„ICH HABE KEINE HOFFNUNG mehr für die Zukunft unseres Volkes, wenn sie von der leichtfertigen Jugend von heute abhängig sein soll. Denn diese Jugend ist ohne Zweifel unerträglich, rücksichtslos und altklug. Als ich noch jung war, lehrte man uns gutes Benehmen und Respekt vor den Eltern. Aber die Jugend von heute will alles besserwissen.“
Dieser Ausspruch stammt von dem griechischen Dichter Hesiod (700 vor Christus). Also Jugendprobleme gab es immer und wird es auch immer geben. Es ist eine altbekannte Tatsache, daß die Jugend immer unzufrieden ist, sie will weiter, und das immer auf extreme Weise. Dieses Verhalten tritt ganz besonders unter den „intellektuellen“ Jugendlichen hervor, die bewußt die „Sturm- und Drangzeit“ erleben wollen.
Wir finden in jedem Land eine gewisse Introvertiertheit der Jugend, sie schafft im allgemeinen jene gesunde Polarität innerhalb einer Gesellschaft, die letzten Endes der Evolution dient, die manchmal sogar als ihre treibende Kraft anzusehen ist. In Ungarn liegen die Dinge anders.
„So weit sind wir also gekommen: das allgemeine Mißtrauen lähmt nicht nur die Reihe der Partei, sondern vor allem die der Jugend, sie treibt viele grundlos in dunklen Pessimismus... Dabei ist aber die Erziehung der Jugend eine vorrangige Aufgabe des ganzen Volkes“, hieß es in einem Artikel des Trans-danubischen Journals.
Ist dieser Pessimismus der ungarischen Jugend begründet? Wie lebt sie? Welche Ideale hat sie? Wie sieht das Löben des jungen Ungarn aus? Wie ist es um ihre Ausbildung bestellt, und wieweit kann er seine Zukunft selbst gestalten?
DIE AUSBILDUNG DER UNGARISCHEN JUGEND wurde seit dem zweiten Weltkrieg grundlegend geändert. Nach den anfänglichen Schwierigkeiten, die die Herausbildung der neuen Gesellschaftsform mit sich brachte, hat sich auf diesem Gebiet ein Programm herauskristallisiert, welches der kommunistischen, massengesellschaftlichen Gleichschaltung am meisten entsprach.
Die Achtklassengrundschule hat sich allgemein bewährt; nach der Schulreform 1961/62 wurde vor allem die Unterscheidung zwischen humanistischem und Realgymnasium aufgehoben. Zugleich wurde aber eine weitgehende Spezialisierung eingeführt: fachlich ausgerichtete Klassen, in denen die Gymnasiasten die gewählten Fächer ausführlicher lernen. In Budapest gibt es 324 Grundschulen, 127 Oberschulen, davon 65 Gymnasien und 62 Fachschulen. Es gibt 22 Gewerbetechniken, fünfzehn Techniken der mittleren Stufe und ein landwirtschaftliches Technikum. Diese Fachschulen sind sehr gefragt, da sie eine gute Berufsausbildung sichern.
Das Agrarland Ungarn baute seine Industrie erst nach dem ersten und dann besonders nach dem zweiten Weltkrieg aus. Viele Fachkräfte waren nötig, vor allem da die hochqualifizierten Fachkräfte und Führungspersönlichkeiten alter Schulung für diese Arbeit nicht genügend vertrauenswürdig waren. Immer noch besteht großer Mangel an Ärzten und Ingenieuren.
WIE SIEHT AN DER UNIVERSITÄT oder einer Hochschule die Ausbildung aus?
Da die Nachfrage um eine weitere Ausbildung nach der Matura viel größer ist als die Aufnahmefähigkeit der Universitäten, wird eine starke Selektion durchgeführt. Als Vorbedingung für die Aufnahme, neben guten Schulkenntnissen auf Grund des Charakters der Fachrichtung, gilt eine sogenannte „massengesellschaftswissenschaftliche“ Kenntnis, welche durch eine Aufnahmeprüfung festgestellt wird. „Kandidaten, die vor ihren Universitätsstudien physische Arbeit leisteten, werden bevorzugt“, wie es in dem Band „Das ungarische Hochschulwesen“, herausgegeben 1966 von Dr. K. Heberger (Budapest) heißt.
Die Statistik zeigt, daß derzeit 40 Prozent Arbeiterkinder, 30 Prozent Bauernkinder und 30 Prozent Kinder aus „Intellektuellen Familien“ an den Hochschulen studieren, gegenüber der Statistik der fünfziger Jahre; damals studierten 80 Prozent Arbeiterkinder.
Im Hochschulgesetz heißt es: „In Anbetracht einer zielbewußten und planmäßigen Bildung gründet sich das Bildungssystem der Universitäten auf Lehrpläne und Programme, die durch das zuständige Ministerium genehmigt werden. Die Grundzüge der Lehrpläne sowie die Stundenzahl der allgemeinen Pflichtfächer werden von dem Minister für Volksbildung und Kultur bestimmt.
