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Gebt mir Zeit zum Träumen!

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Der in der Gesellschaft verbreitete Leistungsdruck gibt Kindern immer weniger Freiraum für kreatives Spielen und die Entwicklung eigener Ideen.

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Der in der Gesellschaft verbreitete Leistungsdruck gibt Kindern immer weniger Freiraum für kreatives Spielen und die Entwicklung eigener Ideen.

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Vormittags im Kindergarten oder in der Schule, nachmittags zum Rallettunterricht, zur Klavierstunde oder in die Kindertheater-gruppe: Der Leistungsdruck lastet heute vielfach schon sehr früh auf den Kindern. Erst kürzlich hat der Kinderpsychiater Max Friedrich in der furche zu den psychischen Erkrankungen von Kindern Stellung genommen und auf das größte Problem hingewiesen: den fehlenden Dialog in der Familie.

Die französische Kinder- und Ju-gendlichenpsychotherapeutin Etty Buzyn beschreibt jetzt in einem neu erschienenen Buch, wie sich nicht nur mangelnde Gesprächsbereitschaft in der Familie, sondern auch die oft überhöhten Anforderungen der Eltern und Erzieher auf Kinder auswirken. Sie wehren sich auf ihre Weise und reagieren mit verschiedensten Symptomen: ständige Bauch- oder Kopfschmerzen, Schlafstörungen, übertriebene Zurückhaltung oder auffälliges Verhalten.

Mit vielen konkreten Beispielen aus ihrer Praxis beschreibt Buzyn, selbst Mutter, typische Verhaltens weisen überforderter Kinder verschiedener Altersgruppen. Anhand einzelner Fälle zeigt sie die Ursachen solcher Probleme auf und erklärt, wie sie den Kindern geholfen hat, die Situation zu überwinden und wieder zu einem ausgeglichenen Leben zu finden.

Sie schreibt beispielsweise von einem 15jährigen, der durch provokantes Verhalten seinen Eltern, Lehrern und Mitschülern „das Leben zur Hölle macht”, und wie es ihr schließlich gelingt, eine ganz besondere Leidenschaft für Uhren in diesem Jungen zu entdecken. Als ihm gestattet wird, nebenbei einen Spezialkurs zu besuchen, ändern sich sein Verhalten und seine Leistungen in der Schule.

Mit dem in der Gesellschaft verbreiteten Leistungsdenken geht die Autorin hart ins Gericht. Viele Eltern unterwerfen sich bewußt oder unbewußt diesem Druck der Gesellschaft und geben so ihren Kindern immer weniger Freiraum für kreatives Spielen, eigene Ideen und die Entwicklung ihrer Phantasie. Schon als Kleinstkind soll man in jeder Weise ins „Konzept” der Erwachsenen passen. Selbst bis auf den Zeitpunkt der Geburt ist alles durchgeplant, bis dann junge Erwachsene oft aus Gründen des Prestige oder rein finanzieller Natur zu einem „vernünftigen” Beruf gedrängt werden.

Die Autorin versucht Schritt für Schritt, anhand positiver und negativer Beispiele darzustellen, welches Ziel Erziehung haben sollte: dem Kind zu helfen, seine eigenen Bedürfnisse zu erkennen, zu artikulieren und seine persönlichen Fähigkeiten zu entfalten. Kinder sind nämlich in der Lage, durch viel Phantasie und selbst erfundene Spiele, Probleme zu verarbeiten, wie etwa die vierjährige Franziska, von der Etty Buzyn erzählt. Das lebhafte ausgeglichene Mädchen macht ihren Eltern Sorgen, weil es, nachdem die Familie in eine neue Wohnung gezogen ist, nur mehr unter dem großen Eßtisch spielen, essen und schlafen will. Bald stellt sich heraus, daß das Mädchen nicht so schnell mit dem plötzlichen Wechsel des Wohnortes fertigwerden konnte. Es hatte sich im Spiel sein eigenes kleines Häuschen zurechtgemacht, um so die Umstellung besser zu verkraften. Der für die Eltern besorgniserregende Zustand war nach knapp zwei Wochen überwunden.

Im zweiten Teil des Buches liefert die Autorin wertvolle Anregungen, wie die kreative persönliche Entfaltung des Kindes gefördert werden kann. Dabei unterstreicht die Psychotherapeutin die Wichtigkeit, dem kleinen Menschen stets genügend Zeit zur Entwicklung seiner Fähigkeiten zu lassen und mit selbsterfundenen Geschichten die Phantasie der Kinder zu fördern.

Etty Buzyn geht dabei auch auf die Gefahr ein, die „vorfabriziertes” Spielzeug in sich birgt: Spielsachen dieser Art können die eigene Kreativität und Phantasie des Kindes erheblich beeinträchtigen und blockieren.

Auch mit dem Schulunterricht setzt sich die Autorin kritisch auseinander, um dabei festzustellen, daß selbst dieser die kreativen Fähigkeiten der Kinder nicht unbedingt fördert, sondern teilweise sogar unterdrückt. Gegenständen wie Musik oder Zeichnen werde keine besondere, beziehungsweise nur mindere Beachtung geschenkt.

Das Buch, dessen deutsche Übersetzung von Bernardin Schellenberg angenehm zu lesen ist, bricht auch eine Lanze fürs gelegentliche Faulenzen, das in der heutigen Ieistungsge-sellschaft ebenso verpönt ist wie das Selbernähen von Kleidern oder das Selberbacken von Kuchen. Auch zu diesen Aktivitäten will die Autorin ermutigen, um einfach wieder mehr Zeit fürs Beisammensein zu schaffen.

Zum vorsichtigen und kritischen Umgang mit den Massenmedien rät Etty Buzyn in einem eigenen Kapitel: Nur durch diesen können die technischen Errungenschaften unseres Jahrhunderts der Menschheit wertvolle Dienste erweisen.

In ihrem Schlußwort verweist die Autorin auf die verheerenden Folgen der „Bentabilitätsrechnung, der Selektion und des Ausgeschiedenwerdens” in der heutigen Gesellschaft. Sie will dazu ermutigen, Kindern und Erwachsenen „mehr Zeit zum Träumen” zu lassen, um in der Welt wieder mehr „Phantasie und Kreativität freizusetzen”.

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