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Solidarität, ewige Sehnsucht des Menschen

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„Ich und die anderen. Kinder und Erwachsene in der Konkurrenzgesellschaft” lautet das Motto der 45. Internationalen Pädagogischen Werktagung, die von 15. bis 19. Juli rund 900 Pädagoginnen und Pädagogen in Salzburg versammelt.

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„Ich und die anderen. Kinder und Erwachsene in der Konkurrenzgesellschaft” lautet das Motto der 45. Internationalen Pädagogischen Werktagung, die von 15. bis 19. Juli rund 900 Pädagoginnen und Pädagogen in Salzburg versammelt.

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Sich mit einem Kind solidarisieren heißt, ihm nahe zu sein und es als eigenständige Persönlichkeit wahrnehmen und akzeptieren zu lernen. Das ist es, was ich als Erwachsener in der Erziehung leisten muß.” Günter Funke ist Theologe und Psychotherapeut. Er leitet das „Berliner Institut für Existenzanalyse und Logotherapie” und wird in Salzburg zum Thema „Uber die Wiederentdeckung von Solidarität und Vertrauen” den Abschlußvortrag bei der Pädagogischen Werktagung 1996 halten. Im Gespräch mit der furche legte Günter Funke vorab seine Sichtweise von Solidarität in der Erziehung dar.

„Wenn es mir gelingt, ein Kind um seiner selbst willen zu lieben, beginnt die Solidarität”, sagt Funke und erklärt, warum „Solidarität” - verstanden im herkömmlichen Sinn - einem •ständigen Wandel unterliegt: „In wirtschaftlich schweren Zeiten mußte eine Familie um das Überleben kämpfen. Der gemeinsame Kampf stärkte die Solidarität zwischen den Familienmitgliedern.” Die großen Gewerkschaftsbewegungen nimmt Funke als Beispiel für das soziologische Prinzip „Man ist in Not und solidarisiert sich, um Gefahren abzuwenden”. Ob die gegenwärtigen Sparmaßnahmen der Begierungen zu stärkerer Solidarität führen werden, wagt Funke noch nicht zu entscheiden: „Zur Zeit ist das mehr ein Kampf ums Eigene, der eher in den Egoismus führt. Noch versucht jeder, seine eigenen Pfründen zu behalten.” Daß dennoch viele Menschen bereit seien, sich von fremdem Leid berühren zu lassen, habe, so Funke, etwa die Aktion „Nachbar in Not” gezeigt.

Solidarität - verstanden als Annehmen des anderen - habe sich in den letzten Jahren besonders im Umfeld „Erziehung- Schule” verstärkt: „Diese Einstellung ist wechselnden Trends unterworfen. Aber gerade jetzt beobachte ich etwa in Berlin großes Engagement für die Belange der Kinder und Jugendlichen.” Es werde massiv protestiert gegen Klassenzusammenlegungen und Lehrerabbaü. Sowohl Eltern als auch die Lehrpersonen solidarisierten sich mit den Kindern. Schwierig sei es dort, wo der Apparat eingeschaltet werden müsse: Denn: „Der Apparat kennt keine Solidarität.” Viele engagierte Lehrer litten, so Funke, an der Starre der immer größer werdenden Verwaltungsmaschinerie und der Forderung, in diesem Getriebe perfekt funktionieren zu müssen. „Ich will meinen Solidaritätsbegriff nicht als Kampfparole verstanden wissen. Ich bin damit aber auch nicht auf Harmonisierung und Glattheit um jeden Preis aus: Es darf Beibung und Auseinandersetzung geben.” Wofür er sich aber einsetze sei, so Funke, daß die Menschen wieder lernen, „sich Zeit zu nehmen” - für sich und den anderen: „Wofür ich mir Zeit nehme, damit solidarisiere ich mich.”

Wichtig ist dem Theologen und Therapeuten die „Solidarität in der Freude”. „Nur dem zu helfen, der in Not ist, ist zu wenig.” Denn damit würde, so Funke, der Mensch immer als Mängelwesen erlebt und zum Objekt in einer Zweckbeziehung gemacht. „Auch der Mensch in seiner

Fülle braucht den anderen!”

Untrennbar verbunden mit „Solidarität” sei der Begriff „Wertschätzung”. Günter Funke: „Jede Person auf ihrer jeweiligen Alters- und Entwicklungsstufe bedarf der Wertschätzung, die nicht an Leistungsfähigkeit gebunden ist. Kinder und alte Menschen haben keinen Zweck für die Profitgesellschaft, aber einen Wert.” Das lebensnot- wendige Potential an Wertschätzung und Beachtung könne schon mit „einfachen Gesten der Höflichkeit, der Behutsamkeit aufgefüllt werden”.

Jeder Mensch müsse, um diese Wertschätzung weitergeben zu können, selber Wertschätzung erfahren haben. Ob ich anderen Wertschätzung entgegenbringen kann, hänge, so der Analytiker Funke, auch davon ab, welche Wertschätzung der einzelne für sich selber empfindet. „Das Gefühl für den eigenen Wert ist nicht angelernt. Jedem Menschen ist das Gefühl für seinen Wert eigen.”

