Die beschränkte Macht der Eltern

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Krampus und Nikolaus lassen ihre Ruten und Sündenlisten immer öfter eingepackt: Die Zeit der schwarzen Pädagogik ist - gottlob - vorbei. Doch was kommt danach? Wie viel Autorität ist in der Erziehung gefragt ? Und wie groß ist überhaupt der Einfluss der Eltern? Ein Dossier über das Kunststück Erziehung. Redaktion: Doris Helmberger Auch wenn es den Erziehungsberechtigten nicht gefallen mag: Gene, Gleichaltrige und Medien prägen Kinder entscheidend mit.

Die Zahl an Eltern- und Erziehungsratgebern ist unüberschaubar groß geworden. Doch eine wesentliche Frage bleibt oftmals unberücksichtigt: Inwieweit übt die Erziehung der Erwachsenen - vor allem die der Eltern - überhaupt eine langfristige und damit auch prägende Wirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes aus? Die Antwort lautet: Sie ist bei weitem nicht so groß, wie das gemeinhin behauptet und von der "Erziehungsindustrie" unterstützt wird. Seit langem sind die westlichen Gesellschaften von einem Menschenbild bestimmt, dem ein irrealer, allmachts-ähnlicher pädagogischer Glaube zu Grunde liegt. Er verkündet, dass der heranwachsende Mensch sich so entwickle, wie seine Erziehung, vor allem die im Elternhaus, beschaffen ist.

Nur das Salz in der Suppe

Die Unsinnigkeit dieser Behauptung zeigt sich schon darin, dass die Erziehung niemals alleine "aus sich selbst heraus" wirken kann. Zum einen steht sie in Abhängigkeit und Wechselwirkung gegenüber den genetischen Dispositionen des Kindes. Zum anderen ist das Ausmaß ihrer Wirkkraft vor allem von den Einflüssen abhängig, die das Kind im Zusammensein mit (gleichaltrigen) Kindern, den Peers, erfährt.

Bereits die wenigen Überlegungen führen zu der Feststellung, dass die Erziehung "nur" das "Salz in der Suppe Kind", nicht jedoch die "Suppe Kind" selbst darstellt! Eine wesentliche Ausnahme davon bildet die Wirkkraft der Erziehung während der ersten rund drei Jahre. In dem Zeitraum ist sie unersetzlich, notwendig und vor allem auch prägend, weil das Kleinkind in vielen biopsychosozialen Bereichen seiner Existenz noch "hilflos" ist. Es benötigt von seinen Eltern besonders viel Vertrauen, Schutz, Förderung, Orientierung, Zeit, Sicherheit und Stärke. Diese Eigenschaften widerspiegeln sich überwiegend im Schlagwort des Urvertrauens, das besonders durch ein harmonisch verlaufendes emotionales "Mutter-Kind-Bindungsverhalten" (Karin Grossmann) zu Tage tritt. Wie die Neurobiologie belegt, drückt es sich obendrein in einer verstärkten gehirnorganischen Synapsenbildung aus, was zu einem besseren "EmotionsGedächtnis" (Harry Chugani) beim Kind führt. Neben aller Lebensfreude und dem Angenommensein verhilft das Urvertrauen dem Kind dazu, mit den immer wieder auftretenden Fehlern, Schwächen sowie Enttäuschungen des Lebens (besser) zurecht zu kommen, und ihm somit Selbstvertrauen zu schenken. Damit einhergehend müssen die Eltern ihrem Nachwuchs ein Grundgerüst weniger, jedoch klarer und möglichst kindgerechter Werte, Grenzen und Regeln vermitteln.

Aber Vorsicht! Schon während der ersten drei Jahre müssen die oben genannten Erkenntnisse insofern relativiert werden, als sie im Zusammenhang mit den individuellen genetischen Eigentümlichkeiten des Kindes stehen. Aber gerade diese Relativierung bereitet vor allem den besonders erziehungswilligen und -gläubigen Eltern oft größte Probleme. Sie überschätzen die Kräfte ihrer Erziehungsmöglichkeiten und wehren sich dagegen, dass sich in den Genen bereits vom Zeitpunkt der Zeugung ab unveränderliche Teilaspekte des gesamten späteren Persönlichkeitsverhaltens ihres Kindes verbergen.

Die Kraft der Gene

Sowohl die Erkenntnisse der eineiigen Zwillingsforschungen als auch die der Intelligenz- und Temperamentforschungen belegen nachdrücklich die starken genetischen Einflüsse gegenüber der Erziehung. Dabei zeigt sich, dass etwa die Intelligenz mindestens zu fünfzig Prozent genetischen Ursprungs ist, und Temperamentseigenschaften wie die von "kecken" ("extrovertierten") und "schüchternen" ("introvertierten") Kindern einen jeweils ähnlich hohen genetischen Anteil aufweisen. Insofern verwundert es auch nicht, dass sich bereits Babys und Kleinkinder gegen bestimmte, ihrem genetischen Grundwesen zuwiderlaufende elterliche Werte- und Anspruchsvorstellungen mit massiven physischen wie psychischen Verhaltensreaktionen zur Wehr setzen können.