In allen Hochschulinstitutionen sind Marxismus-Leninismus, ein oder zwei Fremdsprachen und Körpererziehung obligatorisch. Das Fach Marxismus-Leninismus baut sich im allgemeinen folgendermaßen auf: politische Ökonomie, Philosophie, wissenschaftlicher Sozialismus.
Im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts ist die russische Sprache auf allen Universitäten vorgeschrieben, und spätestens am Ende des II. Studienjahres müssen die Studenten eine Prüfung aus Russisch bestehen ... Den Hörern ist die Auswahl der Sportart überlassen, in dessen Rahmen sie Sport betreiben wollen...
In den Hochschulen wird der Unterricht in der Form des Direkt-, Fern-, und Abendstudiums erteilt. An den medizinischen und Veterinären Universitäten, sowie an den Kunsthochschulen gibt es nur Direktunterricht.
An allen Universitäten und Hochschulen ist das einheitliche Prüfungssystem gültig. Im Falle, daß ein Student aus ein oder zwei Gegenständen nicht entspricht, kann er bis Ende Dezember um Stundung ansuchen und mit „Vorbehalt“ das kommende Jahr inskribieren. Wenn er jedoch bis zum angegebenen Termin die Prüfung nicht ablegen kann, muß er sowohl das Studienjahr als auch die bereits positiv bestandenen Prüfungen wiederholen. — Das entspricht einem Mittelschulsystem. *
40 UNIVERSITÄTEN UND HOCHSCHULEN gibt es in Ungarn, an denen ungefähr 90.000 Studenten in HO verschiedenen Instituten hören.93,3 Prozent der Studenten erhalten eine staatliche Unterstützung. Die Höhe der Stipendien schwankt zwischen 350 bis 1000 Forint. Die Studenten, die nicht im Studienort wohnen, leben vorwiegend in Internaten, wo sie sehr billig Unterkunft und Verpflegung erhalten: Vollpension um 200 bis 300 Forint. Wogegen ein Privatzimmer im Durchschnitt 350 bis 500 Forint kostet. Die wichtigste Jugendorganisation an den Hochschulen ist der kommunistische Jugendverband (KISZ), 92 Prozent der Studenten sind Mitglieder. Der Jugendverband verpflichtet sich, jährlich während der Sommerferien, neben den fachlich bedingten Arbeiten noch unentgeltlich physische Arbeit zu leisten. So arbeiten mehrere Zehntausende von Studenten seit 1958 in Nordwestungarn, im Hansäg und bei den Dammbauten an der Donau sowie auf verschiedenen Universitätsbauten auf Grund „freiwilliger“ Meldung.
Wie ist es aber um die Jugend eines Staates bestellt, der nach bekanntem Vorbild lange Zeit hindurch bestrebt war, die ganze Nation wie ein einziges großes Erziehungskollektiv auszurichten und entsprechenden Maßnahmen unterzuordnen?
Ich hatte die Gelegenheit mit einigen Studenten zu sprechen, doch mit den Antworten kann man sehr wenig anfangen, denn das Bild, welches daraus entstand, ist trügerisch. Wir dürfen nicht außer acht lassen, daß diese Antworten stereotyp gegeben werden, und inwieweit diese daher als aufrichtig betrachtet werden können, wäre einer Untersuchung wert.
Greifen wir nur einmal einige von den Antworten auf die Fragen, die ich an verschiedene Studenten gestellt habe, heraus:
Martin Koväcs, 26 Jahre alt, studiert Medizin, entstammt einer Arbeiterfamilie. Die Matura bestand er mit ausgezeichnetem Erfolg. Wohnt in einem Studentenheim, bekommt ein Stipendium von 400 Forint, davon gehen an das Heim 150 Forint. Besitzt zwei Anzüge, zwei Paar Schuhe, einige Hemden und wenig Geld. Im Sommer arbeitet er in seinem Dorf, wohin er zurückkehren muß, wenn er sein Studium beendet hat. Sein Wunsch ist, sobald wie möglich das Studium zu beenden und seiner armen Mutter zu helfen, die ein schweres, arbeitssames Leben hinter sich gebracht hat und herzleidend ist. Andere Wünsche hat er nicht, da er weiß, daß sie nicht in Erfüllung gehen.