Erwachsene könnten, so Funke, viel von Kindern lernen, die mit Freude dabei sind, sich selbst und ihre Welt zu erleben. „Jeder Mensch kann sich selbst in seiner Liebenswürdigkeit entdecken.” Es ist also wichtig, Bäume zu schaffen, in denen dieses Wissen gelebt werden kann.

„Gelegentlich wird das Bewußtsein um den eigenen Wert durch die Erziehung verschüttet. Das ist, wie wenn über einer Quelle das Brunnen- haus zusammengebrochen ist.” Es sei die Aufgabe der Therapie, „die Trümmer wegzuräumen , und die Quelle, das Bewußtsein für den eigenen Wert, die eigene Liebenswürdigkeit, wieder freizulegen. Therapie lege also nichts in den Menschen hinein, was nicht schon in ihm vorhanden wäre. Das sei, so Funke, wieder eine Form der Solidarität: „Ich solidarisiere mich als Therapeut mit der Individualität des anderen. Lege die Quelle frei im Wissen um die Kostbarkeit des anderen.”

Macht Beligion solidarischer? „Eine Befragung von 2.700 Jugendlichen in Österreich ergab, daß eine Mehrheit meint, die Inhalte des Beligionsunterrichts kämen auch dem Gemeinschaftsgeist und der Solidarität innerhalb der Klasse zugute.” Anton Bucher ist Ordinarius für Katechetik und Beligionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Salzburg. Er leitet bei der Pädagogischen Werktagung einen Arbeitskreis zum Thema „Macht Beligion solidarischer?”

Im Gespräch mit der furche sprach Anton Bucher über die Bedeutung religiöser Erziehung für die Entwicklung solidarischen Verhaltens. „Es ist ein Grundgedanke der gesunden christlichen Tradition, daß es keine Gottesliebe ohne Nächstenliebe geben kann. Auch die Wertschätzung des Kindes ist in Jesu Worten grundgelegt.”

Oft aber sei, so Bucher, christliche Erziehung mit einer schweren Hypothek belastet worden; „Aussagen wie: ,Wer sich nicht selbst verleugnet, kann nicht mein Jünger sein' haben nicht selten dazu geführt, daß dem Kind das Bewußtsein eigenen Unwerts vermittelt wurde.” Die damit verbundene Opfermentalität entspreche aber nicht der frohen Botschaft Jesu. Gelungene Erziehung müsse davon abrücken, den Menschen klein zu machen. Die Opfermentalität, die beispielsweise noch in Beligionsbüchern der sechziger Jahre vermittelt wurde, habe oft nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene mit dem Bewußtsein eigener Wertlosigkeit geprägt.

Beligiöse Erziehung könne dann gelingen, „wenn im Prozeß der Erziehung dem Kind ermöglicht wird, selber solidarisch zu handeln”. Bleibt Erziehung - aber auch Verkündigung -auf der Ebene verbaler Appelle „ist sie wirkungslos”. Entscheidend für die Solidaritätsentwicklung sei, so Anton Bucher, „das Vorhandensein glaubwürdiger Vorbilder”. Viele Eltern seien, was religiöse Erziehung betrifft, verunsichert. Sie wollten den Kindem, so Bucher, eigene negative Erfahrungen ersparen. „Dennoch spielen Mündigkeit und soziale Kompetenzen in einer modernen Erziehung, die nicht nur Egoisten heranziehen will, eine große Bolle.”

„Mit Erziehungsvorgaben oder Vorschriften ist die Kirche unten durch.” Zu groß geschrieben seien Individualisierung und Selbstbestimmung als Signaturen des Zeitgeistes. Als Hilfe in Erziehungssachen angenommen würde, so Bucher, das Angebot einer offenen „einladenden Kirche, die in ihren Bepräsentanten ein Beispiel ist”.

Fritz Oser, Professor für Pädagogik an der Universität Fribourg, hielt den Eröffnungsvortrag bei der Pädagogischen Werktagung. Ein zentraler Gedanke Osers: „Erzieher und Erzieherinnen sollen den praktischen Glauben sichtbar machen, daß Kinder und Jugendliche Problemloser des Lebens und nicht nur Übernehmer von traditionellen Werten sein können.”

Sind die heutigen Kinder „egoistischer”?, fragte Oser im Titel seines Vortrages, und stellte sich dieser Annahme sehr kritisch gegenüber. Denn: „Jugendliche sind Spiegelbilder der Erwachsenen.” Die Ursachen für die zunehmende Individualisierung seien also nicht erst bei der eben heranwachsenden Generation, sondern schon früher zu suchen.

„Heute erfüllen sich Menschen mehr und mehr ,selber', wollen mehr und mehr die Gegenwart statt die Zukunft betonen. Die Praxis, Handlungsweisen aus der je eigenen, subjektiven Perspektive abzuleiten, gleichsam ein Puzzle zusammenzusetzen, rufe, so Oser, „nach einer neuen sozialen Intelligenz, die herauszufinden vermag, was für einen selbst und was für andere gut ist.”

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