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Lernen, nein” zu sagen

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Suchtprävention durch Abschreckung bewirkt meist das Gegenteil. Der neue pädagogische Ansatz betont die positiven Seiten des suchtfreien Lebens.

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Suchtprävention durch Abschreckung bewirkt meist das Gegenteil. Der neue pädagogische Ansatz betont die positiven Seiten des suchtfreien Lebens.

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Galt einst „Abschreckung” als beste Vorbeugung für Drogenmißbrauch, so versucht man es heute mit Vermittlung von Möglichkeiten, sich in dieser Welt zu bewähren. Suchtprävention hat sich von der Verbots- über die Gebots- zur Angebotspädagogik entwickelt. „Sucht”, so die Berater der Informationsstelle für Suchtprävention, „bedeutet immer auch auf der Suche sein. Wollen wir Sucht verhindern, so müssen wir an den Sehnsüchten der Menschen nach Glücksgefühl und Wohlbefinden ansetzen. Wenn wir lernen, unsere Bedürfnisse angemessen zu befriedigen, unsere soziale Kompetenz zu entwickeln und mit Konflikten in konstruktiver Weise umzugehen, so ist dies die beste Voraussetzung für ein gesundes Leben.” Die Wiener Informationsstelle für Suchtprävention (ISP) wurde 1995 gegründet und hat sich zur Aufgabe gestellt, allen interessierten Personen als Auskunft und Fortbildungseinrichtung zur Verfügung zu stehen und Schlüsselpersonen im Bereich Schule, Jugendarbeit und Kindergarten bei der Erarbeitung suchtpräventiver Lösungen zu unterstützen.

Bei dieser Arbeit steht nicht die unmittelbare Verhinderung von Suchtmittelkonsum im Mittelpunkt, sondern es werden Möglichkeiten aufgezeigt, mit schwierigen Lebenssituationen und Konflikten umzugehen und die Persönlichkeit in jedem Lebensalter und - abschnitt zu stärken. Es geht also darum, Offenheit, Kommunikation, Identität und den Selbstwert zu fördern und dazu zu ermutigen, Gefühle zu zeigen. Bei Elternabenden ist es den Beratern ein Anliegen, eine ganzheitliche Sichtweise der vielfältigen Ursachen von Sucht nahezubringen. „Nicht das Suchtmittel stellt das Hauptproblem dar, sondern dessen problematische Verwendung.” Die ersten Erfahrungen mit dem Konsum von Suchtmitteln machen Kinder mit Alltagsdrogen wie Alkohol, Nikotin oder Kaffee. Von klein auf beobachten Kinder an ihren Eltern den Umgang mit diesen Substanzen und lernen am Vorbild. Es ist wichtig, den Eltern die Angst vor dem Selbständigwerden der Kinder zu nehmen und zur aktiven Gestaltung der Eltem-Kind-Beziehung anzuregen. Viele Eltern klagen, daß ihr Kind noch immer so unselbständig ist.

Dabei lassen sie aber außer acht, daß man Selbständigkeit lernen muß. Mit der Selbständigkeitserziehung fängt man am besten beim Kleinkind an. Das heißt, daß das Kind mit steigendem Alter wachsende Aufgaben übernehmen und einen größeren Spielraum für Entscheidungen bekommen sollte. Allzu verwöhnte oder streng erzogene Kinder sind gefährdet, da sie unselbständig im Denken und Handeln sind und ihnen die Fähigkeit fehlt, eigenständig Lösungen zu entwickeln. Sie suchen nach chemischen Stützen für ihr Selbstbewußtsein, nach außerordentlichen Erlebnissen, mit denen sie prahlen und imponieren können, oder sie wollen die bedrückende Situation vergessen. Freizeit ist mehr und mehr geprägt von der Entwertung des Alltäglichen, nur noch das Besondere, der Kick, das Sensationelle gilt als erstrebenswert und die rastlose und hektische Suche danach läßt weniger Freiräume für Langeweile, Phantasie, vor allem aber weniger Raum für eigene und nicht von den Erwachsenen geprägte Erfahrungen.

Suchtprävention sollte daher bereits ~ wie Verkehrserziehung und Zahnhygiene - im Kindergartenalter beginnen. „Etwa bei Dreijährigen”, so Maria Abel, Sozialarbeiterin bei ISP, „geht es darum, das Selbstwertgefühl zu stärken und den Kindern zu lernen, nein zu sagen und mit ihrer Kraft sinnvoll umzugehen.” Je jünger die Zielgruppe ist, desto mehr steht die pädagogische Arbeit im Vordergrund, die sich darum bemüht, das seelische, körperliche und geistige Wohlergehen im Spannungsfeld von Gesundheit und Krankheit zu erhalten. Mit zunehmendem Alter können auch suchtspezifische Anteile der Information, also Sachinformation und Rechtsfolgen in der Gesundheitsförderung und Prävention zu Tage treten.