Eva Sebök ist 22 Jahre alt, studiert an der Hochschule für Musik, Vater ist Professor, nach der Matura arbeitete sie in einer Fabrik als Hilfsarbeiterin, da auf der Akadmie kein Platz mehr für dieses Jahr war.Sie wohnt zu Hause, bezieht ein Stipendium von 300 Forint. In ihrer Freizeit, wenn sie überhaupt eine hat, besucht sie Konzerte und Theater, liest gerne moderne Dramen, wie Brecht oder Peter Weiss, vor allem aber muß sie ihrer berufstätigen Mutter im Haushalt helfen. Im Sommer spielt sie in einem Studentenorchester. Besäße sie Geld, würde sie ein Tonbandgerät kaufen, und hätte sie die Möglichkeit, würde sie nach Paris fahren, sie wäre glücklich, wenn sie in den Ferien irgendwo im Westen arbeiten dürfte, um Vergleiche aufstellen zu können. Sie ist bei der KISZ, aber Politik interessiert sie nicht. Wenn sie ihre Ausbildung beendet haben wird, will sie in Budapest bleiben —, doch letzten Endes wird sie dorthin geschickt, wo man sie braucht. Sie wird nach Beendigung ihres Studiums 1300 Forint verdienen (offiziell umgerechnet 1300 Schilling).
Der nächste Student ist 21 Jahre alt, Facharbeiter, sein Vater Chefingenieur. Er wohnt mit seiner Familie zu viert in einer Zweizimmerwohnung. Während er nach der Matura arbeitete, besuchte er in seiner Freizeit einen Hochschulvorbe-reitungskurs, jetzt studiert er ungarische Literaturgeschichte, Geschichte und Russisch. Während der Ferien arbeitet er weiter als Facharbeiter in einer Fabrik. Wenn er Zeit hat, geht er schwimmen oder ins Theater. Sein Lebensziel ist das „Leben kennenzulernen“.
Dies sind keine extremen, sondern alltägliche Fälle, welchen man in Ungarn überall begegnet.
DIESE PROBLEME SIND FÜR „westliche“ Verhältnisse nicht primär vorhanden, ihre Wünsche bescheidener als die unsrigen.
Das Idealbild für Ungarns Jugend wird vom Regime geprägt: so soll er sein, so soll er denken und fühlen, der „Held unseres Zeitalters“,der ideale junge Mensch. Man darf sich nicht wundern, daß diese jungen Menschen in eine Art von äußerem Zynismus, Gleichgültigkeit und Kälte verfallen. Aber wie sieht die Innenwelt des jungen Ungarn aus? Die Ungarn, die überall als temperamentvoll, übermütig, aber auch als sehr lyrisch und empfindsam bekannt sind, die sich durch Jahrhunderte ihre Selbstbehauptung und ihr Sendungsbewußtsein erhielten.
Bringen nicht äußerer Zynismus und Blasiertheit und andererseits innere Empfindsamkeit und Warmherzigkeit große Gefahren mit sich, krankhafte Psychosen?
Diese Art von Lebensauffassung und Eigenwillen, ebenso die innere Ablehnung gegenüber dem Uniformierungszwang, veranlaßten das Organ „Magyar Ifjüsäg“ (Budapest) zu der Bemerkung, daß „die ungarische Jugend von einer negativisti-schen Einstellung im politischen Sinne infiziert sei“!
IN GESPRÄCHEN ÜBER POLITIK argumentieren Ungarns Studenten mit gut einstudierten politischen Bekenntnissen. Werden sie aber mit verschiedenen genaueren Fragen konfrontiert, versuchen sie, wohlüberlegte aber zynische Antworten zu geben. Sie gehen jeder Diskussion aus dem Wege, denn dadurch werden sie der Verantwortung, sich über gewisse Dinge zu äußern — an denen sie ohnedies nichts ändern können — entzogen.
Die Studenten Ungarns sind politisch nicht besonders aktiv, obwohl fast alle der KISZ angehören, die ihnen große Vorteile bringt. „Nur“ auf sportlicher und kultureller Ebene zeichnen sie sich durch besonderen Fleiß aus. So haben an den Olympischen Spielen in Tokio (1964) Läszlö Hammerl, Student der Medizin (Kleinkalibergewehr), sowie Gyözö Kulcsär, Student der Technischen Universität (Fechter) Goldmedaillen erkämpft.
Mit dem Problem „Jugend“ beschäftigen sich nicht nur Politiker und Pädagogen, sondern auch die modernen ungarischen Literaten.
In diesen Novellen, in denen die Themenkreise linientreu gehalten werden, kommen immer wieder Inhaltsbilder vor, die die menschliche „Seele“ behandeln.
In Ungarn wird das Innenleben in eine uneinnehmbare Igelstellung ausgebaut und man bemüht sich, nach außen hin die Stacheln immer in Angriffsstellung zu zeigen. Diese „Igelstellung“ könnte aber für die Entwicklung des Landes gefährliche Folgen haben. Während im Westen sich junge Leute durch Protestsongs, Beats oder Publdkumsbeschimpfun-gen Ventile schaffen, erstarren bei der ungarischen Jugend alle Zornesausbrüche, dabei sind es „Zornausbrüche“, bei denen es sich weniger um echten Zorn als vielmehr um gesunde intellektuelle Gereiztheit handelt. Ungarns Jugend fällt immer stärker in eine die geistige Entwicklung lähmende Lethargie...