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Zeit nehmen für die Schule des Lebens

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Über 800 Menschen hatten Zeit, an der „43. Internationalen Pädagogischen Werktagung" in Salzburg teilzunehmen - obwohl das Motto 1994 lautete: „Alles hat seine Zeit - Ich habe keine Zeit".

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Über 800 Menschen hatten Zeit, an der „43. Internationalen Pädagogischen Werktagung" in Salzburg teilzunehmen - obwohl das Motto 1994 lautete: „Alles hat seine Zeit - Ich habe keine Zeit".

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Rasche Anmeldung erforderlich" steht in Fettdruck auf dem Formular. Für die Anmeldungen zu den Werkkreisen ist es zudem „unbedingt notwendig", eine zweite und dritte Wahl anzugeben. Tatsächlich ist die Pädagogische Werktagung in der Regel bereits im Februar ausverkauft. Heuer nahmen an dieser Veranstaltung des Salzburger Katholischen Rildungswerkes unter anderen - aus Mitteleuropa und darüber hinaus - 562 Kindergärtnerinnen, 212 Lehrerinnen und Lehrer und 62 Erzieherinnen und Erzieher teil.

Haben diese Menschen keine Terminprobleme? Teilen sie ihre Zeit so perfekt ein, daß sie Ende Jänner schon sagen können, daß sie in der dritten Juli-Woche Zeit haben werden? „Bringt" ihnen die Werktagung Jahr für Jahr so viel, daß sie Urlaubs- und Ferienpläne danach ausrichten?

Oder schafft es Ansehen, wenn man um Pfingsten herum vor den Augen der Kolleginnen und Kollegen genervt im Terminkalender blättern und stöhnen kann, daß auch der Urlaub keine wirkliche Entspannung bringen werde, weil man ja nach Salzburg reisen und in der Großen Aula der Universität um der Fortbildung willen schwitzen müsse?

Ein boshafter Gedanke - allerdings vorgedacht von einer der Referentinnen der heurigen Tagung: „Im Zeit-Streß sein bringt soziale Anerkennung, ein voller Terminkalender erhöht die eigene Wichtigkeit", meinte Diplom-Pädagogin Ilse Plattner, die in München eine

Praxis für Zeitberatung führt: Jemand der Zeit hat, scheine nichts zu tun zu haben, und „das ist verpönt, auch für Rentner, nicht berufstätige Mütter und Hausfrauen." Selbst Kinder fordere man dazu auf, nicht zu trödeln. „Es fällt schwer, sich mit gutem Gewissen Zeiten der Erholung oder des Nichtstuns zuzugestehen." So verpflichte man sich zu Terminen und vielfältigen Aktivitäten auch noch in der Freizeit.

Der daraus resultierende Zeitstreß lasse sich allerdings nicht mit „Patentrezepten" und „Zeitplantechniken" lösen. Entscheidend sei ein selbstbewußter und souveräner Umgang mit Zeit, getragen von Selbstbehauptung, Selbstachtung und Selbstvertrauen." Gebe man sich dem Zeitdiktat hin, mache das krank und unzufrieden.

Warum die ausreichende Zeitzuteilung gerade für die kindliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung sei, versuchte Helmut Heid, der Regensburger Professor für Erziehungswissenschaften, zu erklären. „Die optimale und individuelle Zeitbemessung ist die wichtigste Bedingung für erfolgreiches Lernen." Denn verschiedene Kinder brauchten eben zur Rewältigung der gleichen Anforderung verschieden viel Zeit. „Lehrer, die ihre Zeiteinteilung standardisieren, erzeugen Mißerfolg", meinte Heid. Vor allem aber kritisierte er, daß das Scheitern vieler Schüler, aber auch Studierender, als selbstverständlich hingenommen, von der Gesellschaft geradezu verlangt werde: „Überqualifizierung" werde lästig, wenn Abiturienten, die keinen Studienplatz bekommen haben, „den Politikern unangenehme Fragen stellen".

Die Bonner Soziologin Marianne Knill erklärte ihrem (zu 90 Prozent weiblichen) Publikum, daß für Männer die „öffentliche" Zeit (also die meßbare, planbare und bezahlte) mit Arbeitszeit und die „private" Zeit mit Freizeit identisch sei. „Freizeit" für Frauen dagegen sei nicht vorgesehen: Deren „private" Zeit sei abrufbar für die anderen Familienmitglieder. Die Frauen im Auditorium haben diesen wohlmeinenden Exkurs in die Frühzeit des Feminismus geduldig hingenommen.

„Das Leben ist eine Schule, in der wir Liebe leben lernen und die jeder in seinem eigenen Tempo durchläuft." Unter dieses Motto stellte der Mainzer Arzt und Familientherapeut Hartmut Steffen die ihm zugeteilte Vortragszeit. „Klassenziel" sei die Eigen Verantwortung für „meine Entfaltung als spirituelles Wesen". Diese Entfaltung werde möglich, wenn es dem Erwachsenen wieder gelingt, „Anschluß zu bekommen, an die Zeiterfahrung des Kindes".

Für das „Prinzip der Gegenwart in der Erziehung' plädierte Henri Boulad, Jesuitenpater und Caritas-Präsident für Nordafrika und den Nahen Osten, zum Abschluß der diesjährigen Werktagung: „Wir haben zuviele Professoren, aber zu wenige Erzieher", meinte Boulad. „Gehen Sie niemals mit einem Kind ins Museum", riet er. Zu viele Eindrücke brächen dort über ein Kind herein. Ziel müsse sein, sich auf ein Bild, auf eine Statue zu konzentrieren, um „durch genaues Betrachten eines Kunstwerks in die Tiefe zu dringen". Gute Erzieher würden Kinc ler zum Beobachten anleiten und zum „eigenen Nachdenken" bringen. Nur das führe zur „Fähigkeit, den Augenblick voll zu leben", und das sei „wie eine Erlösung".

Das war wohl die wichtigste Botschaft, die die Teilnehmer dieser Tagung mit nach Hause nehmen konn-• ten: „Acht zu geben, Aufmerksamkeit zu schenken ist ein spiritueller, ja mystischer Vorgang." Boulad zitierte Simone Weil - „Die Gegenwart ist unerschöpflich, sie mündet in die Unendlichkeit" - und meinte: „Wir glauben immer, zuerst sei die Zeit, dann die Ewigkeit. Nicht Gott ist abwesend, der Mensch ist es." -Weil er sich unkonzentriert verliere und über den Gedanken an die Vergangenheit oder an die Zukunft die Gegenwart Gottes nicht wahrnehme. Doch: „Erst durch die Gegenwart machen wir die Erfahrung Gottes."

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