnis gefördert, und Berührungsängste gegenüber Behinderten, wie wir Erwachsene sie leider oft haben, entstehen erst gar nicht.

Es gibt für jede Gruppe zwei Kindergärtnerinnen, die eine über die normale Ausbildung hinausgehende Qualifikation haben und eine Kindergartenhelferin. Wenn nun der Eindruck entsteht, daß durch insgesamt drei Betreuungspersonen für durchschnittlich dreizehn beziehungsweise sechzehn Kinder nahezu optimale Arbeitsbedingungen gegeben sind, so muß man bedenken, daß mehrere dieser Kinder eigentlich eine Person für sich allein brauchen würden.

Manche können sich kaum bewegen und müssen daher immer wieder getragen werden. Manche sind unfähig, sich auch nur wenige Minuten allein zu beschäftigen oder mit anderen gemeinsam zu spielen, einige sind manchmal so aggressiv, daß ständig darauf geachtet werden muß, daß die anderen Kinder nicht durch sie gefährdet werden.

Hinzu kommt, daß neben den von einer Physikotherapeutin, Logopädin und Psychologin durchgeführten Einzeltherapien (jedes Kind hat ein auf seine spezifischen Probleme abgestimmtes Therapieprogramm) auch im sogenannten Kindergartenalltag von den Sonderkindergärtnerinnen therapeutische Arbeit geleistet wird.

Beim Turnen in der Gruppe, während des Spiels, beim Malen oder Zeichnen werden Elemente aus der Therapie so integriert, daß die Kinder „lernen“, ohne es zu bemerken, und sie unterscheiden deshalb auch kaum zwischen Spiel und Therapie. Die Kindergärtnerinnen hingegen geraten oft genug an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit.

Wichtig für eine gute Förderung der Kinder ist die Zusammenarbeit mit den Eltern, oft sind es alleinerziehende Mütter, die wesentlich mehr Rat und Unterstützung brauchen als die Eltern gesunder Kinder.

Hin und wieder, wenn eine Gruppe den Kindergarten verläßt, um — mit öffentlichen Verkehrsmitteln — ins Schwimmbad oder in ein Museum zu fahren, kommt es vor, daß sie taktlose Bemerkungen, ja regelrechte Anpöbelungen zu hören bekommt. Traurig und unverständlich, aber leider auch Realität, die offensichtlich zum Leben behinderter Kinder, deren Eltern und Kindergärtnerinnen gehört.

Sie sind zweifellos anders als sogenannte normale Kinder, deswegen jedoch um nichts weniger liebenswert.

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