Das derzeit im Wiener Übungskindergarten Grenzackerstraße anlaufende Projekt „spielzeugfreier Kindergarten” schafft im geschützten Rahmen des Kindergartens einen Freiraum, der den Kindern ermöglicht, ihre eigenen individuellen und sozialen Kompetenzen zu erproben, zu entwickeln und aus von ihnen geschaffenen Situationen heraus als sinnvoll zu erleben.”Alle Spielzeuge werden weggeräumt, die Kinder bekommen aber auf Anfrage Materialien, um sich selbst Spielzeuge zu basteln. Die suchtpräventive Forderung bei der Entwicklung des Projekts war, daß Kinder, Jugendliche und Erwachsene lernen müssen, Probleme, schwierige Situationen und deren Ursachen anzugehen und zu verändern, statt darauf zu warten, daß dies jemand für sie tut oder in Ersatzlösungen auszuweichen.

Das Projekt richtet sich also nicht gegen Spielzeug; das Wegfallen der fixen Angebote ist eine Methode, um in einem begrenzten Zeitraum eine Situation zu schaffen, in der Kinder ihre Lebenskompetenzen erproben und entwickeln können.

Bei ersten Versuchen in Deutschland beobachteten die Erzieherinnen, „daß vor dem Projekt deutlich mehr Hektik, Streit und Toben, weniger Miteinander und mehr Konkurrenz den Alltag bestimmten”. Das Verhalten untereinander wandelte sich, das geschlechtsstereotype Verhaltensmuster löste sich auf. So gab es „kaum noch reine Buben- und Mädchengruppen”. Jeder schien seinen eigenen Rhythmus zu bestimmen. Die Kinder lernten, sich zu behaupten und ihren eigenen Fähigkeiten zu vertrauen, sie waren in der Lage, eigenständig zu handeln und ihre Grenzen zu erkennen. Für den Umgang miteinander bedeutete dies: Sich selbst und den anderen akzeptieren und respektieren lernen, „ja” und „Nnin” sagen können, sowie die eigenen Fähigkeiten und die der anderen zu erkennen und gemeinsam zu nutzen. Auch die sprachliche Ausdrucksfähigkeit wurde trainiert. Sie begleiteten ihre Tätigkeiten zunehmend sprachlich, da sie für die Verwirklichung ihrer Ideen meist Partner benötigten. Dabei schulten s,ie unbewußt ihr begriffliches Denken und erweiterten ihr sprachliches und gegenständliches Wissen.

Auch die Kindergärtnerinnen profitierten von diesem Projekt: „Früher sind wir oft in den Streß gekommen, die Kinder zufriedenstellen und beschäftigen zu müssen, doch heute lernen auch wir etwas von den Kindern - nämlich Abwarten, Durchdenken, Gewährenlassen. Das heißt auch, sich nicht unter den Zwang stellen zu müssen, permanent aktiv und beschäftigt zu sein, sondern zu erfahren, wie wichtig auch Nichtstun, Langeweile und Besinnung sind.”

Wie ist die Situation in den Schulen? „Das einst beliebte Modell der Aufklärung und gleichzeitigen Abschreckung ist”, wie Maria Abel betont, „antiquiert, da es das Gegenteil bewirkt.” Studien aus Holland zeigen, daß vor allem derart „aufgeklärte” Schüler später in hohem Maß Drogen konsumierten. Aus Abschreckung und Angst wurde Neugier und Zuneigung. Auch das Einladen von Ex-Drogensüchtigen hält Abel für „Schwachsinn”. „Diese Person erzählt dann all die aufregenden Erlebnisse, nach denen sich ein Pubertierender sehnt. Der Abenteurer und Revoluzzer wird zum großen Vorbild, denn schließlich hat er es ja geschafft.” Der neue pädagogische Ansatz betont statt moralischer Appelle die positiven Seiten des suchtfreien Lebens, trainiert die Konfliktlösungsfähigkeit, die Frustrationstoleranz und fördert die Persönlichkeit jedes einzelnen. „Und zwar immer dort, wo der Jugendliche gerade steht”, betont Abel. „Der Bezug zur Person selbst muß immer hergestellt werden. Es nützt nichts, den Kindern Filme zu zeigen, mit denen sie sich nicht identifizieren können, die keinen Bezug zu ihrer realen Situation haben.”

Was unbedingt vermieden werden sollte, sind einmalige Blitzaktionen wie Eintagesworkshops, Einladen von schulfremden Experten ohne weiteren Zusammenhang, isolierte, spektakuläre Großveranstaltungen, sensationelle Darstellung von Suchtgiften und Vermittlung durch schlecht informierte Personen. Im konkreten Fall signalisieren Lehrer am besten Gesprächsbereitschaft und hören den Aussagen des Schülers ohne Mißfallenskundgebungen zu. Das Thema Drogen sollte vorerst aus der Diskussion gehalten werden, da der Drogenkonsum „nur” ein Symptom für Schwierigkeiten, ein Sichtbarwerden des Versuchs, Probleme mit unpassenden Mitteln zu lösen ist. Alternativen können angeboten werden, aber der Jugendliche muß selbst die Lösung für sein Problem finden und sich selbst für einen Ausweg entscheiden.

„Nicht vergessen sollte man allerdings”, so Silvia Franke, Leiterin der Suchtpräventionsstelle Wien, „auch das großartigste Projekt wird wenig nützen, wenn der Alltag der Schule von Streß, Angst und Konkurrenz geprägt ist. Gefragt ist die tägliche Kleinarbeit, die viel zur Prävention beitragen kann.”

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