Ab dem Zeitpunkt des Kindergarteneintritts, spätestens jedoch beim Schulbeginn, nimmt die bisherige Erziehungskraft der Eltern an (Vorbild-)Wirkung ab. Fortan wird sie durch Erfahrungen, die dem Kind seitens seiner "neuen Erzieher" - der (gleichaltrigen) Kinder - vermittelt werden, ergänzt, relativiert und nicht selten auf den Kopf gestellt. Die altersunterschiedlich jeweils etwas anders verlaufenden Gruppensozialisationsprozesse sind es, von denen sich die Peers untereinander in den Bann gezogen fühlen.

Durch sie erfährt das Kind, was es etwa heißt, sich gegenseitig zu streiten, körperlich zu attackieren und hinterher wieder zu versöhnen; für die eigenen Rechte und Vorstellungen sowie die der Freunde einzustehen; Kompromisse auszuhandeln und Niederlagen einstecken zu müssen. Es erlernt, zwischen Mein, Dein und Unser zu unterscheiden, und wie man sich dabei lebenspraktisch mit den Worten Gerechtigkeit, Ungerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Solidarität auseinanderzusetzen hat. Oder was es bedeutet, den Gruppenrang eines Sieger-, Verlierer-, Mitläufer- oder Kompromisskindes einzunehmen.

Einflussreiche Pe ers

Und schließlich fällt beim Zusammensein mit den Gleichaltrigen oft die Entscheidung darüber, zu welchen der von den Medien vorgegebenen (Mode-)trends man sich gemeinsam bekennt. Egal ob die Wahl auf die megageilste Jeans, das coolste T-Shirt, die soundigste CD, das trendigste Handy oder das hammerhärteste Videospiel fällt: Der Einfluss der Peers untereinander ist zumeist größer als es die pädagogischen Überzeugungskräfte oder Verbote der Eltern sein dürften.

Die Beispiele zeigen, wie nachhaltig und selbständig schon ältere Kindergartenkids ihre Bedürfnisse untereinander gestalten, indem sie gemeinsame verbindliche Werte und Regeln aufstellen und sie mit Nachdruck voneinander einfordern. Auf dem Weg schaffen sich die Peers obendrein eine ganz natürliche Alternativwelt, die der realen Elternwelt oft diametral gegenüber steht.

Obwohl die elterliche Erziehung von den Peergrouperfahrungen und den Medieneinflüssen zunehmend überlagert und in den Hintergrund gedrängt wird, bleibt sie dennoch von unersetzlicher Bedeutung. Das zeigt sich schon darin, dass es die Kinder selbst sind, die nicht auf das erzieherische Vertrauen und Verständnis ihrer Eltern verzichten wollen. Dabei dürfen die Eltern jedoch nicht die Rolle von ausschließlich alles erlaubenden, nur mit Sanft- und Langmut agierenden "Kumpeltypen" einnehmen. Im Gegenteil: Kinder suchen nach Eltern, zu denen sie ebenso aufschauen können. Sie sollen stark, konsequent und klar sein, sofern sie ihnen wohlverstandene Grenzen sowie Orientierungen vermitteln, und sich hierbei mit dem Nachwuchs des öfteren auch reiben bzw. auseinandersetzen. Nicht weniger wichtig ist es für die Kids, Eltern vorzufinden, die sie von ihrem Gesamtwesen her sehen und fördern.

Erziehungsfreie Räume

Was ist damit gemeint? Solche Eltern sehen in den Kindern keine "pädagogischen Dauerbehandlungsobjekte", sondern eröffnen ihnen immer wieder erziehungsfreie Räume, in denen sie so sein können, wie sie sind. Zugleich versuchen sie, dass sich die Kids auch im Rahmen ihrer genetisch vorgeprägten Temperamente und Begabungen entdecken können, selbst wenn diese mit den pädagogischen Wertevorstellungen der Eltern nur wenig korrespondieren sollten. Und außerdem ermuntern sie die Kinder dazu, sich in die Welt der Gleichaltrigen zu begeben, um dort, von einer ganz anderen Perspektive aus, sich selbst und das sie umgebende Leben zu erkunden.

All diese Überlegungen gelten ungeachtet dessen, ob und inwieweit die elterliche Erziehung letzten Endes "erfolgreich" verläuft oder nicht. Denn oft können erzieherische Maßnahmen nicht mehr sein "als Eingriffe ins Unbekannte (des Kindes) mit unbekanntem Ausgang" (Wolfgang Brezinka).

Spätestens wenn die Eltern über ein dementsprechendes Bewusstsein verfügen, verlieren sie auch ihre erzieherischen Alleinzuständigkeitsvorstellungen sowie Dauerpädagogisierungsansprüche bei der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Sie erkennen, dass sie zwar weiterhin in der kindlichen Entwicklungskette "Gene-Eltern-Peers" eine unverzichtbare Erziehungsrolle einnehmen, diese jedoch stets in Rückbindung zu den anderen beiden Kettengliedern, den Genen und Peers, steht.

Erfährt die Erziehung nicht erst dadurch eine ganz andere, sinngebende Dimension?!

Der Autor ist Dozent und Studiendirektor für Pädagogik, Praxis- und Methodenlehre sowie Praxisberatung an der Katholischen Fachakademie für Sozialpädagogik in München. Hubert Wißkirchen ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Söhne.

BUCHTIPP:

DIE HEIMLICHEN ERZIEHER. Von der Macht der Gleichaltrigen und dem

überschätzten Einfluss der Eltern.

Von Hubert Wißkirchen. Kösel-Verlag, München 2002. 240 Seiten, geb.,

e 18,50.

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